# taz.de -- Festival „Pop-Kultur“ in Berlin: Die Kunst des Nebeneinanders | |
> Retro-Debatten im Vorfeld, dann drei Tage Kunst im Berghain: „Pop-Kultur“ | |
> feiert als Nachfolger der Berlin Music Week eine gelungene Premiere. | |
Bild: Sophie Hunger beim Pop-Kultur-Festival im Berliner Berghain. | |
Etwas Neues sollte es sein, dieses Festival, das den schlichten wie weiten | |
Begriff „Pop-Kultur“ im Namen trug. Etwas Neues im Vergleich zur | |
Vorgängerveranstaltung, dem Branchentreff Berlin Music Week, der wiederum | |
auf die Popkomm folgte. Etwas Neues, was das Ausprobieren von Formaten | |
betrifft. | |
Das Musicboard, Popförderungssinstitution des Berliner Senats, hat das | |
ehemals über mehrere Orte verstreute Festival an einer Location gebündelt, | |
die wie keine andere für Berliner Club-Kultur steht: Drei Tage hauste die | |
„Pop-Kultur“ im Berghain, 10.600 Besucher kamen insgesamt. | |
Der sich sonst hermetisch gebende Club, in einem monumentalen alten | |
Heizkraftwerk zu Hause, ließ nun eindrucksvolle Hallen bespielen, die sonst | |
ungenutzt bleiben. Der Business-Teil fiel weg, dafür gab es viele | |
Kollaborationen von Interpreten aus verschiedenen Kunstformen. | |
Der Ort stimmte schon mal: Für das Nebeneinander von Stilen, Genres, | |
Disziplinen schien der Club, der sich zuletzt bereits für Experimente aller | |
Art geöffnet hat, wie geschaffen: dicke Wände, architektonische Wucht, | |
kurze Wege. | |
Purple Rain und Sperma | |
Wie dieses Nebeneinander aussah? Am Mittwochabend pumpt die aus Russland | |
stammende Inga Copeland elektronische Tanzmusik und Bässe durch die | |
Panorama Bar, kurz darauf dirigiert der feingeistige kanadische | |
Geigen-Chansonnier Owen Pallett ein ganzes Kammerpop-Orchester. | |
„Victoria“-Regisseur Sebastian Schipper zeigt seinen Film im Nebenraum mit | |
neuer musikalischer Untermalung. Und die Berliner Rapperin Balbina liest an | |
der Berghain-Garderobe Gedichte vor – zum ersten Mal. | |
Obwohl man interdisziplinäre Festivals jetzt nicht gerade den neuen heißen | |
Scheiß nennen kann, machte dank eines Klasseprogramms genau diese | |
Genrevielfalt den Reiz aus. Ein Höhepunkt war dabei der Auftritt der | |
Schweizerin Sophie Hunger, die das Publikum am Freitagabend in der Halle am | |
Berghain eineinhalb Stunden stillstellte und gebannt gen Bühne schauen | |
ließ. | |
Die Berner Experimental-Chansonnette interpretierte Songs vom aktuellen | |
Album „Supermoon“ zum Teil neu, streute vor dem Titeltrack Princes „Purple | |
Rain“ ein und ließ Platz für eine Klavierimprovisation, die ihrem Pianisten | |
Szenenapplaus einbrachte. Hier und da arg sprach- und kunstverliebt, sonst | |
würde man sagen: Sophie Hunger sollte längst Weltstar sein. | |
Zu Weltstars wird das Hamburger Frauenduo Schnipo Schranke – live von einem | |
Herrn im Bademantel unterstützt – eher nicht. Bei deren Auftritt schwitzten | |
die Besucher die ausverkaufte Kantine voll – und das passte, denn um | |
Körperflüssigkeiten geht es bei Schnipo Schranke auch recht häufig. | |
Um Sperma, übel riechende Ausdünstungen und natürlich um „Pisse“ – so … | |
der Hit des Duos, deren Debüt kommenden Freitag erscheint. Fragt sich nur, | |
ob die Melange aus Untenrum-Paarreimen und Power-Pianopop dauerhaft trägt. | |
So lange sich „Du findest mich voll ätzend“ auf „ich finde dich verletze… | |
reimt, muss man sich da keine Sorgen machen. | |
## Berlinerische Debatte | |
Die Kunst sollte im Mittelpunkt stehen in diesen drei Tagen, so die | |
Kuratorinnen um Katja Lucker, Chefin des Berliner Musicboards, das erstmals | |
selbst als Veranstalter fungierte. Debatten hatte es dabei im Vorfeld genug | |
gegeben. Klar, denn das Festival wurde mit knapp 660.000 Euro öffentlich | |
gefördert. | |
„Regierungs-Pop“ (Tobias Rapp im Spiegel) fürchteten die einen hören zu | |
müssen, Ralf Krämer kritisierte in der Süddeutschen Zeitung, mit einem sich | |
hochkulturell gebenden Programm gebe man dem Pop den Anstrich des Elitären. | |
Wenn man so umherstreifte und sah, wie Menschen mit roten Bäckchen und | |
Schweißsträhnen euphorisiert aus einem Konzert der Underground-Band mit dem | |
prämierwürdigen Namen Zentralheizung of Death/des Todes kamen, ließen sich | |
solche Befürchtungen zurückweisen. | |
Die Frage, wo Pop heute affirmativer ist, ob bei Vans- oder | |
Warsteiner-Festivals oder im institutionellen Rahmen, darf man dabei auch | |
stellen. Die Debatte erscheint merkwürdig retro, merkwürdig deutsch, | |
merkwürdig berlinerisch. | |
In anderen Ländern finden solche Festivals – ohne inhaltliche Verluste – | |
seit Jahrzehnten statt, in Berlin nicht erst seit gestern. Und hat nicht | |
vielmehr der Pop an Orten wie der Berliner Volksbühne das e wie elitär aus | |
der sogenannten E-Kultur genommen? | |
## Women in Rock | |
Eines war am Ende bei der „Pop-Kultur“ gewiss nicht neu: die immer noch zu | |
führende Debatte, wie chauvinistisch das Pop-Biz noch heute ist. Dazu hatte | |
Spex-Chefredakteur Torsten Groß unter anderem Sandra Grether und Balbina | |
zum mitternächtlichen Talk geladen. | |
Und während man bei ihrer Lyriklesung nicht ganz überzeugt war, hörte man | |
Balbina gern zu, wie sie wütend die Männerstrukturen im großen Business | |
kritisierte: „Major Labels haben eine Verantwortung, die Musikalität eines | |
Landes zu spiegeln, und dessen sind sie sich nicht bewusst. Das muss sich | |
ändern.“ Grether rechnete – pars pro toto – vor, wie hoch der Frauenante… | |
der auftretenden Künstler beim bald beginnenden Lollapalooza-Festival in | |
Berlin sei: unter 10 Prozent. Diesbezüglich ist die „Pop-Kultur“ übrigens | |
eine Pionierin: Der Frauenanteil bei den Interpreten lag eher bei mehr als | |
50 Prozent. | |
31 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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