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# taz.de -- Neues Buch über Michel Houellebecq: Im Kaputten liegt eine Anklage
> Niemand kennt die tödliche Tiefenwirkung des Kapitalismus so wie Michel
> Houellebecq. Das ist die Kernthese von Bernard Maris.
Bild: Ach, ließe sich der Kapitalismus doch wegqualmen: Michel Houellebecq.
Michelle Houellebecq steht unter Polizeischutz. Bernard Maris,
Wirtschaftswissenschaftler, Journalist und Autor, ist tot. Ermordet beim
Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar, am Tag
als die Wochenzeitung mit Michel Houellebecq auf dem Titel erschien.
Maris, Mitgründer und als „Oncle Bernard“ Wirtschaftskolumnist von Charlie
Hebdo, war mit Frankreichs aufreizendstem Literaten befreundet. Sein
Essaybuch, „Michel Houellebecq, Ökonom“, erschien auf Französisch kurz vor
dem Attentat, nun ist die deutsche Übersetzung da.
Die Houellebecq-Lektüre eines in Deutschland eher unbekannten
radikalkeynsianischen Kapitalismuskritikers, der im Wissenschaftsrat von
Attac und im Aufsichtsrat der Banque de France saß, hätte unter anderen
Umständen vermutlich weniger interessiert.
Dessen ungeachtet, ist es bemerkenswert, dass Maris der erste Ökonom ist,
der in dem Schöpfer der kaputtesten Figuren der europäischen Gegenwart
einen kompetenten Wirtschaftsexperten erkennt. Auch wenn das für einen
Kapitalismuskritiker nicht überraschend ist, überrascht Maris mit einer
steilen Behauptung: Er nennt Houellebecq den „ersten Schriftsteller, dem es
gelungen ist, das ökonomische Unbehagen, das unser Zeitalter vergiftet,
exakt zu erfassen“.
## Spott für Experten
Was für Houellebecq, den die einen für einen Visionär, die anderen für
einen Menschenfeind halten, die Medien und die Politik sind, ist für Maris
der Wirtschaftsexperte. Etwas, das es ohne Einschränkung zu verspotten und
zu verachten gilt. Seinem Essay stellt er eine erfrischende Ökonomenschelte
vorweg: „Ökonom ist derjenige, der stets in der Lage ist, ex post zu
erklären, warum er sich einmal mehr geirrt hat“, schreibt er.
Die Wirtschaftswissenschaft sei „ideologische Scharlatanerie“,
„Hirngespinst“, „mit Gleichungen aufpoliertes Geschwätz“, die man nicht
verstehen könne, weil es nichts zu verstehen gäbe. Wer wirklich etwas von
Wirtschaft und ihrer menschenfeindlichen Zerstörungskraft verstehen wolle,
der müsse Houellebecq lesen. In jedem seiner Romane würden die relevanten
Aspekte bearbeitet: Liberalismus und Wettbewerb in „Ausweitung der
Kampfzone“, Herrschaft des Individualismus und Konsumrausch in
„Elementarteilchen“, Angebot und Nachfrage nach Sex in „Plattform“, der
infantile Konsument in „Die Möglichkeit einer Insel“, die immer kürzere
Lebensdauer der Produkte in „Karte und Gebiet“.
Anhand von Arbeitslosen- oder Absatzzahlen, Börsen- oder Unternehmenskursen
sei die Funktionsweise des Kapitalismus nicht zu begreifen. Bei Houellebecq
hingegen könnten die Folgen von „krankhaftem Wettbewerb, freiwilliger
Knechtschaft, Angst, Lust, Fortschritt, Einsamkeit, Obsoleszenz“
nachvollzogen werden, allesamt Herrschaftstechniken, die – typisch
französischer Vergleich – auch in den Konzentrationslagern gewirkt hätten.
Unsicherheit und Angst seien nicht nur Pfeiler von Ancien Régimes und
Diktaturen, sondern auch des Kapitalismus. Angst, die in Form der
Schweißperlen auf Brunos Stirn in „Elementarteilchen“ sichtbar würden und
in der holprigen und sperrigen Sprache der Manager und Führungskräfte in
„Ausweitung der Kampfzone“.
Die tödliche Tiefenwirkung des Kapitalismus mache Houellebecq da am
deutlichsten, wo seine Figuren an der Liebe scheitern, oder präziser, wenn
sie merken, dass sie aufgrund der Gier nach Geld und Anerkennung verlernt
hätten zu lieben. So wie Valérie in „Plattform“. Sie bekennt, in „ein
System verstrickt“ zu sein, das sie gern für ihren Geliebten verlassen
würde, aber sie weiß nicht wie. „Es ist zu spät. Sie ist Führungskraft
geworden.“
Der Individualismus, vom Liberalismus als Freiheit verkauft, sei der
„einzige Luxus“, den man sich noch gönne: von niemandem abhängig zu sein.
Dieser aber sei keine Freiheit zum Glück, sondern zerstöre jegliche
Kollektivität und damit jede Fähigkeit, andere zu lieben. Glück gebe es nur
noch als quantifizierbare Größe auf der „x-Achse (Geld) und die y-Achse
(Vernunft)“.
## Leidenschaftlicher Furor
Manchmal nervt der leidenschaftliche Furor von Maris’ Hass gegen den
Liberalismus. Seine Systembeschreibung ist zu wenig offen, um das von ihm
und Houellebecq geforderte „Atmen“ überhaupt noch denkbar zu machen. Den
Klebstoff, mit dem uns der Kapitalismus verführe, arbeitet er zu wenig aus
dem Material Houellebecqs heraus. Sein Buch ist mehr ein Pamphlet, in dem
er seine eigene Weltsicht beschreibt, die er mit Zitaten aus
Houellebecq-Romanen belegt. Das ist schade.
Denn die Ansätze, Houellebecqs Prosa als Anklage und nicht als Zynismus zu
lesen, sind hochinteressant. Maris‘ Absicht lag offenbar eher in einem
Freundschaftsdienst: den Autor von seinem Ruf als Nihilist, Rassist,
Kulturpessimist und Sexist zu befreien. Das ist nicht despektierlich
gemeint. Wenn es darum geht, „die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe
wiederherzustellen“, wie Michel Derzinski in „Elementarteilchen“ sagt, da…
ist der Freundschaftsdienst sicher ein Teil davon.
29 Aug 2015
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Michel Houellebecq
Kapitalismus
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Paris
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