# taz.de -- Integrationskurse für Flüchtlinge: Deutschland in 400 Stunden | |
> Weil sich ein neues Land erstmal seltsam anfühlt, soll in | |
> „Flüchtlingskursen“ nun Fremdes vertraut werden. Das Tagebuch einer | |
> Sprachlehrerin. | |
Bild: Schweinshaxe, Linzer Torte, Mozartkugeln – auch hiesiges Essen wird im … | |
Flüchtlingskurse – so heißen die vom Senat geförderten Sprachkurse in | |
Berlin, die manche Flüchtlinge besuchen dürfen, die noch keinen | |
Aufenthaltstitel haben. 400 Stunden bekommen sie, um in die deutsche | |
Gesellschaft und Sprache hinein zu stolpern. | |
Der erste Unterrichtstag eines solchen Kurses an der Volkshochschule im | |
Bezirk Neukölln war Ende November 2014 – ein kalter, düsterer Tag. Ich war | |
die Lehrerin. Unterrichten sollte ich in einem Container auf einem | |
Verwaltungshof: 21 Schüler, 3 Schülerinnen, 20 Quadratmeter. Alle, die am | |
Kurs teilnahmen, kamen aus Syrien und waren kaum zwei Monate in Berlin. | |
Einige hatten studiert, andere waren nicht richtig alphabetisiert. Einige | |
sprachen Englisch, andere nicht. Einige waren überwältigt von ihren Flucht- | |
und Verfolgungserlebnissen, andere von der deutschen Bürokratie. Die Hälfte | |
der Gruppe ist nach den Weihnachtsferien nicht wieder gekommen – sie waren | |
weiter gezogen auf der Suche nach Heimat. | |
## Die erste Stunde | |
Nach drei Monaten begannen wir, ein gemeinsames Kurstagebuch zu schreiben. | |
Um Kontinuität herzustellen, bat ich die Gruppe, sich an den ersten Tag zu | |
erinnern. | |
Maryam: Am 27.11.2014 habe ich angefangen, Deutsch zu lernen. Die erste | |
Stunde war für mich langweilig, aber Deutsch hat sich schön angehört. Ich | |
habe neue Menschen kennengelernt und meine Lehrerin. Sie war freundlich. Am | |
Ende war die Stunde doch interessant. | |
Yazan: Am Anfang war ich verloren in Deutschland. Ich habe die Sprache | |
nicht verstanden, nicht gesprochen. Ich habe die Verkehrsmittel nicht | |
gekannt, das Leben war schlimm. Aber seit November lerne ich Deutsch und | |
verstehe ein wenig, was man spricht. Einmal war ich in der U-Bahn verloren, | |
ich habe einen Mann gefragt, er hat mir geholfen. Berlin hat schöne Plätze | |
und tolle Natur. | |
Mounir: Ich bin vor fünf Monaten nach Berlin gekommen. Am Anfang war es | |
schwer mit dem Sozialamt. Ich habe oft draußen stehen und warten müssen. | |
Deutsch ist nicht einfach, aber es geht. Mit der Integration habe ich das | |
Problem, dass viele Menschen auf der Straße kein Deutsch sprechen. Aber im | |
Sozialamt, bei der Ausländerbehörde, im Jobcenter erwarten Sie, dass du | |
Deutsch sprichst. Ich möchte Familiennachzug machen, meine Frau und meine | |
zwei Töchter sind noch in Syrien, ich brauche dazu viele Dokumente und das | |
ist schlecht und oft aussichtslos. | |
Saad: Die erste Stunde im Kurs war nicht gut. Ich bin mit meinem Bruder zu | |
spät gekommen, und die Lehrerin hat mir auf Deutsch gesagt, dass es keine | |
Stühle mehr gibt und ich Stühle holen soll. Ich habe gedacht, sie will uns | |
wegschicken. Ich war sehr traurig und fühlte mich gar nicht willkommen. | |
Als sie diese Zeilen schreiben, haben sie das Niveau A1.1 erreicht. Sie | |
haben sich mit Themen wie: meine Familie, Einkaufen, meine Wohnung, mein | |
Tag, Freizeit, Kinder und Schule bekannt gemacht, sich den Satzbau, die | |
Negation, die Präpositionen, die Uhrzeit, die Perfektform angeeignet. | |
Mouaaz: Ich habe mich entwickelt. Ich finde Deutsch nicht so schwer. Agnes, | |
unsere Lehrerin, sagt immer „Saboor“, „Saboor“ – Geduld, Geduld. | |
Saad: Ich habe jetzt nach ein paar Monaten das Gefühl, dass ich Deutsch | |
sprechen kann, aber wenn ich mit Deutschen spreche, sagen sie immer: Wie | |
bitte? | |
Mounir: Die ersten Lektionen waren sehr schwer, ich habe sie nicht gut | |
verstanden. Nach einem Monat konnte ich aber schon meinen Namen, mein | |
Heimatland und andere wichtige Informationen auf Deutsch sagen. | |
Nach jeder Lektion bedanken sie sich, weil sie neue Wörter gelernt haben. | |
Vor allem Mounir, der in Syrien kurz vor der Promotion stand, als der Krieg | |
begann. Einmal wollte er etwas erzählen und brauchte die Worte „meiner | |
Meinung nach“. Ich schreibe wichtige Wendungen immer an die Tafel. “Das ist | |
kein wichtiges Wort“, sagt Mounir, “hier fragt uns niemand danach, ich | |
meine nach unserer Meinung.“ | |
## Kurstage | |
Die Kurstage bilden ab, wie dramatisch die Leben der Teilnehmer und | |
Teilnehmerinnen mitunter sind. Heute etwa: Es ist der 21. März. Ich sitze | |
alleine mit Mouaaz im Raum. Er und Saad sind Brüder. Saad ist beim | |
Sozialamt. Die anderen entschuldigen sich per WhatsApp – seit Anfang März | |
haben wir unsere Gruppe da angemeldet – alle haben Termine auf Ämtern oder | |
sind auf Wohnungssuche. | |
Gegen 15 Uhr kommt Saad. Er ist außer sich. „Ich hatte um 10 Uhr einen | |
Termin. Ich war um 7 Uhr da und musste nach 10 Uhr noch 4 Stunden warten. | |
Warum geben sie dann den Termin, das macht keinen Sinn.“ Die anderen | |
stimmen zu, wechseln ins Arabische, schimpfen. Saad sieht meine | |
Verzweiflung und fängt wieder an, Englisch zu sprechen. „Sie gehen mit dir | |
wie Sklaven um. Ich schäme mich manchmal, das Geld anzunehmen, weil ich das | |
Gefühl habe, dass ich mich zum Sklaven mache. Heute haben sie mich nicht | |
einmal ins Gebäude hereingelassen. Immer wenn ich hingehen soll, bekomme | |
ich schon unterwegs Kopfschmerzen. Für sie bin ich nicht Saad, nur ein | |
Flüchtling. Ich habe in Syrien Ökonomie studiert und hier nehmen sie an, | |
dass ich nicht einmal richtig denken kann.“ | |
Auch Hisham ist mittlerweile da, er macht einen sehr müden Eindruck. „Im | |
Heim kann ich nicht gut schlafen“, sagt er. „Ich suche mit meinem Bruder | |
eine Wohnung, aber es gibt keine Wohnung für Flüchtlinge. Ich bin immer | |
müde, ich kann nicht so gut lernen. Alle Wörter sind in meinem Kopf, aber | |
ich kann sie nicht benutzen.“ Den Rest des Unterrichts telefoniert er. Er | |
möchte seine Verlobte nach Deutschland holen, aber sie haben einen | |
Hochzeitstermin in Beirut erst im September bekommen. „Ich versuche jetzt | |
einen Termin zu kaufen, es tut mir leid, es ist sehr wichtig“, sagt er und | |
zieht sich in die Ecke mit Steckdose zurück. | |
## Abschiebung | |
Anfang März kam Firas ohne Ahmed, sonst sind die Brüder immer zusammen | |
gekommen, gegangen und haben nebeneinander gesessen. Ahmed machte eher | |
Fortschritte, Firas dagegen hätte Alphabetisierung gebraucht. Beide waren | |
Matrosen und zusammen mit dem Schiff aus Lettland gekommen. Wenn ich Firas | |
etwas fragte, flüsterte ihm Ahmed ins Ohr und er wiederholte das Gesagte. | |
Jetzt kam Firas ohne Ahmed. Er wirkte immer nervös, als ob er noch auf der | |
Flucht wäre, aber jetzt lag Panik in seinen Augen. Er setzte sich nicht, | |
erzählte nur auf Arabisch, dass Ahmed seit gestern im Krankenhaus liegt, er | |
hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, weil er nach Lettland abgeschoben | |
werden sollte. Dort hatten sie Fingerabdrücke hinterlassen und deshalb | |
müssen sie nach der EU-Gesetzgebung dort Asylanträge stellen. Ahmad wollte | |
aber nicht gehen. Ein Sonderkommando der Polizei kam ins Heim. Er hatte | |
sich im Zimmer verschanzt, die Polizei schoss mit Tränengas. Als sie die | |
Tür aufbrachen und einen Schäferhund auf ihn hetzten, schnitt er sich die | |
Arme auf. Jetzt liegt er in der Psychiatrie. Besuchen kann man ihn nicht. | |
Wir rufen ihn jeden Tag an, seine Stimme klingt zuversichtlich, „ich komme | |
bald wieder zum Kurs“. Wir sehen ihn und Firas nie wieder. | |
Die letzten Märzwochen, in denen wir die Vergangenheit lernen, gehört auch | |
nicht zu den lustigen Kurstagen. Man kann die Vergangenheit nicht lernen, | |
ohne über sie zu sprechen. | |
Lamia, die immer gerne Süßes schleckt, schreibt: Ich habe in Syrien viel | |
geknabbert, und jetzt fühle ich mich ein bisschen, als wäre ich dort, wenn | |
ich Süßes im Mund habe. Glück oder Schicksal haben mich nach Deutschland | |
gebracht. Aber ich kann nicht lernen, mich nicht konzentrieren. Meine | |
Vergangenheit? Ich hatte eine schwere Vergangenheit, mehr möchte ich nicht | |
sagen. | |
Mounir: Mein Leben war traditionell, weil die syrische Gesellschaft | |
konservativ ist. Nach meiner Meinung ist das manchmal gut, aber oft | |
schwierig. Meine Vergangenheit bedeutet für mich Ideen, die manchmal schön, | |
manchmal schmerzhaft sind. An meine Kindheit habe ich schöne Erinnerungen. | |
Mouaaz: Die Schule in Syrien ist anders. Dass du geschlagen wirst, ist | |
normal. Ich habe einmal meiner Mutter gesagt, dass ich nicht gerne zur | |
Schule gehe. Sie ist zum Schuldirektor gegangen und hat sich beschwert. | |
Danach hat er mich auf sein Zimmer gerufen und mich mit dem großen Lineal | |
geschlagen. Ich war sogar im Gefängnis in Syrien, weil ich etwas gegen | |
Baschar al-Assad sagte. Ich möchte dir meine Geschichte schreiben und dir | |
alles erzählen. Das braucht Zeit – verstehst du? | |
Ich verstehe. | |
Ich muss einsehen, dass es mit der Vergangenheit so nicht funktioniert. Am | |
nächsten Tag bitte ich sie, Fotos von früher zu zeigen und zu erzählen, was | |
darauf ist. | |
Yazan: Ich habe das Foto in Libyen gemacht. Das war vor meinem 18. | |
Geburtstag. Auf dem Foto sind meine zwei Brüder. Sie sind 6 und 9 Jahre | |
alt. Ich habe sie das letzte Mal vor acht Monaten gesehen, aber wir | |
telefonieren einmal die Woche. Mit Papa und Mama telefoniere ich jeden Tag, | |
wenn sie Strom haben. | |
Lamia: Auf diesem Foto bin ich in Aleppo mit meiner Schwester. Wir stehen | |
vor der Zitadelle, sie isst Zuckerwatte. Sie ist meine jüngere Schwester. | |
Die Zitadelle ist bis jetzt noch nicht kaputt, aber vielleicht bald, wer | |
weiß. | |
Mounir zeigt ein Bild, auf dem er mit zwei Männern vor einem Porträt von | |
Baschar al-Assad steht. „Seid ihr in der syrischen Botschaft, oder warum | |
hängt das Porträt an der Wand?“, frage ich sie. Alle lachen. | |
Mounir: Das ist in einem Restaurant, aber in Syrien gibt es in jedem | |
Restaurant, in jedem Klassenraum ein Bild mit Baschar al-Assad. Jeden Tag | |
müssen wir vor dem Unterricht seinen Namen rufen und ihn und seinen Vater | |
preisen. | |
## Die Prüfung | |
Am 28.03. machen sie die A1-Prüfung. Sie sind aufgeregt. „Kommst du mit?“, | |
fragt Saad. „Nein, ich darf nicht, aber ihr erreicht mich per WhatsApp.“ | |
Sie melden sich um 14 Uhr. Alles ist gut gelaufen: “Danke Agnes, du hast | |
uns Hoffnung gegeben.“ | |
Nach der Prüfung kehrt die „Normalität“ wieder in unseren Kurs zurück. W… | |
fangen mit dem zweiten Buch A1.2 an. In der Lektion 7 lernen wir deutsche | |
Süßigkeiten kennen vom Lübecker Marzipan bis zur (nicht so deutschen) | |
Linzer Torte. „Was ist die leckerste Süßigkeit in Syrien?“ Sie antworten … | |
Chor: „Halawet el Jibn.“ | |
Mouaaz verspricht, es für uns zu machen. Und tatsächlich, am 22. 04. kommt | |
er mit seinem Halawet el Jibn. Zuvor postete er jeden Tag seinen | |
Fortschritt auf WhatsApp, mal mit Bildern, mal ohne, an einem Tag hat er | |
ein Problem mit dem Teig, am nächsten mit der Füllung. Er ist ein | |
Perfektionist. Sogar der Käse ist arabisch, kein Mozzarella. Für alle hat | |
er eine Portion vorbereitet, das Orangenblütenwasser kommt in einer | |
Saftflasche. Alle sind vom Kuchen begeistert. „Er ist ebenso lecker, wie in | |
Syrien“, sagt Mounir. | |
Im Buch 3, in der Lektion 1 kommt das Adjektiv „peinlich“ vor. Ich frage | |
sie, ob sie schon in einer peinlichen Situation waren. Niemals, sagen sie | |
im Chor. Dann erzähle ich halt meine, ich habe ein paar eingesammelt mit | |
meinen Koffern und Reisepässen. Immer, wenn ich reise, passiert etwas, ein | |
Koffer geht kaputt, der andere kommt nicht an, oder ich vergesse ihn von | |
der Abgabe abzuholen, weil ich vergessen habe, dass ich überhaupt einen | |
Koffer dabei hatte. | |
Was ich ihnen nicht erzähle: dass der 16. Mai, der Tag, an dem sie die | |
Zertifikate der Prüfung bekommen, unsere letzte Stunde sein wird. Ich | |
traute mich nicht, es ihnen nicht zu sagen, wusste nicht wie. Alle haben | |
bestanden. Ich bin unausgesprochen stolz, sie nicht weniger. | |
Erst nach den glücklichen Momenten nehme ich allen Mut zusammen und sage, | |
dass es die letzte gemeinsame Unterrichtsstunde ist. Ich fahre in zwei | |
Tagen nach Indonesien, um da freiwillig Deutsch zu unterrichten, und sie | |
werden in ein paar Wochen in einem Integrationskurs bei einer anderen | |
Dozentin weitermachen. Stille. Saad stellt seinen Kaffee auf den Tisch, | |
nach fünf Minuten bringt er das Wort „nicht“ auf Deutsch nicht raus. Mouaaz | |
sagt, dass er traurig ist, und zeigt den Satz, den er in sein Heft | |
geschrieben hat. „Ich habe mich an dich gewöhnt, weil ich sicher sein | |
konnte, dass du meine Fragen beantworten kannst.“ Mounir wünscht mir | |
einfach viel Spaß, aber ich sehe, dass er fast weint. | |
Mouaaz meldet sich schon am nächsten Tag meiner Abreise. „Hallo Agnes, wie | |
geht es dir? Ich möchte dich nur grüßen. Bist du schon in Jakarta | |
angekommen? Hast du wieder deinen Koffer verloren? Heute ist der erste Tag | |
ohne Unterricht. Es ist langweilig, aber das Wetter ist schön heute.“ | |
17 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Agnes Szabo | |
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