# taz.de -- Debatte Lage in der Ukraine: Die letzte Chance | |
> 15 Monate nach den Maidanprotesten befindet sich das Land im Krieg und in | |
> einer Wirtschaftsmisere. Und Kiew trifft fatale Entscheidungen. | |
Bild: Der „Rechte Sektor“ marschiert – hier Ende Juli gegen die Regierung… | |
Es wird wohl kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass die innenpolitische | |
Gemengelage in der Ukraine alles andere als einfach war, als Petro | |
Poroschenko am 25. Mai 2014 zum Präsidenten gewählt wurde. Der Euro-Maidan | |
– nach der Orangen Revolution 2004 die zweite große Protestbewegung – hatte | |
über 100 Menschen das Leben gekostet und auch unappetitliche Gruppierungen | |
wie den faschistischen „Rechten Sektor“ auf die politische Bühne | |
katapultiert. | |
Ein paar wenige Oligarchen, zu denen auch Poroschenko gehörte, walteten und | |
schalteten nach ihren eigenen Gesetzen – in der Wirtschaft genauso wie in | |
der Politik und den Medien. Im März 2014 war die Halbinsel Krim von | |
Russland nach einer Abstimmungsfarce quasi handstreichartig annektiert | |
worden. Und im Donbass, in den Regionen Lugansk und Donezk, hatten unter | |
tatkräftiger Mithilfe Moskaus Kampfhandlungen zwischen prorussischen | |
Kämpfern und der ukrainischen Armee begonnen. | |
Heute, 15 Monate später, bietet sich ein düsteres Bild, und Poroschenko hat | |
auf der Habenseite nur wenig vorzuweisen. Nach wie vor haben die Oligarchen | |
das Land fest im Griff – trotz Versuchen, sie in ihre Schranken zu weisen, | |
wie im Fall der Absetzung des Gouverneurs von Dnipropetrowsk, Ihor | |
Kolomojskyj. Entgegen vorherigen Ankündigungen hat auch Poroschenko seine | |
Firmen nicht veräußert, was kein gutes Licht auf die Ernsthaftigkeit seiner | |
Bemühungen wirft, entschieden gegen die Magnaten und damit auch gegen sich | |
selbst vorzugehen. | |
Der Krieg im Donbass hat mittlerweile auf beiden Seiten mehr als 10.000 | |
Tote gefordert. Das im Februar geschlossene Waffenstillstandsabkommen Minsk | |
2 ist labil, fast täglich sind Opfer zu beklagen. Mehr als eineinhalb | |
Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die wirtschaftliche Lage ist | |
desolat. Das Bruttoinlandsprodukt ist 2014 um 6,8 Prozent zurückgegangen, | |
für 2015 werden weitere 5,5 Prozent prognostiziert. Die Reallöhne werden in | |
diesem Jahr aller Voraussicht nach um 15 Prozent fallen. Experten | |
veranschlagen die Inflationsrate für 2015 auf 30 bis 35 Prozent. | |
## Skandalöse Wahlbeeinflussung | |
Doch einmal abgesehen von dem andauernden Krieg, den Russland mal mehr oder | |
weniger anheizt, und der wirtschaftlichen Misere: In jüngster Zeit gibt es | |
innenpolitische Entwicklungen, die auch bei wohlgesinnten Beobachtern nur | |
Fassungslosigkeit hervorrufen können. Die Nachwahlen für einen Sitz im | |
nationalen Parlament; der Werchowna Rada, am 26. Juli 2015 in Tschernihiw, | |
wurden schon Tage vor der Abstimmung in den ukrainischen Medien als | |
„skandalös“ bezeichnet. Zu Recht. | |
Das Duell zwischen dem Kandidaten für die Poroschenko-Partei, Sergej | |
Beresenko, und dem von Kolomojskyj unterstützten Vertreter der Ukrainischen | |
Vereinigten Patrioten (Ukrop), Gennadi Korban, erinnerte fatal an die | |
sogenannten Abstimmungen zu Zeiten des abgesetzten Präsidenten Wiktor | |
Janukowitsch: Wählerbeeinflussung mittels der Verteilung von Lebensmitteln, | |
Stimmenkauf sowie Einschüchterung von Wählern – das ganze Programm. | |
Poroschenko bezeichnete diese Wahl als „Schande“, die das Land in das Jahr | |
2012 zurückversetze. Das müsse Konsequenzen haben. | |
Sieh mal einer an! Der Präsident sollte es nicht bei dieser Feststellung | |
belassen, sondern vielleicht einmal Ursachenforschung betreiben, wie es | |
dazu kommen konnte und was das alles über die „demokratische Gesinnung“ der | |
Beteiligten aussagt. Zumal im Oktober Kommunalwahlen anstehen. | |
## Lichtjahre von „westlichen Werten“ entfernt | |
Von ähnlicher „Güte“ ist die Entscheidung der Regierung, der | |
Kommunistischen Partei das Recht zur Teilnahme an diesen Wahlen und ihren | |
Parteistatus zu entziehen – mit der Perspektive auf ein Verbot. Ähnliche | |
Anwandlungen hatte Regierungschef Arseni Jazenjuk bereits im Juli | |
vergangenen Jahres. Damals lautete die Begründung, die Kommunisten | |
unterstützten die prorussischen Kämpfer mit Geld und Waffen. Irgendwie | |
versandete das Verfahren jedoch vor Gericht. Bei den Parlamentswahlen im | |
vergangenen Oktober kamen die Kommunisten auf 4 Prozent, was eher auf ein | |
überschaubares politisches Gewicht hinweist. | |
Der Vorstoß der Regierung in dieser Causa lässt leider nur einen Schluss | |
zu: dass die Führung in Kiew von westlichen Werten, die sie sich ja gern | |
auf die Fahnen schreibt, immer noch Lichtjahre entfernt ist. Die | |
Erkenntnis, dass ein Parteiverbot in einem Rechtsstaat die Ultima Ratio | |
sein muss und die Auseinandersetzung mit einer Partei auf politischer Ebene | |
zu suchen ist? Fehlanzeige! Stattdessen mutet das Vorhaben wie ein | |
Rachefeldzug an. | |
Auch die Bestellung des ehemaligen georgischen Staatspräsidenten Michail | |
Saakaschwili zum Gouverneur des mehrheitlich russischsprachigen Gebietes | |
Odessa vor zwei Monaten zeugt nicht eben von Weitsicht. Saakaschwili, gegen | |
den in seinem Heimatland mehrere Verfahren laufen, hat sich im Kampf gegen | |
Korruption und bei Reformen zweifellos einige Verdienste erworben. Welch | |
demokratischen Geistes Kind er ist, zeigte sich jedoch im Umgang mit seinem | |
Verhalten vor und während der georgischen Parlamentswahlen 2012. Da war | |
kein Mittel zu schmutzig, um den eigenen Machterhalt zu sichern. | |
## Signale fataler Entscheidungen | |
Was sagt uns das alles? Dass Kiew nach 2004 ein zweites Mal Gefahr läuft, | |
die Chance auf eine grundlegende Umgestaltung des Landes zu verspielen. | |
Denn die Signale, die derlei Entscheidungen aussenden, sind fatal. Nach | |
innen, weil sie die Gesellschaft weiter polarisieren, und das ausgerechnet | |
zu einem Zeitpunkt, wo es darum gehen muss, die Menschen wieder | |
zusammenzuführen. Nach außen, weil denjenigen in die Hände gespielt wird, | |
die nichts unversucht lassen, die „faschistische Junta“ zu diskreditieren | |
und Kräfte, die die Ukraine unterstützen wollen, in Erklärungsnot bringt. | |
Und was tut die EU? Sie laviert – zuletzt beim Gipfel der Östlichen | |
Partnerschaft im Mai in Riga, als Visaerleichterungen wieder einmal vertagt | |
wurden. Das aber ist keine Antwort auf die Frage, wie es in der Ukraine | |
weitergeht und welche Rolle Brüssel dabei spielen kann und will. Die EU | |
muss ihre Verantwortung gegenüber Kiew stärker als bisher wahrnehmen. Das | |
tut sie derzeit nicht. Aber da ist die Ukraine ja leider kein Einzelfall. | |
4 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine | |
Petro Poroschenko | |
Oligarchen | |
Schwerpunkt Korruption | |
taz на русском языке | |
Ukraine | |
Ukraine-Konflikt | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
taz на русском языке | |
Ukraine-Konflikt | |
taz на русском языке | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Ukraine-Krise: Zynische Geiselname | |
Pro-russische Kämpfer fordern Hilfswerke auf, das Gebiet Lugansk zu | |
verlassen. Das bedeutet auch einen Rückschlag für die Friedensbemühungen. | |
Kommentar Gewalt in der Ukraine: Zweite Front in Kiew | |
Mit der jüngsten Gewalt hat der Konflikt in der Ukraine eine neue Qualität | |
erreicht. Dem Minsker Abkommen droht die Bedeutungslosigkeit. | |
Vor dem ukrainischen Parlament: Explosion bei Tumulten in Kiew | |
Die Rebellen in der Ostukraine sollen mehr Autonomie bekommen. Im Parlament | |
stimmte eine Mehrheit für das umstrittene Gesetz. Dann kam es zu einer | |
Explosion. | |
Konflikt zwischen Ukraine und Russland: An eurem guten Willen ist alles faul | |
Warum ich mich mit prorussischen Autoren auf kein Podium setze: Ich lasse | |
mich nicht zu einem Showeffekt degradieren. | |
Journalistin über gefälschte Nachrichten: „Die meisten Leute sind naiv“ | |
Die ukrainische Website Stopfake.org entlarvt Propaganda. Chefredakteurin | |
Tetiana Matychak über die schwierige Suche nach der Wahrheit. | |
Jugendliche Straftäter in der Ukraine: Nationales Pathos hinter Gittern | |
„Die rote Schneeballpflanze“ ist ein Kulturwettbewerb, an dem nur | |
jugendliche Straftäter teilnehmen dürfen. Gelernt wird Patriotismus. | |
Kolumne Der rote Faden: Ukrainische Samurai | |
Es war ein Angriff auf Terroristen. Nein, es war eine Razzia gegen | |
Schmuggler. Ein Ringen zwischen Polizei und Faschisten? Ein | |
Wochenrückblick. |