# taz.de -- Suche nach neuem Labourpartei-Chef: New Labour’s Albtraum | |
> Die britische Labourpartei sucht einen neuen Vorsitz. Überraschung: Vorne | |
> liegt ein linker „Old Labour“. Der Monarchieverächter Jeremy Corbyn. | |
Bild: Viele Gegner, aber auch viele Anhänger: der linke Labour-Politiker Jerem… | |
DUBLIN taz | Das Gelächter unter den Abgeordneten der britischen Labour | |
Party war groß, als Jeremy Corbyn Anfang Juni ankündigte, für den Posten | |
als Parteichef zu kandidieren. Corbyn? Er ist „Old Labour“, was seit Tony | |
Blairs „New Labour“ ein Schimpfwort ist. Er ist der renitenteste | |
Parlamentarier der Partei, Mitglied der Socialist Campaign Group, der | |
Solidaritätsgruppe für Palästina, der Antiatombewegung und der Stop the War | |
Coalition – alles Organisationen, die für die Labour-Garde der Ära von | |
Blair und Gordon Brown ein rotes Tuch sind. | |
Die für die Kandidatur notwendigen 35 Nominierungen von anderen | |
Labour-Abgeordneten hatte er erst wenige Minuten vor Meldeschluss | |
beisammen. Und die meisten hatten ihn nicht nominiert, weil sie ihn als | |
Parteichef haben wollten, sondern weil sie glaubten, dass dadurch die | |
Debatte interessanter würde. | |
Man war sich sicher, dass Corbyn keine Chance haben würde. Einer der | |
anderen drei würde das Rennen machen: der ehemalige Gesundheitsminister | |
Andy Burnham, die frühere Arbeitsministerin Yvette Cooper oder die | |
bildungspolitische Sprecherin Elizabeth Kendall. Alle drei sind rund 20 | |
Jahre jünger als der 66-jährige Corbyn, alle drei repräsentieren „New | |
Labour“. | |
Laut neuester Meinungsumfrage des Instituts YouGov hat Corbyn seinen | |
Vorsprung vor Burnham binnen einer Woche nahezu verdoppelt. Corbyn liegt | |
jetzt bei 53 Prozent. Burnham kommt auf 21 Prozent, Cooper auf 18 und | |
Kendall auf acht Prozent. Bei einem solchen Ergebnis müsste man nicht | |
einmal die Zweitstimmen zählen, Corbyn wäre bereits nach dem ersten | |
Wahlgang Parteichef. | |
## „Irgendjemanden, nur nicht Corbyn“ | |
Das Lachen ist der Blair-Brown-Garde vergangen. Stattdessen hat sich Panik | |
breitgemacht. Man malt den Untergang der Labour Party an die Wand. Tony | |
Blair riet Leuten, deren Herz für Corbyn schlägt, sich einer | |
Herztransplantation zu unterziehen. Alan Johnson, der unter Brown | |
Innenminister war, sagte: „Der Wahnsinn dieses Flirts mit Corbyn als | |
Labour-Chef muss aufhören.“ Neil Kinnock, der als Labour-Kandidat 1987 | |
gegen Margaret Thatcher und 1992 gegen John Major verheerende | |
Wahlniederlagen einstecken musste, sagte, Corbyn sei höchstens „als | |
Vorsitzender eines Debattierzirkels“ geeignet. | |
Die Opposition der etablierten Parteirecken ist kein Wunder: Der Mann ist | |
Autogegner und will Nordirland mit Irland wiedervereinigen. Und dann ist er | |
auch noch strikter Vegetarier, Jagdgegner und Monarchieverächter. | |
Alastair Campbell warnte, Labour sei erledigt, wenn die Partei Corbyn zum | |
Chef wählt. „Auch wenn er jetzt nett und warmherzig daherkommt, wird Corbyn | |
ein Führer der harten Linken für die harten Linken sein“, sagte Campbell. | |
Die Mitglieder sollen „irgendjemanden, nur nicht Corbyn“ wählen, forderte | |
er. Ausgerechnet Campbell. Er war Blairs Spindoktor, der jeder Nachricht | |
einen regierungsfreundlichen Dreh gab. Er war damals in der Labour Party | |
mächtiger als alle Kabinettsmitglieder, viele hielten ihn gar für den | |
heimlichen Premierminister. Campbell gilt als Architekt des gefälschten | |
Irak-Dossiers, das die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit eines Krieges | |
überzeugen sollte. | |
Corbyn hatte bereits 1997 in einem Intervew mit der taz gesagt, dass die | |
Parteiführung „die Debatte innerhalb der Partei unterdrücken“ wolle. „A… | |
sie werde dennoch stattfinden: „Die Labour Party ist ein großer Apparat, | |
der nicht so leicht von oben zu kontrollieren ist. Ich bin meinen Wählern | |
zur Rechenschaft verpflichtet und nicht der Parteiführung, die eine sich | |
selbst erhaltende Politikmaschine geschaffen hat.“ | |
## Islington, ein ungleicher Ort | |
Seine Wähler im Wahlkreis Nord-Islington schicken ihn seit 1983 ins | |
Unterhaus. Es ist der zweitkleinste Wahlkreis in London, viele Prominente | |
haben hier gewohnt: Charles Dickens, George Orwell, Charlie Chaplin, Alfred | |
Hitchcock, Lenin, Peter Sellers – und Tony Blair. Islingon gilt als | |
Geburtsort von „New Labour“. Blair wohnte damals im Richmond Crescent, er | |
hatte das Haus 1993 für 375.000 Pfund gekauft. | |
Jetzt ist es fast 3,5 Millionen wert. Aber die Gentrifizierung ist nur die | |
eine Seite des Bezirks. Auf der anderen leben 42 Prozent der Bewohner in | |
Sozialbauwohnungen. Man lebt nebeneinander her, sozialen Kontakt zwischen | |
den Bankiers, die für die Krise verantwortlich sind, und denjenigen, die | |
sie ausbaden müssen, gibt es nicht. | |
Islington ist einer der ungleichsten Orte Großbritanniens. Ein Drittel der | |
Kinder wohnt in beengten Verhältnissen, 40 Prozent der alten Menschen leben | |
unter der Armutsgrenze. Islington hat die höchste Rate an psychischen | |
Erkrankungen und Suiziden. Das Durchschnittseinkommen von Menschen in | |
Sozialbauwohnungen liegt bei 15.000 Pfund im Jahr. Das von Hausbesitzern | |
beträgt 78.000 Pfund. | |
Corbyn will in Infrastruktur, Wohnungsbau, Bildung und Gesundheit | |
investieren sowie die Eisenbahn und die Energieversorgung verstaatlichen. | |
Um das zu finanzieren, will er Wohlhabende und Unternehmen stärker | |
besteuern. 93 Milliarden Pfund könne man einsparen, wenn man die | |
Subventionen für multinationale Unternehmen streiche, sagt Corbyn. Er | |
plädiert für eine Reform der EU, will aber, dass Großbritannien Mitglied | |
bleibt. | |
## Reform des Wahlsystems | |
Corbyn kommt nicht nur bei der alten Labour-Klientel an, die die Partei | |
nach Blairs Rechtsruck verlassen hatte und jetzt in Scharen zurückkehrt, | |
sondern auch bei vielen jungen Menschen, die im Mai zum ersten Mal | |
wahlberechtigt waren. | |
Dass sie bei der Wahl des Labour-Chefs mitwählen dürfen, verdanken sie | |
einer Reform des parteiinternen Wahlsystems. Diese wurde im vorigen Jahr | |
ausgerechnet vom konservativen Parteiflügel durchgesetzt, um die Wahl des | |
Parteichefs einer breiteren Wählerschaft zu öffnen. Vor allem aber wollte | |
man den Einfluss der Gewerkschaften schwächen. So haben nicht nur die knapp | |
500.000 Parteimitglieder und über die Gewerkschaften registrierten | |
Unterstützer eine Stimme, sondern auch alle, die sich bis Mittwoch für eine | |
Gebühr von 3 Pfund als „Unterstützer“ registrieren ließen. Das taten | |
120.000 Menschen. | |
Die Parteiverwaltung hat die Liste dieser sogenannten | |
Drei-Pfund-Unterstützer durchforstet und 1.800 Anträge abgelehnt. Das | |
Tory-Blatt Daily Telegraph hatte seine Leser nämlich dazu aufgefordert, | |
sich registrieren zu lassen und Corbyn zu wählen, um Labour den Garaus zu | |
machen. | |
## Alles neu | |
Sollte Corbyn gewinnen, muss er für sein Schattenkabinett einen | |
Verteidigungsminister finden, der für den Nato-Austritt und die britische | |
Abrüstung eintritt; einen Außenminister, der gegen den Krieg in Syrien ist; | |
einen Energieminister, der gegen Atomkraft und möglicherweise für die | |
Öffnung neuer Bergwerke eintritt; und vor allem einen Schatzkanzler, der | |
gegen die Austeritätspolitik ist. | |
Viele haben bereits abgewinkt, bevor sie überhaupt gefragt wurden. Auf | |
Loyalität zum Parteichef wird Corbyn nicht pochen können. Er hat in seiner | |
Parlamentskarriere bei Abstimmungen mehr als 500-mal aus Gewissensgründen | |
gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen. | |
Am Freitag sind die Wahlunterlagen verschickt worden, bis zum 10. September | |
können Stimmen abgegeben werden. Das Ergebnis wird zwei Tage später | |
verkündet. | |
14 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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