| # taz.de -- Theater auf dem Tempelhofer Feld: Wunderliche Wanderung übers Feld | |
| > Eine poetische Suche im Lichterlabyrinth: Theater Anu zeigt seine | |
| > Inszenierung „Die große Reise“ erstmals auf dem Tempelhofer Feld in | |
| > Berlin. | |
| Bild: Das Theater Anu setzt etwas andere Positionslichter auf das Tempelhofer F… | |
| Draußen, zwischen zwei Bäumen, sitzt ein Narr auf einer Schaubude und | |
| schnarcht. Er trägt bunte Fetzen, eine Corsage und einen Kopfschmuck aus | |
| Stoffbollen. Ein Mann mit Zylinder, der aussieht wie ein Zirkusdirektor, | |
| und in weiß gekleidete Menschen nähern sich dem Gaukler, läuten eine Glocke | |
| und springen wild durcheinander. Sie gehen durch das Häuschen und schwärmen | |
| in alle Richtungen aus. | |
| Der Narr ist inzwischen erwacht und erzählt wirre Geschichten. Er spricht | |
| vom Rauswurf aus dem Paradies. Dass die Menschen seitdem auf der Reise | |
| seien. Dann erzählt er bruchstückhaft vom Schneider aus Gottfried Kellers | |
| Erzählung „Kleider machen Leute“. Der Narr ermutigt uns, hinter dem Vorhang | |
| einen Weg durch den Irrgarten aus Licht zu finden. Als ich durch den | |
| Eingang trete, stehe ich vor einem Labyrinth aus Kerzen. Der Mann mit dem | |
| Zylinder winkt uns weiter. Manchen drückt er einen Koffer in die Hand. | |
| Seltsam und befremdlich wirkt diese Kombination aus Installation und | |
| Schauspiel des Theaters Anu auf dem Tempelhofer Feld. Ich fühle mich wie | |
| Alice im Wunderland. Die Anu-Macher, Stefan und Bille Behr, beschreiben | |
| ihre Inszenierungen als „poetisches Theater im öffentlichen Raum“. Poetisch | |
| ist dabei nicht im Sinne von idyllisch zu verstehen, eher wie wunderlich. | |
| Trotz Kerzenschein und Märchenmotive driften die Darbietungen nicht in | |
| Kitsch ab, sondern bleiben in einer Art Schwebezustand bei „Die große | |
| Reise“ – das Stück hatte 2007 seine Premiere und wurde an über 60 Orten in | |
| Deutschland und Europa aufgeführt, am Donnerstag hatte es in Berlin seine | |
| erste Vorstellung. Das Konzept wurde zum Markenzeichen für weitere | |
| Anu-Produktionen: Die ZuschauerInnen können sich in der Theaterinstallation | |
| frei bewegen und dort so lange verweilen, wie sie wollen. | |
| Flugversuche mit einer Leiter | |
| 3.500 Kerzenlichter formen die Wege des etwa 3.000 Quadratmeter großen | |
| Labyrinths auf dem Tempelhofer Feld in der Nähe des Eingangs Columbiadamm. | |
| Ich versuche, den Weg zu einer der Stellen zu finden, wo sich auch ein | |
| Darsteller befindet. Andere BesucherInnen schummeln und steigen einfach | |
| über die Wegränder. | |
| Eine der Geschichten handelt von einem Prinzen, der sich noch nicht reif | |
| genug fühlt, König zu werden. Der Schauspieler ist mit einem Seil an eine | |
| Kiste gefesselt, worin ein Krone in Sand vergraben ist. Wie fast alle | |
| Figuren des Stücks wirkt er wahnsinnig und kindlich zugleich. Ein anderer | |
| hat die Orientierung verloren und fragt die ZuschauerInnen nach dem Weg. Er | |
| zeigt ihnen das Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David | |
| Friedrich und behauptet, er habe es gemalt. Zudem spricht er von einem | |
| fremden Land, in dem Menschen und Vögel befreundet seien. | |
| Nicht alle SchauspielerInnen überzeugen, manche könnten noch präsenter | |
| sein. Vielleicht teilen sie sich auch ihre Kräfte ein. Immerhin müssen sie | |
| drei Stunden lang durchhalten. Ohne Pause führen sie ihre etwa fünf bis | |
| zehn Minuten langen Szenen immer und immer wieder vor. | |
| Brillant und urkomisch ist Bärbel Aschenberg, wie sie mit einer | |
| aufgeklappten Leiter ihre ersten Flugversuche wagt. Witzig ist auch der | |
| Sprecher aus dem Off, der dazu Sicherheitshinweise vorliest. Dazu ist eine | |
| Soundcollage zu hören, eine Streichermusik im Loop, die der Cellist | |
| Nikolaus Herdieckerhoff für die Produktion komponiert hat. Eine | |
| Frauenstimme sagt: „Die Menschen haben das Fliegen nur verlernt.“ | |
| Bei allen PerformerInnen bluten zwei Wunden am Rücken, die von | |
| abgebrochenen Flügeln stammen könnten. | |
| Isoliert in einer Traumwelt | |
| Die Figuren sind auf einer Reise zu sich selbst. Eine Suche nach dem Ich, | |
| der eigenen Identität, dem Lebensweg. Sie sind verunsichert, haben Ängste | |
| und Hoffnungen, fühlen sich gefangen in ihrer Rolle, beschränkt von äußeren | |
| und eigenen Erwartungen. Dabei begleiten sie wiederkehrende Motive, seien | |
| es die alten Reisekoffer, das Thema Fliegen, die tragende Cellomusik, die | |
| Lichter, die ihnen den Weg zeigen sollen, doch oft in eine Sackgasse | |
| führen. | |
| Die Dramaturgin Bille Behr spielt selbst mit. Fast unheimlich wirkt es, wie | |
| sie zum Lied „Der Mond ist aufgegangen“ Gegenstände in einem Kofferturm | |
| sortiert und eine Puppe durch die Luft wirbelt. Ihr Mann Stefan Behr hat | |
| das Theater Anu 1998 in Heppenheim mitgegründet, seit 2007 hat die | |
| Compagnie ihren Hauptsitz in Berlin. Die Vorstellungen finden nie auf einer | |
| klassischen Bühne, sondern immer an besonderen Orten statt: in Parks, in | |
| Kirchen, im Wald und in Industriehallen. | |
| Auf dem Tempelhofer Feld haben die beiden Regisseure eine Fantasiewelt | |
| erschaffen, die bis ins Detail durchdacht ist. Etwa eine Stunde bis 90 | |
| Minuten, empfehlen sie, solle man sich „Die große Reise“ gönnen. Die | |
| BesucherInnen schauen in die komplexe Welt nicht nur von außen hinein, sie | |
| werden Teil von ihr. Die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne ist | |
| aufgelöst. | |
| Ein paar der Figuren leben isoliert und abwesend in ihren eigenen | |
| Traumwelten, wie die junge Frau, die halbnackt in einem Zimmer aus Koffern | |
| sitzt und mit einer Feder auf Eier schreibt. Andere suchen den direkten | |
| Kontakt wie die stotternde Frau, die durch Liebe befreit werden will. Sie | |
| reicht einem der Besucher die Hand, sie gibt ihm einen Spiegel. | |
| 17 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Julika Bickel | |
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| Müller der taz. |