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# taz.de -- Jahrestag der Räumung des Protestlagers: Tiananmen in Kairo
> Vor zwei Jahren lösten Sicherheitskräfte das Protestcamp der Muslimbrüder
> auf. Das Ereignis spaltet die Gesellschaft bis heute.
Bild: Festgenommene Deomonstranten in Gizeh am 14.8.2013.
KAIRO taz | „Es war weltweit in der neueren Geschichte einer der
tödlichsten Einsätze gegen Demonstranten an einem einzigen Tag durch
willkürliche und gezielte Gewalt von Sicherheitskräften.“ Das Fazit der
US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zu der gewaltsamen
Räumung des Protestlagers der Muslimbruderschaft und der Antiputsch-Allianz
auf dem Rabaa-Adawiya-Platz durch die ägyptische Polizei und die Armee vor
zwei Jahren in Kairo ist vernichtend.
Die Organisation nennt den blutigen Tag in Ägypten in einem Atemzug mit dem
chinesischen Tienamen-Massaker 1989, bei dem 400 bis 800 Demonstranten
umgekommen sein sollen. Nach Zählung der Organisation wurden in Kairo am
14. August 2013 über 1.000 Demonstranten innerhalb weniger Stunden
erschossen worden sein.
Der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi und dessen Anhänger würden das
Thema am liebsten unter den Tisch kehren. Für die Muslimbruderschaft und
die Antiputsch-Allianz ist der Tag dagegen die wichtigste Referenz für die
blutige Herrschaft des Militärs nach dem Sturz von Präsident Mohammed
Mursi.
„Ich bin mittags dort angekommen, es klang wie im Krieg. Es waren Schüsse
zu hören, auch von automatischen Waffen. Tränengas lag in der Luft,
gemischt mit den schwarzen Rauchschwaden von den Reifen, die die
Demonstranten angezündet hatten. Es war eine Szene von Chaos und Terror“,
beschreibt der amerikanisch-ägyptische Journalist Sharif Abdel Kouddous den
damaligen Tag. Der Korrespondent von Democracy Now war einer der wenigen
Journalisten, der die Ereignisse direkt auf dem Rabaa-Platz erlebt habt. Er
ist auch einer der wenigen, die heute ohne Angst vor Repression darüber
reden.
## Jubel über das Blutvergießen
„Ich habe über viele Kriege im Nahen Osten berichtet, und ich kann sagen,
das war der blutigste Tag, den ich als Reporter erlebt habe“, sagt er.
Ununterbrochen seien Tote und Verletzte ins improvisierte Feldlazarett
gebracht worden. Die Fenster dort seien verschlossen gewesen, damit kein
Tränengas eindringt. „Es war unerträglich heiß, der Boden rutschig vom
Blut. In einem Raum habe ich 24 Leichen gezählt. In einem anderen lagen 30,
und es gab kaum Platz“, erinnert sich Abdel Kouddous. „Manche hatten die
Mobilnummer ihrer Verwandten und Freunde auf den Arm geschrieben, damit man
sie im Falle des Todes verständigen kann.“
Nur mit Glück ist er selbst heil davongekommen. Der einzige Weg nach
draußen sei eine Straße im Feuerbereich von Scharfschützen gewesen. „Eine
andere Reporterin und ich haben uns an der Hand gehalten, wir haben gezählt
und sind dann losgelaufen“, blickt er zurück. Er kam durch, aber ein Mann
direkt vor ihm wurde in den Kopf geschossen. „Ich werde diese Szenen nie
wieder vergessen“, sagt Abdel Kouddous.
Das Bizarrste stand dem Journalisten aber noch bevor. „Ich hatte dieses
Blutvergießen hinter mich gebracht, und als ich hinter den Polizeikordon
kam, sah ich Menschen, die jubelten, applaudierten und ägyptische Fahnen
schwenkten“, erzählt er. Später sah er den Innenminister und den Premier im
Fernsehen, wie sie der Armee und der Polizei für ihre Arbeit gratulierten.
Kein anderes Ereignis hat die ägyptische Gesellschaft in den vergangenen
Jahren mehr gespalten.
Human Rights Watch kam nach der Befragung von 200 Augenzeugen und der
Sichtung von Videomaterial zu dem Schluss, dass die Polizei auf die meist
friedlichen Demonstranten mit scharfer Munition geschossen habe, dass aber
auch Scharfschützen eingesetzt wurden und hunderte durch Kopf- und
Brustschüsse umkamen. Weder habe es eine adäquate Warnung an die
Demonstranten gegeben, noch einen Weg, auf dem diese den Ort hätten
verlassenen können, ohne erschossen zu werden, heißt im HRW-Bericht.
## Kein Fluchtweg für die Demonstranten
„Drinnen waren Tausende, Männer, Frauen, ganze Familien mit Kindern, die
auf dem Sit-in übernachtet hatten. Soweit ich es gesehen habe, gab es
keinen sicheren Weg nach draußen“, berichtete auch der Journalist Abdel
Kouddous.
Das bemängelte später sogar der von der Regierung in Kairo bestimmte
nationale Menschenrechtsrat, der beauftragt worden war, das Vorgehen der
Sicherheitskräfte und der Demonstranten zu untersuchen. In diesem Bericht
wird vor allem hervorgehoben, dass die Demonstranten das Feuer auf die
Polizei eröffnet hätten und die Lage so eskalierte.
HRW dokumentierte auch vereinzelt Fälle, in denen Demonstranten auf die
Polizei geschossen hätten, „aber damit lässt sich niemals der
unverhältnismäßige und vorsätzliche Einsatz von Gewalt gegen überwiegend
friedliche Demonstranten rechtfertigen“, heißt es im HRW-Bericht. Selbst
nach den Zahlen des offiziellen Menschenrechtsrats gab es unter den dort
632 dokumentierten Opfern nur acht tote Polizisten.
## Mehr Anschläge als je zuvor
Auch das Videomaterial zeigte zahlreiche Szenen, in denen
Sicherheitskräfte, ohne Deckung zu nehmen, von Dächern und
Polizeifahrzeugen aus schießen. „Ein ungewöhnliches Verhalten, wenn es eine
signifikante Bedrohung durch Schusswaffen seitens der Demonstranten gegeben
hätte“ , stellt HRW etwas lakonisch fest.
Der Rabaa-Tag hat das Land bis heute polarisiert. Die Unterstützer der
Al-Sisi-Regierung, der Armee und Polizei behaupten, der Einsatz von Gewalt
sei legitim gewesen, da die Polizei angegriffen worden sei. Auf der anderen
Seite, so Kouddous, hätte Rabaa gerade jüngere Muslimbrüder radikalisiert.
Heute kämpfe die Organisation mit Abspaltungen, die militante Antworten
fordern. Al-Sisis ganze Existenzberechtigung sei der Krieg gegen Terror und
das Ausschalten der Muslimbrüder, glaubt der Journalist. Doch nach zwei
Jahren Militärherrschaft, schlussfolgert er, gebe es heute in Ägypten mehr
Anschläge als je zuvor.
Am Freitag, dem zweiten Jahrestag des blutigen Rabaa- Einsatzes, werden die
Reaktionen im Land darauf auch ein Indikator sein, wie sehr El-Sisi und
seine Sicherheitskärfte die Lage heute unter Kontrolle haben.
14 Aug 2015
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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Ägypten
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