# taz.de -- Der Islamische Staat im Irak: Scheich gegen Scheich | |
> Im Städtchen Duluijah wehrten sich die Bewohner gegen die IS-Kämpfer. Die | |
> Angreifer waren aber keine Fremden, sondern Leute aus dem Nachbardorf. | |
Bild: Mit Mörser-Beschuss gehen Kämpfer der Basr-Milizen gegen den Islamische… | |
AL-DULUIJAH taz | Ein gottgefälliges Leben für die einen, Tod und | |
Vergeltung für die anderen: Das war die Botschaft, die Abu Bakr al-Baghdadi | |
vor einem Jahr von der Kanzel der Großen Nuri-Moschee von Mossul | |
verkündete. Seine Gefolgsleute hatten gerade das Kalifat ausgerufen und ihn | |
zum Nachfolger des Propheten Mohammed und Oberhaupt aller Muslime ernannt. | |
Seither nennt er sich „Kalif Ibrahim“. | |
Die Muslime hätten jetzt einen Staat, der ihnen ihre Würde, Stärke, Rechte | |
und die Herrschaft zurückbringen werde, verkündete Baghdadi in seiner | |
Antrittsrede. Sie hätten nun einen Staat, in dem alle gleich seien. Dem | |
Rest der Welt erklärte der Mittvierziger, der aus dem südlich von Mossul | |
gelegenen Ort Samarra stammt, den Krieg. Eine neue Ära habe begonnen. | |
„Greift zu den Waffen, o Soldaten des Islamischen Staats! Und kämpft, | |
kämpft!“ | |
Scheich Abdurrahman Suleiman griff zu den Waffen. Nicht nur er – die | |
gesamte Familie mit Kind und Kegel. Sein erst zehnjähriger Sohn schleppte | |
Munition heran, während sein älterer Sohn mit der Kalaschnikow kämpfte. Die | |
Botschaft des Kalifen hatte sich vor allem an Sunniten wie den Scheich aus | |
dem Städtchen Duluijah gerichtet. | |
Aber weder er noch die anderen Familien am Ort dachten daran, sich dem IS | |
zu unterwerfen. Stattdessen richtete sich ihr Kampf gegen die Krieger des | |
neuen Kalifats. „Viele von uns sind Ärzte und Ingenieure. Wir wollen doch | |
nicht ins Mittelalter zurück“, sagt der hagere 46-Jährige. Umgeben von | |
hohen Dattelpalmen und üppigen Gärten ist Duluijah ein Idyll in der sonst | |
so staubtrockenen Landschaft des Irak. Breit und gemächlich fließt der | |
Tigris am Ortsrand vorbei. | |
Die Gegend war schon immer ein bevorzugtes Refugium für Untergrundkämpfer | |
aller Couleur. Abu Mussab al-Sarkawi, der Gründer von al-Qaida im Irak, | |
hatte sich hier versteckt, bis ihn die Amerikaner 2006 töteten. | |
## Mal geht es um Macht, mal um Landrechte | |
Vergangenes Jahr machten sich dann Leute vom IS breit. Daaisch, wie die | |
Iraker den IS nennen, habe Duluijah damals komplett umzingelt, sagt Scheich | |
Abdurrahman. Die IS-Kämpfer waren freilich keine ausländischen | |
Dschihadisten, sondern Männer aus dem Nachbardorf, Sunniten wie er, nur von | |
einem anderen Stamm. In Duluijah gehören die meisten dem Jubur-, im | |
Nachbarort die Mehrzahl dem Khazraji-Stamm an. | |
Fehden wie die zwischen den Jubur und den Khazraji gibt es im Irak zuhauf, | |
nicht nur unter den Sunniten, sondern auch unter den Kurden und Schiiten. | |
Mal geht es um Macht, mal um Landrechte, mal um fette Regierungsaufträge | |
oder einträgliche Schmuggelschäfte. Unter den Sunniten hat das Erstarken | |
des IS freilich alte Fehden wieder aufflammen lassen und neue provoziert. | |
Ganze Clans und Stämme haben sich auf die Seite des IS geschlagen. | |
Im Nordirak um Mossul oder Kirkuk ist der Grund dafür häufig der Konflikt | |
zwischen Arabern und Kurden, im Zentralirak der zwischen Sunniten und | |
Schiiten, und im Westirak sind es häufig innersunnitische | |
Stammesrivalitäten. Manchmal geht der Riss auch mitten durch die Familie. | |
## Das Morden hört nicht auf | |
Der Spuk würde bald zu Ende sein, glaubten sogar Experten nach Baghdadis | |
Rede. Ein Jahr und Tausende von Toten später hat sich Ernüchterung | |
breitgemacht. Mehr als 25.000 ausländische Kämpfer aus hundert Staaten | |
haben sich dem IS angeschlossen, in zehn Ländern von Nigeria bis Pakistan | |
haben die Extremisten Wilayets (Provinzen) ausgerufen. | |
Ihre Mordspur zieht sich inzwischen über Kontinente. Schiitische Gläubige | |
können selbst in den Golfstaaten nicht mehr ihres Lebens sicher sein, | |
Angehörigen von Minderheiten wie den Jesiden droht die Versklavung und | |
Christen müssen eine „Kopfsteuer“ zahlen. Die professionell gemachten | |
Videos der Extremisten, in denen sie ihre Gewaltorgien zur Schau stellen, | |
haben Methode. Sie sind barbarisches Marketing in eigener Sache, dienen | |
aber auch dazu, die Unterworfenen gefügig zu machen – zumal, wenn ihnen die | |
Regierung, wie im Irak, keine wirkliche Alternative bietet. | |
„Hätte die Regierung die Sunniten auf ihrer Seite, wäre Daaisch schnell | |
erledigt“, sagt der Fernsehkommentator Najem al-Kassab. „Aber sie gibt | |
ihnen ja nicht einmal Waffen. Und die schiitischen Milizen, die ihrerseits | |
Sunniten vertreiben und ihren Besitz rauben, werden immer stärker.“ | |
In Duluijah haben Scheich Abdurrahman und seine Mitkämpfer eines halbes | |
Jahr auf Unterstützung gewartet. Der IS sprengte die einzige Brücke über | |
den Tigris in die Luft. „Nur im Dunkeln konnten wir mit Booten den | |
Belagerungsring durchbrechen.“ | |
## Schiitische Milizen kamen zur Hilfe | |
Im Dezember traf schließlich Hilfe ein, nicht jedoch von der Armee, sondern | |
von den Badr-Einheiten, einer der mächtigsten schiitischen Milizen im Irak, | |
die eng mit Iran verbündet ist. In Duluijah und al-Alam östlich von Tikrit | |
hat das Bündnis zwischen den Jubur und der Miliz den Sieg davongetragen. | |
Andernorts haben die Milizen die Sunniten erst recht in die Arme des IS | |
getrieben, weil sie ihre Rache mehr fürchten als die Extremisten. | |
Nur wenige Sunniten sind Baghdadis Ruf gefolgt, sich im Kalifat | |
niederzulassen. Im Gegenteil: Hunderttausende sind geflohen. Aber Millionen | |
leben weiterhin im Kalifat, und Anzeichen für einen sunnitischen Aufstand | |
gibt es nicht. Den werde es auch nicht geben, sagt der Kommentator Kassab. | |
Die Sunniten stünden gegenüber dem IS weitgehend alleine da, weil ihre | |
gewählten Vertreter zusehends weniger Einfluss hätten. Derweil zementiert | |
das Kalifat seine Macht. Wer sich den selbst ernannten Herrschern | |
widersetzt, wird gnadenlos verfolgt. | |
Die Extremisten haben Hunderte von angeblichen Spionen, Polizisten, | |
Soldaten und Stammeskämpfern ermordet. Frauen dürfen im Kalifat nur | |
verschleiert auf die Straße und Geschäfte müssen während der Gebetszeiten | |
schließen – das ist in Saudi-Arabien freilich nicht anders. | |
## Die Strafen sind drakonisch | |
Alkohol und Zigaretten sind verboten, auch Musikhören ist nicht erlaubt. | |
Wer in eine andere Stadt fahren will, muss seinen Besitz verpfänden als | |
Garantie dafür, dass er zurückkehrt. | |
Überhaupt gibt es für alles und jedes ein Edikt, und die Strafen sind | |
drakonisch. Die frömmlerischen Bürokraten treiben Steuern ein und legen | |
Marktpreise fest. Manches dürfte indes Ökoaktivisten freuen: das Verbot zum | |
Beispiel, mit Dynamit auf Fischfang zu gehen. | |
Und wenn die Extremisten wie in Mossul gegen „Mietwucher“ zu Felde ziehen, | |
erfüllen sie damit eine Forderung der Armen. Darüber hinaus sorgen sie | |
vielerorts dafür, dass die Müllabfuhr und die Krankenhäuser funktionierten. | |
Es ist ähnlich wie in jeder Diktatur: Es gibt keine Freiheiten, dafür | |
Ordnung und Sicherheit. Wer dem Kalifen und seinem bärtigen Gefolge den | |
Treueid schwört, dem winken Ämter und Vergünstigungen. | |
Sunniten, die sich gegen den IS erheben, zahlen dafür einen hohen Preis. | |
Mehr als 120 Tote und über 800 Verletzte haben die Kämpfe in Duluijah | |
allein auf Seiten der Jubur gefordert. Am Rande des Städtchens haben sie | |
einen Märtyrerfriedhof angelegt. Bilder von Männern aller Altersgruppen und | |
Blumen schmücken die Gräber. | |
## Nur noch Trümmerhaufen | |
Die Frontlinie verlief genau an der Kreuzung, die Jubur- und | |
Khazraji-Stammesland voneinander trennt. Die Häuser auf beiden Seiten sind | |
nur noch Trümmerhaufen. | |
Nahe der Frontlinie grillen Männer in einem Innenhof Fisch. Der Geruch von | |
Holzkohle und Gewürzen erfüllt die laue Abendluft. Auf den schmalen Straßen | |
staut sich der Verkehr, Familien flanieren mit ihren herausgeputzten | |
Kindern eine Ladenzeile entlang. | |
Jenseits der Frontlinie ist es dagegen gespenstisch leer. Wie aus fast | |
allen Dörfern zwischen Tikrit und Duluijah, aus denen der IS kürzlich | |
vertrieben wurde, sind die Bewohner aus Khazraji geflohen. | |
Wenn es nach den Jubur aus Duluijah geht, werden sie auch nicht | |
zurückkehren. „Sie haben versucht, von Daaisch zu profitieren“, sagt der | |
Scheich Abdurrahman. „Das werden wir ihnen nie vergeben. Niemals.“ | |
10 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Inga Rogg | |
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