# taz.de -- Tour de France: Verkaufen auf Rädern | |
> Die Frankreich-Rundfahrt ist mehr als Sport. In den drei Wochen wird ein | |
> grandioses kulturelles, soziales und kommerzielles Event inszeniert. | |
Bild: Mal was anderes: ein völlig werbefreier Tour-Teilnehmer. | |
Saint-Jean-de-Maurienne taz | Sie kommen aus den Anden und dem Hochland von | |
Eritrea, aus dem australischen Outback und dem Schwarzwald. Jedes Jahr im | |
Juli kennen sie nur ein Ziel: die Tour de France. Ganzen Familien sind | |
diese drei Wochen im Jahr heilig. Da gibt es keine Alternative. Caravan und | |
Campingplatz statt Sternehotel und Strandvergnügen. Die Tour de France | |
fasziniert. | |
Bourg de Peage, eine kleine Stadt in der Region Drome. Die majestätische | |
Rhone fließt ganz in der Nähe vorbei. Der Ortskern ist mit historischen | |
Bauten idyllisch gestaltet. Wo sonst die Menschen Boule spielen und manch | |
Alter seinen Pastis genießt, ist jetzt ein Kunststoffdorf errichtet. | |
Es ist mit Metallgittern abgesperrt, drinnen sind kleine Stände. Eine | |
Zeltstadt, gefertigt aus gepresstem Öl. Hier laden Toursponsoren ihre Gäste | |
ein, Skoda die besten Autohändler des Jahres, Banken ihre Großkunden. Zum | |
Teil werden Geschäfte gemacht, wie man es sich von den Vip-Logen aus den | |
Stadien erzählt. Zum Teil wird einfach nur Nähe hergestellt. | |
Ein Exheld der Gastgeber sitzt da und blättert in der L‘Equipe. Sein Haar | |
ist weiß, das Trikot gelb: Raymond Poulidor, mittlerweile 79 Jahre alt. Der | |
ewige Zweite der Tour mit acht Podestplätzen insgesamt, der dennoch niemals | |
im Rennen Gelb trug, erfüllt sich seit seinem Karriereende Jahr für Jahr | |
den Lebenstraum, in Gelb bei der Tour zu sein – und erzählt jedem, der es | |
will, seine Geschichte. Irgendjemand, der sie hören will, findet er immer. | |
## Lücke in der Bildergalerie | |
Am Eingang des Startvillages sind Fahnen mit den Gesichtern der großen | |
Sieger aufgebaut. Mit Maurice Garin, dem Schnauzbart aus dem Aostatal, der | |
rechtzeitig vor der ersten Tour de France die französische | |
Staatsbürgerschaft annahm, um sie als Einheimischer gewinnen zu können. | |
Fausto Coppi, der Landsmann, der Italiener blieb, und die Tour gleich zwei | |
Mal gewann, ist auch zu sehen. Ebenso Bernard Hinault und Miguel Indurain, | |
die Fünffachsieger, Greg Lemond, der erste Sieger aus Übersee, Chris | |
Froome, der erste Afrikaner im Gelben Triumph sowie Vorjahressieger | |
Vincenzo Nibali. | |
Eine Lücke freilich klafft in der Bildergalerie zwischen dem letzten Sieg | |
von Indurain und dem ersten von Froome. Kein Pantani, kein Riis, kein | |
Ullrich. Kein Armstrong sowieso, aber auch kein Sastre, kein Evans, kein | |
Contador, kein Wiggins. Die Tour hat ihre ganz eigenen Kriterien, jemandem | |
zum Helden zu erklären oder ihm dies zu verweigern. | |
Außerhalb des Startvillages schlagen derweil die Emotionen hoch. „Brot, | |
Brot, Brot“, schreien die Fans, die hinter Barrieren gesperrt sind, vor | |
denen ein paar Animateure eines Lebensmittelkonzerns halbe Baguettes | |
verteilen. „Brot, Brot“ und „Hier, hier“, schreien sie, als hätten sie… | |
Tage nichts zu essen gehabt oder als wären sie Komparsen einer Verfilmung | |
des Sturms auf die Bastille. | |
## Werbegeschenke fürs Volk | |
All das ist Teil einer Inszenierung, Teil der Werbekarawane. 165 Fahrzeuge | |
fahren der Tour voraus. Oft sind es Sattelschlepper, auf denen drei Meter | |
hohe Löwen, ebenso große Pferde, überdimensionale Wasserflaschen oder auch | |
Radfahrerskulpturen thronen. Aus leistungsstarken Boxen wummern Bässe. | |
Junge Frauen tanzen im Takt dazu; manche in Schwindel erregender Höhe mit | |
Gurten angeleint, damit sie in voller Fahrt ihre Bewegungen ausführen | |
können. | |
Ihre Begleiter werfen Geschenke in die Menge. Und auch hier stürzen sich | |
die Menschen am Straßenrand auf all die Dinge, als seien es Preziosen. | |
„Jeder weiß, dass es sich um Billigkram handelt. Aber jeder agiert auch, | |
als seien es die Kronjuwelen“, schüttelt Brian Holm über die Massenpsychose | |
den Kopf. Der Däne ist sportlicher Leiter bei Tony Martins Etixx-Rennstall. | |
Er war schon bei Team Highroad und T-Mobile aktiv und beendete als Fahrer | |
sieben Frankreichrundfahrten. | |
Holm hat vor allem die Sorge, dass bei den Zuschauern nach vielen Stunden | |
an der Strecke, dem einen oder anderen Glas Wein zu viel, der brennenden | |
Sonne auf dem Schädel und der enthemmenden Begeisterung das Gespür für die | |
wirklichen Gefahren nicht mehr vorhanden ist. | |
„Wenn das Fahrerfeld durch ist, springen die Leute auf die Straße, um eine | |
Flasche im Wert von drei Euro aufzusammeln. Sie gucken nicht nach hinten, | |
wo wir mit den Begleitfahrzeugen ankommen. Sie riskieren ihr Leben. Und ich | |
bin jedes mal froh, wenn ich keinen Menschen erwischt habe“, sagt er – und | |
streicht über die Schrammen und Kratzer seines Dienstfahrzeugs. | |
## Wilder Kampf der Begleitfahrzeuge | |
Die holt er sich im wilden Kampf der Begleitfahrzeuge. „Wenn einer deiner | |
Fahrer vorn einen Platten hat, dann wartest du nicht freundlich, bis du von | |
den anderen 21 Teamfahrzeugen vorbeigelassen wirst, sondern hupst und | |
drängelst und suchst dir die Lücke. Ein Glück, dass wir alle fahren | |
können“, erzählt Holm der taz. Davon bekommen die Zuschauer wenig mit. Im | |
Fernsehen tauchen solche Bilder nicht auf. | |
Sport gibt es natürlich auch. Selbst wenn er beim Gesamtkunstwerk Tour de | |
France nur den geringsten Teil ausmacht. Mehr als eine Stunde dauert es | |
etwa, bis die Werbekarawane an einem vorbei zieht. Mehrere Minuten braucht | |
die Karawane der Mannschaftswagen. Wenige Sekunden nur sind es, bis das | |
Feld angekommen und schon wieder verschwunden ist. | |
Aber wegen des Sports und der Nähe zu ihren Helden kommen Jahr für Jahr | |
mehr Kolumbianer nach Europa und skandieren „Quin, Quin, Quintana“ oder | |
„Pan, Pan, Pantano“. Junge Männer aus Eritrea, die in Belgien Arbeit und | |
Aufenthalt gefunden haben, lassen Arbeit Arbeit und Aufenthaltsgenehmigung | |
Aufenthaltsgenehmigung sein und reisen Daniel Teklehaimanot hinterher, um | |
ihn zu unterstützen. | |
## Leistungssport und Alltagsradfahren | |
All zu nationalistisch geht es bei der Tour übrigens nicht zu, Ein paar | |
Deutsche feuern Greipel, Martin, Geschke, Degenkolb und Buchmann an. Aber | |
auch Belgier winken mit Greipel-Transparenten, weil der Rostocker für einen | |
belgischen Rennstall unterwegs ist. Ein blasser Franzose, Typus | |
verängstigter Angestellter, der auf den ersten Blick zur Bebilderung der | |
Anhängerschaft des Front National getaugt hätte, steht unter einem Banner | |
mit der Aufschrift: „Vorwärts, Afrikaner!“ | |
Das ist auch die Tour. Eine Apparatur, die Begeisterung erzeugt und | |
weiterleitet, die Herzen öffnet, Körper in Bewegung bringt. Manchmal | |
gelingt sogar die Verbindung von Leistungssport und Alltagsradfahren. „Der | |
Grand Depart in Utrecht, wird mir immer in Erinnerung bleiben, weil ich | |
dort alle meine Wege zu Fuß oder mit dem Rad erledigen konnte“, erzählt ein | |
beglückter Tourdirektor Christian Prudhomme. „Das Rad für den Alltag und | |
das Rennrad der Profis zusammenzubringen ist eine großartige Sache.“ | |
Beim Auftaktzeitfahren in Utrecht konnte man tatsächlich vergessen, dass | |
die Tour gewöhnlich ein Unternehmen mit nur 198 Radfahrern, aber 2.400 | |
Autos und Millionen Zuschauern ist, von denen die meisten ebenfalls mit | |
Autos anreisen. Ins Leben gerufen wurde die Tour schließlich von einer | |
Zeitschrift namens L‘Auto. Das ist das Rad der Geschichte. | |
26 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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