# taz.de -- Ökosoziale Trends: Jenseits des Jägerzauns | |
> Eine Studie belegt, dass viele BürgerInnen progressive Politik im Kleinen | |
> umsetzen. Wie links ist das deutsche Neobiedermeier? | |
Bild: Ziemlich cool: Traditionelles wie das Dirndl einfach mal modern deuten. | |
Der Erfolg der Zeitschrift Landlust wird gerne als Beleg für die zunehmende | |
Politikferne der Deutschen zitiert. Über eine Million Naturliebhaber lesen, | |
wie sich Feldblumensträuße arrangieren lassen, wie Fliegenfischen | |
funktioniert und warum Grünkern wieder in ist. | |
Landlust gilt als Zentralorgan des selbstzufriedenen Neobiedermeier der | |
Deutschen. Eine neue Studie wirft nun eine ganz andere Frage auf: Sind | |
Trends wie Landlust in Wirklichkeit links? | |
Duisburger Forscher um den Sozialwissenschaftler Frank Gadinger haben | |
gesellschaftliche Narrative untersucht. Gemeint sind moderne Trends, die | |
bei einer wachsenden Zahl der BürgerInnen gut ankommen, aber von Politik | |
und Qualitätsmedien zu wenig erfasst werden. Die Forscher untersuchten | |
Regionalzeitungen, Magazine aus der Kulturszene, aber auch Internetblogs | |
und soziale Netzwerke. Aus dem Datenwust filterten sie fünf Narrative | |
heraus, welche die Sehnsucht vieler Deutscher nach ökosozialem Fortschritt | |
belegen könnten. | |
Das Narrativ, zu dem das Landlust-Phänomen gehört, lautet: neue | |
Überschaubarkeit. Viele Menschen suchten sich Nischen, um dem immer | |
hektischeren Alltag zeitweise zu entfliehen. So könne man den | |
Landlust-Lebensstil als wertkonservativ abwerten, schreiben die Autoren. | |
Andererseits sei die Suche nach Entschleunigung auch progressiv. | |
## Das Dörfliche neu gedacht | |
Gadinger sagt es so: Beim Trend zur Überschaubarkeit gehe es um Nähe, um | |
Bio, um ein soziales Netz und um Verantwortung. „Wenn immer mehr | |
aufgeschlossene Städter auf dem Erzeugermarkt einkaufen und dort mit dem | |
Bauer reden, dann hat das etwas Dörfliches.“ | |
Galt das Dörfliche früher in progressiv denkenden Bürgermilieus als | |
spießige Jägerzaunhölle, der möglichst schnell zu entfliehen sei, ist es | |
heute wieder in. Es wurde lediglich als moderner Lebensentwurf in Städte | |
transferiert. | |
Überhaupt hätten sich urbane Vorlieben gewandelt, so die Studie. Gadinger | |
verweist etwa auf den Trend bei jungen Leute, auf ein Auto zu verzichten, | |
das früher das Statussymbol schlechthin war: „Es könnte sein, dass das Auto | |
ein ähnliches Schicksal ereilt wie die Zigarette.“ Es sei in Städten | |
einfach nicht mehr cool. | |
In Auftrag gegeben wurde die Studie vom Verein Denkwerk Demokratie, der für | |
ökosoziale Politik wirbt und SPD und Grünen nahe steht. | |
SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi und Grünen-Bundesgeschäftsführer | |
Michael Kellner stellten die Studie am Mittwoch im taz-Cafe vor, eingeladen | |
war auch die Schriftstellerin Tanja Dückers. Beide Politiker gehören | |
jeweils zum linken Flügel ihrer Partei. Insofern war es wenig überraschend, | |
dass sie viele Hinweise darauf entdeckten, dass eine progressive Politik im | |
Kleinen sehr gewünscht sei. | |
## Stöhnen übers Hamsterrad | |
Kapitalismuskritik sei nach wie vor vorhanden, sie äußere sich nur anders, | |
sagte Kellner. „Viele Menschen haben keine Lust mehr auf ideologische | |
Großkonflikte, sie engagieren sich lieber im Konkreten.“ Einfach gesagt: | |
War in den 80er Jahren in progressiven Milieus die Friedensdemo gegen den | |
Nato-Doppelbeschluss en vogue, ist es heute der Kampf um die Ampel vor der | |
Kita oder den zusätzlichen Homeoffice-Tag. „Die Differenz zwischen | |
konservativer und linker Politik ist da“, sagte Kellner. „Aber die | |
klassische Sprache aus den 80ern ist out.“ | |
Als weiteres Narrativ definieren die Forscher den Wunsch nach einer anderen | |
Lebens- und Arbeitswelt. Wer über das Hamsterrad des Arbeitswahnsinns | |
stöhne, beschreibe in Wirklichkeit die negativen Auswirkungen des | |
Kapitalismus aufs tägliche Leben, so die Studie. | |
Die Abschaffung der Präsenzkultur, die Aufwertung von Teilzeit, die | |
Einrichtung von Kitas in Firmen oder der Trend zum Homeoffice: „All dies | |
sind Anzeichen einer sich wandelnden Arbeitskultur“, schreiben die | |
Forscher. Gleichzeitig herrsche das Gefühl vor, bei der Vereinbarkeit von | |
Familie und Beruf einer unentschlossenen Politik gegenüberzustehen. | |
Fahimi sieht darin auch einen Arbeitsauftrag für die SPD. Auf Ängste, die | |
mit der Arbeitswelt verknüpft seien, müsse Politik mit Sicherheitsangeboten | |
reagieren. „Menschen wehren sich gegen ein durchökonomisiertes Leben, indem | |
sie sich in Schutzräume zurückziehen.“ Auch Fahimi widerspricht der oft | |
gehörten These, dass sich Parteien ideologisch immer mehr annähern. | |
„Klassische Konservative wünschen keine Veränderung. Sie halten sie im | |
besten Fall nur aus“, sagte sie. „Linke dagegen fördern Veränderung aktiv… | |
## Verängstigte Gesellschaft | |
Tanja Dückers belebte die Diskussion mit klugen Einwürfen, die die | |
Lobhudelei der Politikprofis etwas herunter dimmten. Sie empfinde die | |
Ergebnisse auch als bedrückend. „Die Studie spiegelt den Eindruck einer | |
verängstigten Gesellschaft“, sagte die Schriftstellerin. Politisch handeln | |
heiße, für Interessen zu kämpfen, die einen nicht selbst beträfen. | |
Oft gehe es in der Studie aber um egoistische Interessen, so Dückers. Mein | |
Homeoffice, mein Schrebergarten, mein Dorf. Dass allerdings das große | |
Engagement vieler Menschen für Flüchtlinge ein gutes Zeichen sei, darauf | |
konnten sich alle drei einigen. | |
Einen offensichtlichen Widerspruch klärte weder die SPD-Generalsekretärin | |
noch das Grünen-Vorstandsmitglied auf. Beide Parteien bewegen sich im | |
Moment in die bürgerliche Mitte, weil sie im Wahlkampf 2013 schlechte | |
Erfahrungen mit linken Rezepten machten – etwa in der Steuer- und | |
Finanzpolitik. | |
Wie passt es zusammen, als SPD einerseits progressives Basisengagement zu | |
loben, andererseits aber die Vorratsdatenspeicherung toll und die | |
Vermögenssteuerung dumm zu finden? Da wären vielleicht mal ein paar | |
Tiefeninterviews im Willy-Brandt-Haus fällig. | |
16 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
SPD | |
Linke | |
Öko | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Grüne | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Wir retten die Welt: Das Folterinstrument der Wahl | |
Für die CO2-Bremse hilft als Peitsche nur die Verankerung im Grundgesetz. | |
Mit der richtigen Werbung könnte sie sogar hip werden. | |
Kolumne Macht: Hilfe! Merkel ist in uns | |
Warum finden Linksliberale nichts irrelevanter als das Thema „Umwelt“ und | |
nichts schlimmer als sogenannte „grünlackierte Schwarze“? | |
Freiheit und Ökomoderne: Dürfen Grüne keine Ökos sein? | |
Schleswig-Holsteins grüner Energiewendeminister Habeck mampft Wurst und | |
kauft auch bei Aldi, weil Öko-Kultur ein „Stigma“ sei. |