# taz.de -- Ein Stadtporträt über Bagdad: Mozart in verbrannt riechender Luft | |
> Die Stadt ist ausgelaugt, von jahrzehntelanger Gewalt und Armut. Und doch | |
> ist sie voller Leben und Legenden, bewahrt sich ihre Würde. | |
Bild: Nach einem Anschlag wird alles schnell beseitigt. Und auf dem Markt verka… | |
Wenn du hier um die dreißig bist, kennst du nur den Krieg. Und der Rest der | |
Welt erscheint dir unendlich schön. Ali Saheb war im Oktober zu einer | |
Konferenz in Rom. Was er Schönes gesehen hat? Neben Kolosseum und Vatikan | |
nennt er – „die U-Bahn“. | |
Denn so ist Bagdad. Plötzlich spürst du, siehst du nichts mehr. Sechs, | |
sieben Sekunden lang. Dann ist alles wieder wie vorher. Lose Metallbleche, | |
herausgerissene Elektrokabel. Dieser unebene Asphalt, übersät von Glas, | |
Splittern, Tür- und Fenstergerippen. Weil es zwischen diesen Häusern, die | |
von 30 Jahren Krieg und Sprengstoff geschwärzt sind, keinen Unterschied | |
zwischen vorher und nachher macht, wenn eine Bombe explodiert. Nur dass | |
jetzt Leichenteile verstreut liegen, Klumpen von Fleisch. | |
Aber das Leben hier hat diese seltsame Angewohnheit, einfach weiterzugehen | |
– oder erst gar nicht innezuhalten. Es ist 18.17 Uhr, als wir in der | |
Saadoun-Straße zu Boden geschleudert werden, ein schiitischer Pilgermarsch | |
führt hier entlang. Aus den Lautsprechern ertönt Korangesang, in den sich | |
der Klang der Sirenen von Krankenwagen mischt. Alles wird schnell | |
beseitigt. Am Stand rechts verkaufen sie schon wieder Orangensaft. Ein, | |
zwei Tweets werden im Netz abgesetzt. Endgültige Bilanz: 12 Tote und 25 | |
Verletzte. Zehn Minuten, und alles ist vorbei. | |
Von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis zu den | |
Konzentrationslagern des Zweiten – jeder Krieg hat sein Symbol. Das Napalm | |
in Vietnam. Die Macheten in Ruanda, die Mörsergranaten und Heckenschützen | |
in Bosnien, die Fassbomben in Syrien. Der Irak ist der Krieg der IED | |
(improvised explosive devices), der Sprengfallen, selbst gebastelten | |
Sprengkörper. Täglich explodiert eine Autobombe, seit Jahren, oft mehr als | |
eine. Sie können überall hochgehen, in Markthallen wie Ministerien, reichen | |
wie armen Vierteln. Deswegen sind sie das Symbol des heutigen Irak. Es geht | |
nicht mehr darum, die Amerikaner zu verjagen. Das Ziel ist, das Land zu | |
destabilisieren. | |
## Wie eine alte Dame | |
Es gibt keine Front mehr im Irak. Keinerlei Unterscheidung zwischen | |
Zivilisten und Kämpfern. Es gibt nur die IED. Überall. | |
Und, nach jeder Explosion, Karim Wasfi, den Leiter des Irakischen | |
Nationalorchesters, der sein Cello aufstellt und spielt. Er füllt die noch | |
verbrannt riechende Luft mit Mozart. So ist Bagdad auch: wie eine alte | |
Dame, die im baufälligen Haus ihrer Familie ausharrt, mit zart zirpender | |
Stimme inmitten von Silber, Teppichen und der ganzen Pracht des verarmten | |
Adels. Nicht synchron mit dem Elend der Welt drum herum. | |
Denn die Stadt ist erschöpft, das stimmt, ausgelaugt von Gewalt und Armut. | |
Aber auch wenn die Kolonnaden der Mutanabbi-Straße nur noch von Draht | |
zusammengehalten werden: Bagdads Hauptverkehrsader ist intakt. Und wirkt | |
manchmal wie Paris, mit seinen Malern, Bildhauern, Dichtern, die ihre | |
jüngsten Arbeiten vorstellen, und alle sind draußen, diskutieren über | |
Politik, Literatur und Philosophie. | |
Saud Murrani ist 29, er arbeitet für ausländische Fernsehsender. | |
„Heutzutage sind Städte oft nur ein Wettstreit der Architekten. Sie sollen | |
die Menschen staunen lassen, aber nehmen sie nicht auf. Bagdad dagegen ist | |
immer noch eine Stadt, die für ihre Bewohner gebaut ist und auf Austausch | |
beruht“, sagt er und weist auf den stadtbekanntesten Kebabverkäufer, den | |
Saftladen, den Kupferschmied, den Teeladen, Geschäfte aller Art – denn | |
Bagdad ist eine Stadt der besonderen Gewürze, des Kunsthandwerks. Es gibt | |
Papageien als Talismane: eine Stadt voller Anekdoten, Legenden und | |
Bedeutungen. Sie ist das Gegenteil von dem, wie sie aussieht. | |
## Am Flussufer steht Scheherazade | |
In Bagdad ist nichts zerstört. Statuen gedachten Schriftstellern und nicht | |
nationalen Helden. „Bis Saddam Hussein an die Macht kam. Er ließ die Helme | |
der Gefallenen im Krieg gegen den Iran zu zwei gekreuzten Schwertern | |
einschmelzen. Das Siegesdenkmal feiert einen Krieg, den im Übrigen niemand | |
gewonnen hat“, erklärt Murrani. „Heutzutage beherrschen die schwarzen | |
Fahnen der Schiiten das Straßenbild. Aber Bagdad ist die Stadt von | |
Tausendundeiner Nacht. Am Flussufer steht Scheherazade als Bronzefigur: | |
Bagdad ist die Stadt, die sich retten kann, weil sie Eroberer für Eroberer | |
weitermacht. Mit einer neuen Geschichte.“ | |
Im Allgemeinen vereinfachen wir den Irak mit seinen 35 Millionen | |
Einwohnern, indem wir ihn in einen schiitischen Süden, eine sunnitische | |
Mitte und einen kurdischen Norden unterteilen. In Wirklichkeit ist jede | |
Stadt, jede Region konfessionell und ethnisch gemischt. Es stimmt, 60 | |
Prozent der Bevölkerung sind Schiiten, aber statt einer Mehrheit und einer | |
Minderheit gibt es oft viele Minderheiten. Überwiegt irgendwo eine Gruppe, | |
dann infolge von Krieg und Vertreibung. Zwangsumsiedlungen, verhinderte | |
Heimkehr – die Homogenität ist künstlich. | |
„Aus diesem Grund“, erklärt Ali Saheb, Koordinator des Irakischen | |
Sozialforums, „kann man den Amerikanern vor allem eins vorwerfen: dass sie | |
ein politisches System wie in Bosnien oder im Libanon eingeführt haben. | |
Jedes Amt, jede Funktion, jeder öffentliche Auftrag ist an Quoten gebunden. | |
Unabhängig von Kompetenzen und Wahlergebnissen, unabhängig von unserem | |
Willen.“ | |
„Die Amerikaner sahen das Saddam-Regime als Vorherrschaft einer | |
sunnitischen Minderheit über die schiitische Mehrheit. Demokratie bedeutete | |
folglich, den Sunniten die Macht zu entreißen. Aber Saddam ging es nicht | |
darum, wer Sunnit oder Schiit war, sondern wer Freund oder Feind“, sagt | |
Saheb. „Wenn man im Irak jemanden kennenlernt, sagt er, bevor seinen Namen | |
nennt, zu welchem Stamm er gehört. Das Problem im Irak ist, dass keiner | |
Iraker ist.“ Und in diesem Land entschieden sich die Amerikaner, plötzlich | |
die Armee aufzulösen. Tausende Männer standen plötzlich auf der Straße, mit | |
nichts als einer Waffe in der Hand. | |
Der Islamische Staat im Irak ist nicht der IS in Syrien. Er ist nicht das | |
kleinere Übel. Er ist Ausdruck der sunnitischen Frustration. Jedes | |
Verbrechen Saddams, jedes Problem des Iraks wird den Sunniten | |
zugeschrieben. Unabhängig von persönlicher Verantwortung. So ist der IS | |
hier entstanden, aufgrund von sozialer Ausgrenzung. „In Mossul wollen sie | |
nicht den Islam, sondern Schulen und Krankenhäuser“, sagt Ali Saheb. „Sie | |
wünschen sich Arbeit. Ein Leben.“ | |
Die internationale Aufmersamkeit gilt der Front, dem Kampf. Aber im Irak | |
gibt es keine Front. Keine Definition, was Sieg und was Niederlage ist. Es | |
gibt kein Lager für oder gegen Assad. Es gibt keine klaren Parteien – bei | |
näherer Betrachtung nicht mal Sunniten oder Schiiten. Es gibt nur Tausende | |
bewaffnete Gruppen. Tausende IED. | |
Theoretisch sorgt die Armee für Sicherheit, die vor einem Jahr, beim | |
Vormarsch der IS, quasi zerfiel, 60.000 Soldaten gegen 2.000 Dschihadisten, | |
die am Wegesrand Waffen und Panzer zurückließen. Die Amerikaner versuchen, | |
sie neu zu organisieren. Das Problem ist, die Soldaten davon zu überzeugen, | |
ihr Leben für einen völlig diskreditierten Staat zu riskieren, der so | |
ineffizient und marode ist, dass die Ausstattung für die ersten 5.000 | |
Rekruten nie an ihrem Ziel eingetroffen ist. | |
Die wahren Herren des Irak sind die schiitischen Milizen. Hat man ein | |
Problem, heißt es: „Ruf jemanden an, den du kennst.“ Für jedes Problem, ob | |
es um Diebstahl geht oder den Wasseranschluss, gibt es, sagen wir, | |
Bezugspunkte. In Bagdad sind es vor allem zwei. Die Badr-Brigaden von Hadi | |
al-Amiri und Asa’ib Ahl al-Haq. In Ermangelung anderer Kräfte sind dies die | |
Good Guys, die gerufen werden, um die Bad Guys des IS zu eliminieren. | |
## Der Schrein von Kadhimiya | |
Für die Schiiten ist Bagdad wichtig. Es beherbergt den Schrein von | |
Kadhimiya, der, ganz aus Gold und Kristall, am Ende der Murad-Straße in der | |
Sonne funkelt. Noch nie ist hier eine Autobombe hochgegangen. Es ist eines | |
der reichsten Viertel Bagdads und das einzige, das von den Shrine-Brigaden | |
kontrolliert wird. Die andere schiitische Bastion Bagdads überwachen sie | |
jedoch nicht: Sadr City. Es ist das Gegenteil von Kadhimiya, so arm, dass | |
das Minarett für den Muezzin nur über eine grüne Tonne über einem | |
Antennenstummel verfügt. Viele Milizen kommen von hier. Waffen verkaufen | |
sie auf der Straße, zwischen Äpfeln. Und nicht nur Kalaschnikows, auch | |
Raketen sind erhältlich. | |
Die öffentlichen Mobilisierungseinheiten zählen etwa 100.000 Kämpfer und | |
haben einen unklaren Status. Die Regierung hat sie gegründet, um dem IS | |
etwas entgegenzusetzen, aber sie unterstehen formal nicht der Armee und | |
werden vom Iran finanziert. „Für uns Journalisten sind sie eine Art | |
Parallelarmee“, sagt Parlamentskorrespondent Nibras al-Mamory. Er | |
korrigiert sich sofort. „Das klingt, als seien dies militärische Einheiten, | |
aber sie sind einfach kriminell.“ | |
Für die Iraker sind die Milizen identisch mit den Dschihadisten. Die | |
Schiiten identisch mit den Sunniten. Gleichermaßen grausam, gleichermaßen | |
unvorhersehbar. Nichts davon dringt in die Grüne Zone vor. Die Mehrzahl der | |
Ausländer, Diplomaten, Berater kommt direkt vom Flughafen hierher. Fast | |
keiner von ihnen war je in Bagdad. Fast niemand war je im Irak. | |
Aber sie sind diejenigen, die entscheiden. Ihre Basis ist ein abstraktes | |
Irak, ein Irak der Landkarten statt der Orte. „Wo bist du?“, kommt eines | |
Abends eine SMS. „Ich bin 30 Grad westlich, ich kann dich abholen.“ | |
Aus dem Italienischen von Sabine Seifert | |
18 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Francesca Borri Borri | |
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