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# taz.de -- Die große WM-Taktikanalyse: Einstürzende Aufbauten
> Bei den besten Nationen der WM in Kanada steht hartes Pressing im
> Vordergrund. Aber am Passspiel im gegnerischen Strafraum hapert es.
Bild: Training der deutschen WM-Mannschaft in Winnipeg
Was wird nicht alles über die aktuell laufende Fußballweltmeisterschaft in
Kanada geschrieben – wenn überhaupt über das Turnier berichtet wird. Es sei
eine Zweiklassengesellschaft. Das spielerische Niveau sei höchstens
durchschnittlich. Doch was stimmt davon? Wo liegen Schwachstellen, wo sind
positive Entwicklungen bei dieser WM zu erkennen?
Rückblick: Deutschland führt am letzten Gruppenspieltag zur Halbzeitpause
mit 1:0 gegen Thailand. Der Gegner verteidigt mit zwei dicht gestaffelten
Viererketten am eigenen Strafraum. Deutschland kommt schwerlich hindurch,
gibt verzweifelt Fernschüsse ab. Während der Halbzeitpause erläutert die
ehemalige Nationalspielerin Kim Kulig in ihrer Rolle als TV-Analystin, die
deutsche Auswahl müsse mehr in die Breite spielen und über Flanken in den
thailändischen Strafraum gelangen – als hätte sie das nicht in der ersten
Halbzeit versucht.
Schlussendlich gewinnt Deutschland mit 4:0. Mehrere Treffer fallen nach
hohen Flanken beziehungsweise Eckstößen. Die körperliche Überlegenheit
gegen die klein gewachsenen Thailänderinnen entscheidet die Partie.
Doch dieser Auftritt steht stellvertretend für eine Problematik bei der
diesjährigen WM. Vermeintlich dominante Teams haben Schwierigkeiten mit
spielerischen Mitteln – über Passkombinationen und effektive Raumaufteilung
– durch die Reihen der Verteidigung zu gelangen. Im ersten und zweiten
Drittel des Spielfeldes lassen sie den Ball noch gut zirkulieren. Nähern
sie sich dem Tor, gehen die Ideen aus. Es wirkt oftmals überhastet.
Das taktische Niveau hat seit der letzten WM vor vier Jahren insgesamt
zugenommen und die Weltspitze wirkt breiter. Eine starke Individualistin
wie Brasiliens Marta kann nicht mehr nach Belieben dominieren. Sie benötigt
ein taktisches Korsett. Daran sind die Südamerikanerinnen letztlich
gescheitert und im Achtelfinale ausgeschieden. Gegenbeispiel ist
Frankreich. Sie konnten im Verlauf der letzten zwei Wochen ihre
Starstürmerin Eugénie Le Sommer besser in Szene setzen.
## Lernen im Klub
Trotz grundsätzlich positiver Entwicklungen unter den etablierten Nationen
hat die Aufstockung der teilnehmenden Teams von 16 auf 24 den Abstand von
oben nach unten vergrößert. Zudem ist der gezeigte Fußball bei einem
Nationenturnier nie so ausgereift wie in den Klubwettbewerben, wenngleich
einige Verbände eine lange Vorbereitungszeit hatten.
An das Level, das der 1. FFC Frankfurt, VfL Wolfsburg oder Paris
Saint-Germain in Europa zeigen, reicht die WM nicht heran. Aber: Die Teams
profitieren von der besseren individual- wie gruppentaktischen Ausbildung
in den Vereinen. Deutlich wird dies beispielsweise an der DFB-Auswahl.
Nationaltrainerin Silvia Neid ist keine herausragende Taktikerin. Sie nutzt
jedoch die Spielintelligenz einer Lena Goeßling oder Alexandra Popp.
Abgesehen davon verkörpert Neid ein Problem bei dieser WM: Die Trainerinnen
und Trainer greifen selten von außen ein, reagieren wenig auf Probleme.
Gibt es offensichtliche Zuordnungsschwierigkeiten, werden Räume falsch
besetzt oder verschieben die Akteure auf dem Rasen nicht richtig, verharren
die meisten auf ihrer Trainerbank.
Ausnahmen gibt es natürlich. Zum Beispiel Amelia Valverde, die erst
28-jährige Nationaltrainerin Costa Ricas. Sie dirigierte in der
Gruppenphase ihr Team, nahm taktische Veränderungen vor, wenn es nötig war.
Am Ende schieden die Lateinamerikanerinnen zusammen mit Spanien in Gruppe E
aus, was zumindest auf den ersten Blick kurios wirken könnte. Denn Costa
Rica und Spanien spielten ansehnlichen Ballbesitzfußball. Anders als
Deutschland oder die USA, die trotz ihrer spielerischen Klasse phasenweise
auf ihre überlegene Physis setzen. Kreativspielerinnen unter Silvia Neid
haben es nicht ohne Grund schwer: vor vier Jahren Lira Alushi, in diesem
Jahr die hochtalentierte Dzsenifer Marozsán.
## Jede Menge Raum allein bewachen
Costa Rica und Spanien wurde derweil ein anderer typischer Schwachpunkt
dieser WM zum Verhängnis. Beide präferieren ein 4-1-4-1 als Grundformation.
Dies bedeutet, hinter dem spielstarken Mittelfeld agiert eine Abräumerin
vor der eigenen Abwehrreihe. Folglich muss diese jede Menge Raum allein
bewachen, insbesondere wenn der Gegner überfallartig angreift. Mit
Weiträumigkeit haben die meisten Spielerinnen und Teams aber ihre Probleme.
Das ist ein zusätzlicher Schlüsselfaktor bei dieser WM.
Aber was bedeutet Weiträumigkeit? Bleiben wir beim Beispiel Spanien.
Schlüsselakteurin ist Verónica Boquete. In den Partien der Gruppenphase
wurde die Mittelfeldspielerin bei einer Vielzahl der Angriffe als
Anspielstation gesucht. Doch nachdem sie den Ball erhalten hatte, befand
sie sich häufig im Eins-gegen-Eins mit viel Freiraum um sich herum.
Das liegt einer Technikerin wie Boquete nicht. Sie setzt sich mit ihrer
Agilität und versierten Ballführung eher in engen Situationen durch, wenn
viele Spielerinnen geballt auf einer Stelle stehen. Ist im Eins-gegen-Eins
der Raum offen, entstehen vermehrt Sprintduelle, wo schnelle
Verteidigerinnen besser mithalten können als in anderen Situationen, in
denen sie mit einem geschickte Haken und Übersteiger überspielt werden
könnten. Schlussendlich konnten die Spanierinnen ihren Star taktisch nicht
richtig einbinden. Sie holten nur einen Punkt aus drei Partien.
## Kollektiv nicht schnell genug
Die meisten Teams neigen dazu, sich nicht geduldig mit kurzen Pässen und
kleinen Dribblings bis zum gegnerischen Strafraum vorzuarbeiten. Zu oft
wird mit langen Bällen operiert, obwohl das Kollektiv nicht schnell genug
nachrücken kann. Bei all den kritischen Worten gibt es auch positive
Aspekte, die in Kanada zu beobachten sind. Das Wörtchen „Pressing“ spielt
mittlerweile eine größere Rolle.
Zunehmend beginnt für viele Teams die Verteidigung bereits in der
gegnerischen Hälfte. Doch dabei gibt es ebenso Unterschiede. Deutschlands
Achtelfinalgegner Schweden versuchte es phasenweise mit aggressivem
Forechecking, jedoch immer mit der klaren Zuordnung Frau gegen Frau.
Schoben sie mit drei Spielerinnen nach vorn, um den Spielaufbau zu stören,
blieben sie in der gegnerischen Hälfte stets in Unterzahl.
Anders Deutschland oder Frankreich. Sie stellen geschickt die Räume zu,
belauern die Passwege. So kann in Unterzahl Druck ausgeübt werden.
Deutschlands Stärke besteht genauso im Gegenpressing – sprich der schnellen
Rückeroberung des Balls. In dieser Form sind lange Pässe in die Spitze
wiederum sinnvoll. Kann das Spielgerät nicht gesichert werden, beginnt der
Kampf um den zweiten Ball. Darin ist die DFB-Auswahl Weltklasse. Der
Neid'sche Fußball ist nicht unbedingt zum Zungeschnalzen. Aber die
durchschlagskräftige Maschinerie aus Deutschland kommt so langsam ins
Rollen. Das Viertelfinalspiel gegen Frankreich ist ein vorgezogenes Finale.
26 Jun 2015
## AUTOREN
Constantin Eckner
## TAGS
Fußball
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Taktik
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