# taz.de -- Filmische Aufarbeitung kirchlicher Kindesmisshandlungen: Brutal bei… | |
> „Freistatt“ erzählt die Geschichte von Jugendlichen, die bis in die | |
> 1970er-Jahre Zwangsarbeit im Moor leisten mussten. | |
Bild: Ungeborgen: Scheidungskind Wolfgang, vom Stiefvater ins Heim abgeschoben.… | |
Der Schlag mit dem Spaten ins Kindergesicht ist der erste Schock in Marc | |
Brummunds Kino-Debüt „Freistatt“, das am heutigen Donnerstag anläuft. Aber | |
obwohl die expliziten Gewaltdarstellungen erschüttern, ist beeindruckender | |
noch das beklemmende Gefühl, hier inmitten der freien Natur eingesperrt zu | |
sein. | |
„Freistatt“ erzählt die Geschichte des 14-jährigen Wolfgang – ein | |
Scheidungskind, das von seinem Stiefvater ins Heim abgeschoben wird. In der | |
Erziehungsanstalt Diakonie Freistatt, auf dem Land zwischen Bremen und | |
Osnabrück, fahren die Zöglinge mit Draisinen aufs Moor. Zum Torfstechen. | |
Die Arbeit ist hart, Misshandlungen durch die Diakone und Mitgefangene sind | |
an der Tagesordnung: Schläge und Psychoterror, mit dem Ziel, die | |
Jugendlichen zu brechen. | |
Die Geschichte ist fiktiv und will als Knast-Genrefilm auch unterhalten. | |
Dahinterstehen Berichte ehemaliger Heimkinder – insbesondere der | |
Hauptfigur: Wolfgang Rosenkötter ist heute 70 Jahre alt und reist derzeit | |
mit Regisseur Marc Brummund auf Filmfestivals, wo sie einen Preis nach dem | |
anderen entgegennehmen. Vieles, das Film-Wolfgang widerfährt, ist | |
Rosenkötters eigene Geschichte. | |
Freistatt war eine Zweigstelle des diakonischen Stiftungswerks Bethel und | |
galt als eines der härtesten Heime der Bundesrepublik. Aber sie war nur | |
eins von vielen: In rund 3.000 geschlossenen Einrichtungen waren bis in die | |
1970er eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche eingesperrt – aus | |
nichtigen Gründen: Schuleschwänzen, Bummeln in der Ausbildung – oder weil | |
Nachbarn den Lebenswandel der Eltern beim Jugendamt denunzierten. | |
Über die Misshandlungen wurde lange geschwiegen. Auch als Anfang des | |
Jahrtausends das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ des Journalisten Peter | |
Wensierski erschien, war zunächst von „Einzelfällen“ die Rede, u nd die | |
Kirchen weigerten sich, die Opfer zu entschädigen. Ausgerechnet Freistatt | |
ist eine rühmliche Ausnahme: Die Diakonie hat die Dreh arbeiten am | |
Originalschauplatz nicht nur gebilligt, sondern auch kostenlos Sachmittel | |
zur Verfügung gestellt. „Ohne diese Unterstützung hätte es den Film nie | |
gegeben“, sagt Brummund. | |
Dass der Film gerade in diesem Heim spielt, hat laut Brummund aber noch | |
einen anderen Grund: das Moor. Im ähnlich berüchtigten Heim Glückstadt etwa | |
hätten die Jugendlichen auf einem engen Dachboden gesessen und Fischernetze | |
geknüpft, sagt der Regisseur. Da bieten die Kamerafahrten durch | |
unwirtliche, aber schöne Landschaft mehr. Und das begreifen Wolfgang und | |
die anderen schnell: Das niedersächsische Flachland mag wie eine | |
grenzenlose Weite erscheinen, an Flucht ist wegen des Morasts aber nicht zu | |
denken. | |
Rosenkötter war Anfang der 60er-Jahre in Freistatt. Der Film spielt später, | |
nicht zufällig im symbolträchtigen Jahr 1968. Auch dieser Kontrast ist Teil | |
des Films: Hier kitschige Flower Power auf deutsch: Mit VW-Bus, bunten | |
Klamotten und amerikanischer Pop-Musik. Dort minderjährige Zwangsarbeiter, | |
die von ihren Aufsehern halb tot geprügelt werden. | |
Brummund führt vor, wie das System Lager funktioniert. Bei den Tätern wird | |
nichts entschuldigt, aber doch viel erklärt: Wie die Jugendlichen verrohen | |
– und wie sie sich unter dem Druck drohender Kollektivstrafen gegenseitig | |
disziplinieren. | |
Zugespitzt oder übertrieben habe man nichts, sagt Brummund. Im Gegenteil: | |
Einige Details aus Rosenkötters Erzählung wurden ausgespart, weil sie für | |
unbedarfte Zuschauer unglaubwürdig seien. So soll das historische Vorbild | |
des Anstaltsleiters im Suff auch mal in SS-Uniform vor die Jugendlichen | |
getreten sein. Kontinuitäten zum Nationalsozialismus zeichnet der Film aber | |
auch ohne dieses Extrem nach: Zum Beispiel, wenn die Jugendlichen auf | |
Befehl eines Diakons „Die Moorsoldaten“ singen - das Lied er Gefangenen des | |
KZ Börgermoor im Emsland. Auch das hat Rosenkötter selbst erlebt. | |
„Man wollte einfach da raus“, sagt Rosenkötter, „manche von uns haben | |
Glassplitter gegessen, damit sie ins Krankenhaus kommen.“ Seine eigene | |
Aufarbeitung hängt mit dem Film zusammen, den er einen „sprechenden Motor | |
der Erinnerung“ nennt. Er hoffe, sagt er, dass der Film eine Hilfe gegen | |
das Vergessen sei. Damals hat kaum jemand den Kindern geglaubt. Bethel sei | |
ein unangreifbarer Name gewesen. Die Heimaufsicht habe nichts hinterfragt, | |
wo die Kirche den Daumen drauf hatte. Rosenkötter selbst hat 40 Jahre über | |
diese Zeit geschwiegen. | |
Da sie Zwangsarbeit leisten mussten, statt zur Schule zu gehen, haben viele | |
Heimkinder keine Schulbildung – psychisch gebrochen waren dann auch nur | |
wenige in der Lage, das als Erwachsene nachzuholen. Rosenkötter hat es | |
allerdings geschafft und Sozialwissenschaften studiert. Er ist heute | |
Vertrauensmann für Heimkinder und gehört zum Hamburger „Aktionsbündnis | |
gegen geschlossene Unterbringung“. | |
Für ihn ist das Kapitel nicht abgeschlossen. Gerade jetzt, wo das Leid von | |
damals zaghaft anerkannt werde und man beginne, geringe Entschädigungen zu | |
zahlen – da werde in Hamburg und Bremen über die geschlossene Unterbringung | |
renitenter Flüchtlingskinder gesprochen. Und das, sagt Rosenkötter, dürfe | |
nie wieder passieren. | |
Auch Regisseur Marc Brummund wurde während der Dreharbeiten von der | |
Aktualität seines Films überrascht – als die Skandale um die | |
Haasenburg-Heime just den Höhepunkt medialer Aufmerksamkeit erreichten. | |
„Warum mache ich hier eigentlich einen historischen Film?“, fragt er. Auch | |
wenn der Film neben Unterhaltung und schließlich historischer Dokumentation | |
eben auch für eine Erfolgsgeschichte geleisteter Aufklärungsarbeit steht, | |
sagt Brummund heute: „Im Kleinen – fürchte ich – kann das immer wieder | |
passieren.“ | |
25 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
## TAGS | |
Kindesmisshandlung | |
Diakonie | |
Heimerziehung | |
Bankraub | |
Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
Heimkinder | |
Osnabrück | |
Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Wolfgang Rosenkötter: Ein Heim-Überlebender ist tot | |
Der Sozialwissenschaftler erlitt selber als Junge üble Methoden im Heim. | |
Nach seinen Berichten entstand der wichtige Aufklärungs-Film Freistatt. | |
Alter Bankräuber vor Gericht: Für fünf Minuten Angst | |
In Halle soll geklärt werden, ob Martin B. geläutert ist oder mit 76 noch | |
einer von ihm lange ausgeübten „Profession“ nachgeht – der des Bankräub… | |
Bremer Heimkinder im Nationalsozialismus: Als Fremde gestorben | |
Die Bremer Diakonie stellt sich ihrer Vergangenheit in einer | |
Forschungsarbeit und einer Ausstellung über Heimkinder im | |
Nationalsozialismus und das Engagement ihrer Peiniger. | |
Heimkinder mit Behinderung: Zweierlei Leid | |
Jahrzehntelang wurden Kinder in Einrichtungen für Behinderte misshandelt. | |
Ursula Lehmann fühlt sich bis heute vom Staat alleingelassen. | |
NS-„Rassereferent“ rettete Tausende Juden: Calmeyers Tricks | |
Ein neues Buch zeigt, wie der Osnabrücker Hans Calmeyer Tausende Juden vor | |
der Deportation bewahrte. Idealisert wird er dabei nicht. | |
Kommentar zum Haasenburg-Verfahren: Jugendhilfe-Gesetz ändern, jetzt! | |
Schmerz ist keine Qual im richtigen Sinne, so begründen die Ermittler die | |
Einstellung des Haasenburg-Verfahrens. Das ist zynisch und falsch. |