# taz.de -- Bremer Heimkinder im Nationalsozialismus: Als Fremde gestorben | |
> Die Bremer Diakonie stellt sich ihrer Vergangenheit in einer | |
> Forschungsarbeit und einer Ausstellung über Heimkinder im | |
> Nationalsozialismus und das Engagement ihrer Peiniger. | |
Bild: Heimkinder als Zwangsarbeiter: „Zöglinge“ um 1935 | |
Bremen taz | Am schwierigsten ist die Aufarbeitung nationalsozialistischer | |
Verbrechen da, wo die Opfer schon vorher aus der Gesellschaft verstoßen | |
waren. Bei den Heimkindern etwa, die keine Familien hatten und denen ihre | |
Mörder schlichtweg keine Zeit ließen, um eigene Spuren in der Welt zu | |
hinterlassen. Auch gibt es zwar Täter*innen, aber kaum jemanden, der | |
unmittelbaren Profit aus der Vernichtung geschlagen hätte: kein Geld also, | |
das seine ermordeten Eigentümer*innen verriete. Umso wichtiger ist | |
Forschungsarbeit, wie sie die Bremer Kulturwissenschaftlerin Gerda | |
Engelbracht betreibt. | |
Ihr soeben erschienenes Buch und die am Wochenende eröffnete | |
Begleitausstellung, „Denn bin ich unter das Jugenamt gekommen“, handeln von | |
der Bremer Jugendfürsorge und Heimerziehung von 1933–1945. Der Titel stammt | |
samt Rechtschreibfehler aus einer Quelle mit Seltenheitswert – nämlich von | |
einem der Kinder selbst. | |
Der 14-jährige Helmut Bödeker hat seinen Lebenslauf geschrieben: Bei der | |
Feldarbeit im Bremer Heim Ellener Hof wird er schwer verletzt und operiert. | |
Jahre später treten epileptische Anfälle auf, er landet in der Bremer | |
Nervenklinik und wird wenig später Opfer der Tötungsanstalt Hadamar. Helmut | |
Bödeker ist einer von acht Jugendlichen, deren kurze Lebenswege in der | |
Ausstellung dokumentiert werden. | |
Die zeigt überhaupt viel Text: Die Bremer Institutionen und Akteure werden | |
vorgestellt, entscheidende Erlasse gezeigt und Briefe, die diese Kinder an | |
ihre Eltern geschrieben habe. Die Anstalten haben sie nie abgeschickt, | |
sondern direkt in die Akten der Kinder gelegt. Es gibt Leerstellen, die | |
wohl bleiben werden: Am 10. September 1942 etwa wird das Mädchen Hilde | |
Reddig laut Vollzugsmeldung der Kriminalpolizei ins | |
Jugendkonzentrationslager Uckermark deportiert – in einem Sammeltransport | |
mit anderen Mädchen, deren Namen vergessen sind. | |
Angestoßen und eng begleitet wurde die Forschungsarbeit von der Diakonie, | |
die sich damit auch ihrer eigenen Geschichte stellt. Tatsächlich sind es | |
nach der Initialzündung durch die Heimkampagne der Außerparlamentarischen | |
Opposition in den 1960ern vor allem die jüngeren Mitarbeiter*innen der | |
Heime, die solche Aufarbeitungen betreiben. | |
Engelbrachts Arbeit zeigt die Kontinuitäten in der Kinderverwahrung sowohl | |
vor als auch nach Hitler. Tatsächlich war die Lage auch vor dem | |
Nationalsozialismus schrecklich: Unterfinanziert und brutal waren die | |
Einrichtungen, wenn auch in großen Abstufungen. | |
Neu war im Nationalsozialismus, dass die Ausgrenzung der Kinder nun einem | |
übergeordneten Ziel diente: der Wahnidee einer deutschen „Rassenhygiene“, | |
dernach „asoziale“ und „unwerte“ Elemente „auszumerzen“ seien. Am | |
sogenannten Erbgesundheitsgericht entschieden Mediziner und Richter über | |
Zwangssterilisation mit dem Ziel, die „Vermehrung unwerten Lebens“ zu | |
stoppen. | |
Eine Episode des Buchs erzählt, wie Franz A. nach einem solchen | |
Sterilisationsurteil mehrfach versucht zu fliehen. Er galt als degeneriert | |
und als homosexuell, weil er selbst von einem Mann vergewaltigt wurde. | |
Einmal wird er in Ritterhude eingefangen, mal in Bremerhaven, dann schafft | |
er es bis Nienburg. | |
Dass ihm der Leiter des St. Petri Waisenhauses, Johann Klüsing, persönlich | |
hinterherfährt, liegt auch daran, dass Franz A. unterwegs erzählt, warum er | |
auf der Flucht ist. Die Erbgesundheitsverfahren unterlagen der | |
Geheimhaltung. Nach seinem letzten erfolglosen Fluchtversuch tötet sich der | |
Junge selbst. Johann Klüsing wird nach Kriegsende leitender Mitarbeiter der | |
Beratungsstelle für Erziehungsschwierigkeiten und gibt Erziehungskurse an | |
der Bremer Volkshochschule. | |
Dennoch: Die Ausstellung sucht nicht nach Skandalen, sondern zeigt | |
detailliert und differenziert, welche unterschiedlichen Rollen die | |
einzelnen Bremer Institutionen spielten. Ein Seitenstrang schlägt den Bogen | |
in die Gegenwart: Im Nebenraum der historischen Arbeiten sind Fotos von | |
heute zu sehen, in denen Jugendliche ihre Heimzimmer in Alten Eichen | |
zeigen: mit zerknüllter Bettwäsche und Videospielkonsolen. Und das ist weit | |
mehr als der Hinweis, dass heute alles besser ist. Weil es so klar und | |
schmerzhaft benennt, was es eigentlich ist, das den Jugendlichen genommen | |
wurde: ein Leben. | |
22 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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