# taz.de -- Kanada bei der Heim-WM 2015: Strategie: dazugehören | |
> Auch nach dem Viertelfinaleinzug lässt die Kritik an den Gastgeberinnen | |
> nicht nach. Vor allem Starspielerin Christine Sinclair ist umstritten. | |
Bild: Hält sein Team zusammen: Kanadas Trainer John Herdman | |
Montreal taz | Es sei nun wirklich an der Zeit, die Kritik einzustellen. | |
Dass selbst ein US-Sportkommentator in der Nachrichtensendung „Sports | |
Center“ nach dem Sieg Kanadas im Achtelfinale so etwas sagt, sagt sehr | |
viel. Nichts sagt es allerdings zunächst über die Begegnung vom Sonntag. | |
Die gewann Kanada 1:0 mit einem Tor von Josee Belanger in der 52. Minute. | |
Die Schweizerinnen hatten nach ihrer beeindruckenden Vorrunde keinen | |
zwingenden Druck aufbauen können – die Kanadierinnen aber auch nicht | |
wesentlich mehr. Sie hatten nur mehr davon, was Trainer John Herdman vor | |
der WM im eigenen Land als Mittel zum Erfolg ausgegeben hatte: Wille, | |
Leidenschaft und Glück. Und außerdem mit Erin McLeod eine klasse | |
Torhüterin. | |
Die überschwängliche Freude darüber, dass das Team der Gastgeberinnen | |
tatsächlich im Viertelfinale steht, und die Hoffnung, es würde sich | |
vielleicht von Spiel zu Spiel noch steigern können, ist verständlich. | |
Sollten die Gastgeberinnen ausscheiden, so die Furcht in Kanada und bei der | |
Fifa, dann könnte diese WM, an Geschichten und großen Spielen noch immer | |
relativ arm, womöglich endgültig aus den Schlagzeilen in die | |
Nachrichtenspalten verbannt werden. | |
Die Stadien in Kanada werden in der K.-o.-Runde zwar voller. Im BC Place | |
Stadium in Vancouver am Sonntag waren es knapp 54.000 – so viele Menschen | |
hatten sich nie zuvor ein Sportereignis mit kanadischer Beteiligung in | |
Kanada angeguckt. Andererseits hatte sich das kanadische Team mit gerade | |
mal zwei Toren für das Achtelfinale qualifiziert. So wenig hatte vorher | |
noch kein Gruppensieger bei einer WM geschossen. Die Kritik an den | |
Leistungen des Teams und an Coach Herdman wurde, wenn oft auch unterhaltsam | |
formuliert, immer lauter. | |
## Heizdeckenverkäufer mit Schwiegersohncharme | |
Trotzdem schafft es der gerade mal 40-jährige Herdman, den Familiengeist zu | |
beschwören. In seinem Team, aber auch im ganzen Land. Der smarte Brite mit | |
dem markanten Seitenscheitel und der auffällig breiten Brust übernahm nach | |
der WM 2011 den Trainerposten bei den Kanadierinnen. Sein verschmitzter | |
Schwiegersohncharme kommt hier gut an. Herdman könnte seinen Fans | |
allerdings auch Heizdecken oder Softeis verkaufen, so sehr schmeichelt er | |
seinen Zuhörern mit unschuldigem Blinzeln, engagiertem Rumzappeln und | |
herzerwärmenden Ansagen. | |
Seine prominenteste Fußballerin, Christine Sinclair, stand in den | |
vergangenen zwei Wochen schwer in der Kritik – ihre Zeit sei vorüber, ein | |
großer Fehler sei es, sie überhaupt noch in der Startelf spielen zu lassen. | |
Herdman aber verteidigt sie: „Sie ist der Stolz unseres Landes, und das | |
wird sie bleiben.“ | |
Gegen die Schweiz war das Stellungsspiel der 32-Jährigen auffällig gut, | |
zudem konnte sie Belanger das entscheidende Tor vorlegen. Ihr Kommentar | |
nach dem Spiel war trotzdem vielsagend: „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, | |
was passiert ist.“ Eigentlich steht Sinclair nur noch auf dem Platz, weil | |
sie halt dazugehört. Weil sie der Star des Gastgeber-Teams ist, das Gesicht | |
der Cola- und der Fifa-Werbung im Fernsehen. | |
Doch das Dazugehören ist Teil von Herdmans Strategie. Neben Sinclair hat er | |
einige Veteranen in die Nationalmannschaft zurückgeholt, wie die Stürmerin | |
Melissa Tancredi oder auch die Torschützin Belanger, die verletzungs- und | |
altersbedingt schon längst inoffiziell in Rente gegangen waren. Die | |
29-jährige Belanger verpasste wegen einer schweren Knieverletzung sowohl | |
die WM 2011 als auch die Olympischen Spiele 2012 und hatte seit 2010 kein | |
Tor mehr geschossen. | |
## Eine 19-Jährige mit Superstar-Potenzial | |
Zu einer Familie gehören aber eben auch Kinder und Kindeskinder. Anders als | |
das älteste Team der WM, die USA, hat Herdman zielstrebig den Nachwuchs | |
aufgebaut. Neben der 17-jährigen Jessie Fleming, die er nicht nur auf der | |
Bank sitzen lässt, hat er mit der 19-jährigen Kadeisha Buchanan einen | |
potenziellen neuen Superstar aufgestellt. Die Verteidigerin mit den | |
schwarz-roten Rastaschopf fällt nicht nur durch ihr lässiges, schnelles und | |
sicheres Spiel auf, sondern auch mit wunderschönen und präzisen Flanken. | |
Buchanan ist eine derartige Wucht, dass viele Kommentatoren der Meinung | |
sind, ihr Talent werde als Verteidigerin verschwendet. Herdman müsse den | |
Platz von Sinclair für sie freimachen. Doch dazu fehlt ihm der Mut. | |
Vielleicht geht aber seine Rechnung auch auf. Herdman setzt vor allem auf | |
Mittelfeldspielerin Sophie Schmidt. Die 26-Jährige ist das Zentrum, um das | |
alles kreist. Sie verbindet – sowohl mit ihrem Alter, aber auch mit ihrem | |
Spiel – die Alten mit den Jungen, den Angriff mit der Verteidigung. Sie | |
rennt von Tor zu Tor, von Ecke zu Ecke, sie ist überall auf dem Spielfeld. | |
Wenn Sinclair die bekannteste, Buchanan die beste, dann ist Schmidt die | |
wichtigste Spielerin in Herdmans Team. „Let’s do it“, lautet die Ansage | |
Herdmans für das Viertelfinale am Samstag. Für den Nachwuchs im kanadischen | |
Nationalteam, vor allem aber auch für diese Weltmeisterschaft wäre es | |
großartig, wenn sie es tatsächlich tun würden. | |
22 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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