# taz.de -- Bildungsabschlüsse für Sinti-Kinder: Wider die Angst der Eltern | |
> Auch wenn der Schulweg nur kurz ist: Dass Kinder aus dem Kieler | |
> Sinti-Wohnprojekt Maro Temm in die Fröbel-Grundschule gehen, ist keine | |
> Selbstverständlichkeit. | |
Bild: Wünschen sich, dass die Kinder, die sie betreuen, am Ende die Schule sch… | |
KIEL taz | Deutschstunde in der dritten Klasse: Durch die Fenster fällt | |
blasses Sonnenlicht, im Raum beugen Kinder sich über die Aufgabe, die Gerd | |
Kleine-Bley ihnen gegeben hat, Klassenlehrer und Leiter der Fröbel-Schule. | |
Jolanda Jermanina Wiegand setzt sich zu Favino und Melino, die sich einen | |
Tisch im hinteren Teil des Klassenzimmers teilen. Die Jungen sprechen leise | |
miteinander, aber auch wenn sie es lauter täten, würden viele in Raum wohl | |
nur ein paar Worte verstehen: Favino und Melino sprechen die Sprache der | |
Sinti, ihre Muttersprache. | |
Favino, der mit zweitem Namen „Arnold“ heißt, ist neun Jahre alt. Melino, | |
Zweitname „Emil“, ist acht. Im Vergleich zu ihren Klassenkameraden, die auf | |
ihren Stühlen hin und her rutschen, lachen und reden, sind die beiden eher | |
still. Dass sie überhaupt da sind, im Unterricht mitmachen - daran haben | |
Jolanda Wiegand und Dajana Kreutz mitgewirkt. Die beiden sind | |
„Bildungsberaterinnen“, und manchmal, sagen sie, fühle sich ihre Aufgabe | |
noch wie ein kleines Wunder an. | |
Sie wohnen selbst in der Siedlung „Maro Temm“ am Rand von Kiel-Gaarden, gar | |
nicht weit weg von der Fröbel-Schule. Viele, die dort leben, haben keine | |
Arbeit - auch weil Schulabschlüsse fehlen. Jolanda Wiegand, 24, erinnert | |
sich noch gut an ihre eigene Schulzeit: „Ich habe gern gelernt, und ich bin | |
eigentlich auch meist da gewesen.“ Dazu habe eine Lehrerin beigetragen, die | |
sich als Mentorin um sie gekümmert habe und um ihre Geschwister, ihre | |
Cousinen und Cousins. Wiegand schloss die Schule ab, absolvierte eine | |
Hotelfachlehre. „Aber manche fehlten oft“, erinnert sie sich. Nicht aus | |
bösem Willen oder Faulheit, sondern aus Angst. | |
Es ist eine Angst, mit der sich viele Eltern in der Siedlung tragen: davor, | |
dass ein Kind auf dem Schulweg verschwindet; vor Entführern, vor Unfällen. | |
„Ich bin auch Vater, ich kenne das“, sagt Schulleiter Kleine-Bley. „Aber | |
nicht in diesem Ausmaß.“ Wiegand und Kreutz zucken mit den Schultern: Ist | |
halt so. | |
Ein Blick in die Geschichte erklärt diese Angst vielleicht zum Teil: Seit | |
über 600 Jahren leben Sinti in Schleswig-Holstein - eine Lübecker Urkunde | |
von 1417 erwähnte erstmals „Zigeuner“, die sich angesiedelt hatten. Aber | |
nicht mal 600 Jahre gemeinsamer Geschichte haben es geschafft, die Gräben | |
zwischen der Minderheit und der Mehrheit ganz zu schließen: „Viele denken, | |
wir kommen wie die Roma aus Rumänien“, sagt Dajana Kreutz, „dabei verstehen | |
wir nicht mal deren Sprache, nur ein paar Wörter klingen wie unsere. Wir | |
leben schon immer hier, Deutschland ist unser Land.“ | |
Dieses Land macht es ihnen nicht eben leicht: Weil die Frauen mit ihrem | |
dunklen Teint auffallen, gibt es immer wieder von ganz alltäglichem | |
Rassismus zu berichten. Und gerade in Wahlkampfzeiten hängen da plötzlich | |
Aufkleber und Hetzplakate von ganz Rechts. Das hält Erinnerungen wach: | |
Dajana Kreutz Großvater war im KZ, ebenso wie Jolanda Wiegands Großmutter. | |
Beide haben überlebt - aber rund 400 Angehörige der Minderheit aus | |
Schleswig-Holstein starben in den Vernichtungslagern. | |
„Das Thema ist lebendig, unsere Kinder interessiert das“, sagt Kreutz. Auch | |
ihr Sohn frage danach. „Alle Sinti-Kinder wissen, was der Holocaust ist“, | |
sagt auch Kleine-Bley. Dennoch: So ganz erklärt auch das nicht die Angst | |
der Eltern von Maro Temm. Es gab schon Mütter, die den ganzen Vormittag im | |
Flur vor dem Klassenraum verbrachten und auf ihre Kinder warteten. Auch ist | |
es ganz normal, dass Väter ihre Kinder abholen kommen, obwohl der Weg nach | |
Hause nur kurz ist. Sinti-Kinder gehen als Gruppe zur Schule - und manchmal | |
gehen sie auch gar nicht. | |
In einem Film über Maro Temm sagt der Landesvorsitzende des Verbandes der | |
Sinti und Roma, Matthäus Weiss, das mit dem Schwänzen liege oft an den | |
Eltern: „Wenn die Kinder sagen, au, mir tut was weh, müssen sie nicht zur | |
Schule. Sicher, wenn ein Kind krank ist, ist es krank. Aber dann muss man | |
auch zum Arzt und es nicht einfach daheim lassen.“ | |
„Die Eltern wissen, dass wir hier sind, also können sie ihre Kinder mit | |
einem guten Gefühl in die Schule schicken“, erklärt Dajana Kreutz. Die | |
25-Jährige ist selbst Mutter, ihr Sohn ist sieben. Sie hatte keine | |
Berufsausbildung, bis sie von jenem Kurs erfuhr, der sie zur | |
Bildungsberaterin qualifizierte. Sie habe, sagt sie, „diesem Projekt alles | |
zu verdanken“. | |
Zwei Jahre dauerte der Kurs. Einmal wöchentlich gab es einen Theorietag an | |
einer Kieler Schule, bei der die Teilnehmenden, fast durchweg Frauen, etwas | |
über kindliche Entwicklung erfuhren, übers Lernen und über Krankheiten. Bei | |
Praktika und Praxistagen schauten sie sich Schulen und Unterricht an. Schon | |
da arbeiteten beide Frauen tageweise an der Fröbel-Schule. Als sie dann | |
richtig anfingen, seien sie einfach ins Lehrerzimmer gegangen und gleich | |
akzeptiert worden, sagt Wiegand: „Inzwischen kennen uns alle und freuen | |
sich, wenn wir da sind.“ | |
Richtig toll finden Melino und Favino die Schule trotzdem nicht. Lieber | |
wären sie zuhause, Filme gucken oder Spiele spielen, sagen sie. Anfangs | |
musste zumindest eine der beiden Bildungsberaterinnen ständig in ihrer Nähe | |
sein, inzwischen können die Jungs auch allein bleiben - das ist ein Erfolg. | |
Die Jungen finden ihre Beraterinnen wenigstens nett: „Wir können mit ihnen | |
in unserer Sprache reden“, sagt Melino. Zuhause sprächen sie nur Romanes, | |
erzählen sie. Nur bei den Hausaufgaben, die sie im Wohnwagen erledigen, | |
benutzten sie wieder die Schulsprache - Deutsch. | |
Der Wohnwagen ist so eine Art Gemeinschaftstreff in Maro Temm. In der | |
Siedlung - entstanden mit viel Eigenbeteiligung der Sinti, aber auch | |
politischer und finanzieller Hilfe der Stadt Kiel und des Landes | |
Schleswig-Holstein -, könnten die Sinti ihre Kultur pflegen, sagen Wiegand | |
und Kreutz. Dazu gehöre, dass keine Tür verschlossen sei, dass immer Essen | |
für unangemeldete Gäste auf dem Herd stehe, dass die Kinder gemeinsam | |
tobten. | |
Eine Festanstellung bedeutet das Bildungsberaterinnen-Projekt noch nicht, | |
aber die Aussichten auf Verlängerung sind gut: Lars Harms, | |
Landtagsabgeordneter der mitregierenden Minderheitenpartei SSW, hat vor | |
Kurzem Maro Temm besucht und den Einsatz der Frauen gelobt: „Genau diese | |
seit Jahren erfolgreiche Arbeit wollen wir mit zusätzlichen Geldern | |
unterstützen.“ 300.000 Euro mehr soll der Verband von der Landesregierung | |
bekommen; er kümmert sich nicht nur um die örtlichen Sinti, sondern auch um | |
die Roma, die zurzeit vor allem aus Osteuropa nach Schleswig-Holstein | |
kommen. | |
Jolanda Wiegand und Dajana Kreutz wünschen sich, dass die Kinder, die sie | |
betreuen, die Schule abschließen. Das gelte auch für ihren eigenen Sohn, | |
sagt Kreutz: „Er soll mich mit meiner Ausbildung und Arbeit als Vorbild | |
sehen.“ In die Kita hat sie ihn nicht gebracht. Schwierig genug sei es | |
gewesen, ihn während der Ausbildung allein lassen zu müssen - das heißt in | |
der Obhut ihrer Familie. Aber wenn der Junge nach den Ferien in die erste | |
Klasse kommt, wird sich Wiegand um ihn kümmern. Das ist bereits abgemacht. | |
22 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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