# taz.de -- Youtube als Therapie: Er redet sich das Leben von der Seele | |
> Sick erzählt auf Youtube alles. Geschichten über Drogen, Knast und | |
> Gewalt. Es könnte so weitergehen, aber das Erzählen holt ihn ein. | |
Bild: In einer WG-Küche produzieren Sick und sein Freund die Serie, die für d… | |
Sick ist zu spät, aber er hat eine Entschuldigung. Die Entschuldigung ist | |
eine Geschichte, weil alles zu einer Geschichte wird bei ihm. Früher saß er | |
oft neben irgendwelchen Onkels, und wenn er hochgeguckt hat, konnte er in | |
ihre Nasen sehen. Da waren Haare, genau wie in ihren Ohren. Dicke Männer | |
mit Nasenhaaren und Ohrenhaaren. „Ich bin ja auch ein bisschen älter jetzt, | |
zweiundvierzig, da muss man aufpassen“, sagt er. Deshalb geht er nun immer | |
zum Barbier, einem Türken, sympathischer Kerl. Um sich die Nasenhaare und | |
die Ohrenhaare wegbrennen zu lassen. Es hat ein bisschen länger gedauert. | |
„Tschuldigung“, sagt er. | |
Es ist ein Tag Anfang Mai. Sick sitzt in einer WG-Küche nicht weit vom | |
Hauptbahnhof Osnabrück, zusammengewürfelte Möbel, eine Spüle voller | |
Geschirr. Er wohnt nicht hier, aber die letzten dreieinhalb Jahre war Sick | |
fast jeden Tag da, auf dem immer gleichen Stuhl an dem grün lasierten | |
Holztisch sitzend, den massiven Küchenschrank im Rücken, zwei Kameras auf | |
sich gerichtet. Und er hat Geschichten erzählt von sich, schonungslos | |
ehrliche Geschichten, wie die von den Nasenhaaren. Nur viel, viel krasser. | |
Und am Ende wird das Erzählen ihn beinahe umgebracht haben. | |
„Shore, Stein, Papier“ – so heißt die YouTube-Serie, in der Sick zwanzig | |
Jahre Drogen und Kriminalität, Asphalt und Beton verarbeitet hat. Shore ist | |
der Straßenname für Heroin, Stein ist Koks und Papier ist Geld. Lange sind | |
es die drei Eckpfeiler seines Lebens. Teilweise über sechshunderttausend | |
Menschen haben die Folgen gesehen, die Grimme-Jury hat sie für einen Award | |
nominiert. Für die Geschichte eines Lebens, das man auf drei aufteilen | |
könnte, und jedes wäre immer noch ein ziemlich kaputtes. | |
„Eigentlich habe ich ja echt nichts gemacht, nur erzählt“, sagt er. Es hö… | |
sich an, als überrasche es ihn selbst, dass es irgendwen interessiert hat. | |
Es stimmt ja auch. Er hat nur erzählt. | |
Wie er Shore raucht das erste Mal, mit 15. Und wie er warme Ohren bekommt | |
davon und wie schön das war. Und davon, wie er erfährt, dass Shore Heroin | |
ist, und wie sauer er auf den Typen war, der ihm das erzählt hat. Weil der | |
seinen Turn kaputt gemacht hat. Er erzählt von Einbrüchen, die immer größer | |
werden, und wie mit dem Geld die Drogen mehr werden. Von Klein-Totti, der | |
auf LSD hängen geblieben ist und den er nie wieder gesehen hat. Von Knast, | |
Flucht, Entzug, Rückfall, Geschäft, Gewalt – Plural, jeweils, und das ist | |
nicht mal alles. Es gibt nicht viel, das man nicht über ihn erfährt, außer | |
seinen echten Namen vielleicht. Aber die Serie ist mehr als nur eine | |
Erzählung. Sie ist eine Reise über 20 Jahre, voller Blut und Dreck, über | |
300 Folgen lang. | |
## Kein Spiel … | |
Heute werden sie das letzte Mal die Kameras aufbauen. Sick hat auserzählt. | |
Es ist ein guter Moment, um zu fragen, was Shore, Stein, Papier mit ihm | |
gemacht hat. Der Punkt, an dem die Serie aus seinem Leben aussteigt, liegt | |
etwas mehr als zehn Jahre zurück. Es ist das Geburtsjahr seiner Tochter, | |
und die Dinge fangen an, sich in die richtige Richtung zu entwickeln. So | |
sagt er das. Nicht, dass alles nur gut gewesen wäre seitdem. Wenn man ihn | |
fragt, wann er das letzte Mal rückfällig war, überlegt er kurz, was er | |
sagen soll, und dann lacht er und sagt: „Irgendwann vor der Serie halt.“ | |
Sucht bleibt Sucht, und dass man das nie wieder losbekommt. Er kann auch | |
heute noch nicht ohne, die Menge an Gras, die er jeden Tag raucht, ist, na | |
ja: beeindruckend. „Aber zumindest den harten Scheiß hab ich in den Griff | |
bekommen.“ | |
Sick sieht auf jeden Fall so aus, als ob. Er ist drahtig und wirkt jünger, | |
als er ist, mit den Tattoos auf dem Unterarm und dem T-Shirt, zwei Nummern | |
zu groß. Ohne Medikation, sagt er, würde es vielleicht nicht gehen und | |
alles wäre wie früher. „Ich würde gern ohne, aber ja. Nee. Geht nicht.“ … | |
nimmt täglich Opiatblocker, die den Suchtdruck hemmen. Deswegen könnte er | |
jetzt auch keine Opiate nehmen, selbst wenn er wollte. Er sagt, es wäre ein | |
zu ekeliger Turn, so wie zwei Züge, die im Schädel aneinander vorbeifahren. | |
Shore, Stein, Papier ist das erste Mal, dass Sick wirklich was zu Ende | |
gebracht hat. Man merkt, dass er stolz ist darauf und darauf, dass es jetzt | |
Leute gibt, die Fotos mit ihm machen. „Ich habe viele Dinge erzählt, die | |
ich vorher noch nie erzählt hab. Das hatte ich alles verdrängt, oder ich | |
hab gelogen. Aber ich dachte auch: das interessiert doch eh niemanden.“ Bis | |
Paul kommt und mit Paul die Serie und mit der Serie die Zuschauer. | |
Paul ist ein Lehramtsstudent, der meistens eine Mütze trägt. Er wohnt in | |
der Wohnung mit der Küche und hat die Interviews geführt. Und weil Paul | |
bohrt und wühlt und weil Sick ehrlich ist, lassen sie auch Dämonen frei, | |
die Sick tief vergraben hatte, unter dicken Schichten von Erinnerungen, die | |
zu den schönen gehören. Es gab dabei aber ein Problem. Paul hatte von | |
Anfang an gesagt, dass Sick eine Gesprächstherapie brauchen würde, aber der | |
wollte nicht und hat gesagt: passt schon. | |
Aber es passte nicht, sie konnten nur ausgraben, aber nicht therapieren, | |
was sie auftaten an Abgründen. Wie auch, ein Student und ein Ex-Junkie auf | |
einer Reise ins Unterbewusstsein, ohne Landkarte. Er hat nur erzählt. Aber | |
es ist Sicks eigene, wahre Geschichte. Und die holt ihn ein. | |
Die dritte Staffel ist Sicks Koks-Phase. Damals ist er 20, er schnupft | |
nicht, sondern spritzt, und Koks spritzen ist eine eigene Liga. „Ich sah | |
aus, Mann“, sagt er und streicht sich über die Arme. Abgemagert, krank, ein | |
Halbtoter, so beschreibt er sich und lächelt, aber mit Augen, die die | |
Fußleisten fixieren. „Ich war grün und blau vom Spritzen, und überall sifft | |
das Blut raus. Das war meine dunkelste Zeit.“ | |
## … sondern Ernst | |
Als er die dritte Staffel zu Ende erzählt hat, braucht er eine Pause, das | |
spüren sie, also fliegt er nach Griechenland. „Am Anfang war ich eigentlich | |
ganz gut drauf“, sagt er, gut gegessen, viel draußen gewesen. Aber dann, | |
eines Morgens, wacht er auf und kann nicht aufhören zu heulen. „Ich habe so | |
viel geheult, dass ich zwischendurch darüber lachen musste, wie viel ich | |
heule.“ Die Sonne schien und das Meer war blau, aber es war November, und | |
in Sick war es dunkel. Sie hatten eigentlich gehofft, dass der Ballast | |
abfällt, wenn er mal rauskommt, dass das Rauschen der Wellen lauter sein | |
würde als die Vergangenheit, die in Sicks Kopf angefangen hat zu trommeln. | |
Stattdessen bricht er zusammen. | |
Es gibt ganz selten einen Moment, in dem Sicks Finger nicht fummeln. | |
Kaffee, Kippe, Apfel, Uhr, an irgendwas. Jetzt nicht. Seine Hände liegen | |
nur da. Und dann sagt er einen Satz, auf den Stille folgt: „Es war echt | |
nicht mehr weit.“ | |
Wenn Sick ein anderer Typ wäre, würde Paul heute vielleicht alleine an | |
diesem grünen Tisch sitzen und sich fragen, wieso Sick keine Hilfe haben | |
wollte. | |
Aber sie sitzen zu zweit hier. Damals sagt Paul zu Sick, dass es gut ist, | |
dass das alles hochgekommen ist. Und dass er sich die Zeit nehmen soll, die | |
er braucht. Was soll er auch sonst sagen. Sick bleibt noch drei Wochen | |
alleine in Griechenland, heulend und von Angst vor sich selbst geplagt. | |
Irgendwann fliegt er zurück, und keine zwei Tage später sitzt er in einem | |
Raum mit dicken Teppichen. Diagnose: schwere Depression. Er bekommt | |
Antidepressiva, und er fängt an, das Vergangene aufzuarbeiten. | |
Notgedrungen. | |
„Irgendwann hat Paul dann einfach gesagt: Wir haben einen Termin, und ich | |
bin halt hin.“ Es war ein Versuch, zu gucken, ob es geht. Sick sagt, dass | |
er sich auch locken lassen wollte. Ein Mal etwas zu Ende bringen. „Am | |
Anfang hatte ich noch so eine Fresse. Gar keinen Bock. Aber mit dem | |
Erzählen kam die Lust, und die Geschichten wurden auch wieder weniger | |
anstrengend.“ | |
Sie drehen noch zwei Staffeln, über ein Jahr lang. Bis heute. | |
Irgendwann baut Paul die Stative auf, Sick bekommt sein Mikrofon, und als | |
das rote Lämpchen leuchtet, nickt Paul, und es ist der Beginn vom Ende | |
einer langen Erzählung. | |
14 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Ruben Rehage | |
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