Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Umgang mit Transsexualität: Das Geschlecht im Gehirn
> Christa S. brachte eine Tochter zur Welt – dachte sie zumindest. Heute
> heißt ihr Kind Julian. Der Weg dorthin war hart. Ein Erfahrungsbericht.
Bild: Ein beliebiges Dorf, in dem jeder Mensch ist wie der andere. Oder auch ni…
Niemand scheint zu bemerken, dass die S-Bahn einfährt. Keine Fahrgäste, die
am Bahnsteig warten, keine Passanten. Nur ein älterer Herr steigt aus und
verschwindet in eine Nebenstraße. Es gibt aufregendere Orte als diesen.
Eine kleine Stadt im Schwarzwald, die Straßen sind sauber, Blumenschmuck
säumt die Balkone, und dichte Hecken schützen vor den Blicken der Nachbarn.
Jeder kennt jeden.
Hier an der Ecke saß Christa Straub* vor etwa anderthalb Jahren mit ihrem
Sohn Julian in einer Pizzeria. Julian war gerade von einer längeren Reise
zurückgekommen, sie wollten sich unterhalten und zusammen abendessen.
Christa Straub dachte zu diesem Zeitpunkt noch, sie säße mit ihrer Tochter
am Tisch. „Mein Kind hat in den letzten Jahren kaum über seine Gefühle
gesprochen, hat meistens nur einsilbige Antworten gegeben“, erinnert sie
sich, „also habe ich an dem Abend einfach mal von mir erzählt und gesagt:
Wenn du was sagen willst, musst du mich unterbrechen“. Ihr Kind hat sie
unterbrochen.
Während sie auf ihre Spaghetti warteten, begann Julian von einem
Psychologen zu erzählen, der auf Transsexualität spezialisiert ist. Wann
dort der nächste Termin frei sei. Und dass Transsexualität etwa in der
siebten Woche im Mutterleib entstehe. Julian musste es nicht aussprechen,
Christa Straub wurde auch so klar: Sie hat vor 22 Jahren keine Tochter zur
Welt gebracht, sondern einen transsexuellen Sohn.
## „Das Wesentliche ist zwischen den Ohren“
Nach dem Gespräch informierte sich Christa über Transsexualität. Sie las
Bücher und tauschte sich in Onlineforen aus. Es begann eine schwierige Zeit
für sie. Aber nicht, weil ihr Sohn transsexuell ist: „Am Anfang hatte ich
zwar das Gefühl, mein Leben wäre auf den Kopf gestellt, aber mein Kind ist
immer noch derselbe Mensch. Das Wesentliche ist ja zwischen den Ohren.“
Viel größere Sorgen bereitet ihr, dass Julian womöglich ein Weg mit vielen
Diskriminierungen bevorsteht, bis er als Mann akzeptiert ist.
Er erzählte davon, dass er seinen Vornamen und seinen Personenstand ändern
lassen will. In seinem Ausweis soll kein Mädchenname mehr stehen, Julian
will vor dem Staat als Mann anerkannt sein. Bis 2011 war dies in
Deutschland nur möglich, wenn die betreffende Person
geschlechtsangleichende Operationen vornehmen hat lassen.
Diesen Passus hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Transsexuellengesetz
(TSG) gestrichen, geblieben ist die Gutachtenpflicht: Transsexuelle
Menschen müssen in Deutschland zwei psychologische Gutachten vorlegen, um
neue Papiere zu bekommen. Sie müssen beweisen, dass sie sich nicht mit dem
Geschlecht identifizieren, dem sie bei der Geburt zugeordnet wurden. Bis zu
einem Jahr kann diese Begutachtung dauern. Ein Prozess, den viele
Transsexuelle als entwürdigend empfinden. Die Fragen der Gutachter gehen
mitunter weit über das Thema Transsexualität hinaus.
Das musste auch Christa Straub feststellen, als sie im Netz
Erfahrungsberichte darüber las. „Eine betroffene Frau schreibt zum
Beispiel, dass sie von einem Gutachter gefragt wurde: Würde es Sie sexuell
erregen, wenn Sie sich vorstellen, mit einem Tier Sex zu haben?“ Sie hält
einen Moment lang inne. Wenn ihr etwas besonders wichtig ist, schließt sie
die Augen und legt den Kopf in den Nacken. Sie sucht nach Worten: „Ich habe
einen wunderbaren Sohn und mir stellen sich die Haare auf, wenn ich daran
denke, dass er sich so einem Prozedere stellen muss.“
## Deutschland hinkt hinterher
Bis vor einem Jahr hat sich Christa mit alldem nicht beschäftigt.
„Transsexualität – das kam in meinem Leben nicht vor“, sagt sie, „und …
ich keinen transsexuellen Sohn hätte, wäre ich wahrscheinlich immer noch
ignorant und gleichgültig.“ Doch seit ihr Sohn sich geoutet hat, ist sie
selbst aktiv geworden. In unzähligen Mails hat sie Politiker aufgefordert,
das deutsche TSG zu überarbeiten.
In anderen Ländern müssen Transsexuelle keine Gutachter mehr von ihrer
Geschlechtszugehörigkeit überzeugen. Die dänische Regierung etwa hat im
Juni 2014 ein Gesetz beschlossen, dem zufolge Transsexuelle nur mehr einen
Antrag stellen und diesen nach sechs Monaten bestätigen müssen, um Vornamen
und Personenstand zu ändern. In Argentinien ist ein ähnliches Gesetz schon
2012 in Kraft getreten.
Deutschland hinkt da deutlich hinterher. „Das Problem dieser Gutachten ist,
dass einem Menschen erst mal nicht geglaubt wird, was er selbst über sein
Geschlecht weiß. Stattdessen zählt, was ein Gutachter über diesen Menschen
denkt“, sagt Kim Schicklang vom Verein Aktion Transsexualität und
Menschenrecht.
## Transsexualität als psychische Störung
Mindestens genauso problematisch: Transsexualität steht immer noch als
psychische Störung im ICD, dem Krankheitsregister der
Weltgesundheitsorganisation, auf das sich Ärzte und Therapeuten berufen.
Das sei notwendig für die Leistungsübernahme der Krankenkassen bei
Hormonbehandlungen oder Operationen, argumentieren Befürworter dieser
Einstufung. „Dabei basiert die Leistungspflicht der Krankenkassen heute auf
Gerichtsurteilen, die transsexuelle Menschen erstritten haben. Dazu
bräuchte man nicht den ICD“, erwidert Kim Schicklang. Trotzdem gilt
weiterhin: Transsexuelle müssen sich eine psychische Störung attestieren
lassen, um offiziell anerkannt zu sein.
Heute weiß Christa, dass auch das Gehirn ein Geschlechtsorgan ist. Dass
manche Menschen eben nicht mit den Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen,
mit denen sich ihr Gehirn identifiziert. Und „dass die ’Verdrahtung des
Gehirns‘ oftmals [den] stärkeren Faktor bei der Bestimmung der
Geschlechtsrollenidentität darstellt“, wie der US-amerikanische
Sexualwissenschaftler Milton Diamond schreibt. Transsexualität bedeutet
gerade nicht, dass ein Mensch sein Geschlecht „ändern“ will. Sondern dass
dieser Mensch endlich in dem Geschlecht leben möchte, mit dem er sich seit
der Geburt identifiziert.
Viele sehen diesen Unterschied nicht. Christa Staub aber sieht, wie
befreiend das Coming-out für ihren Sohn war: „Ich erlebe, wie Julian mit
einer ganz anderen Freude und Wachheit durchs Leben geht.“ In den Jahren
zuvor sei er verschlossener geworden, ging kaum unter Leute, auch seine
Noten ließen nach. „Ich habe mich natürlich gefragt, warum dieses
bezaubernde junge Mädchen sich plötzlich so zurückzieht“, erinnert sie
sich, „damals hat man halt noch Mädchen gesagt“.
## Im Nachhinein macht alles viel mehr Sinn
Heute würde sie vieles anders machen. „Mittlerweile weiß ich, dass man
einem transsexuellen Kind mit pubertätsblockierenden Hormonen eine falsche
Pubertät ersparen kann“, sagt sie. Damals hat sie nicht daran gedacht, dass
ihr Kind transsexuell sein könnte: „In meinen Augen hatte ich halt ein sehr
bubenhaftes Mädchen.“ Schuldgefühle hat sie keine. Stattdessen versucht sie
zu verstehen, wie es ihrem Sohn geht. „Rückblickend bin ich wie eine
Blinde, die Sehen lernt.“
Vor ein paar Tagen haben die Straubs den 80. Geburtstag der Großmutter
gefeiert. Julians Vater und sein Bruder wissen längst, dass er transsexuell
ist. Die Verwandten aber nicht. Einen Nachmittag lang haben sie die alten
Rollen gespielt und Julian bei seinem früheren Namen genannt. Er möchte
selbst entscheiden, wann er sich wem gegenüber outet. Darum heißen Christa
und Julian Straub in Wirklichkeit auch anders als in diesem Text. „Einmal
habe ich versehentlich ’Julian‘ gesagt, aber das hat keiner gemerkt“,
erzählt Christa. Leicht sei ihr die Feier nicht gefallen. „Es stimmt halt
nicht mehr.“
Christa Straub hat die Transsexualität ihres Sohnes auch zu ihrem Thema
gemacht. Nach wie vor schreibt sie an Politiker und kritisiert das TSG.
Julian ist in eine Großstadt gezogen. Raus aus dem Schwarzwald, wo seine
Transsexualität für Aufsehen sorgen würde. Dessen ist sich Christa bewusst.
Trotzdem ist sie erst neulich bei einer Nachbarin überraschend auf
Verständnis gestoßen. Aber auch wenn dem nicht so gewesen wäre: Christa
Straub ist nicht mehr so wichtig, was die Leute denken.
*Name von der Redaktion geändert
24 May 2015
## AUTOREN
Josef Wirnshofer
## TAGS
Transgender
Geschlechter
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Coming-Out
Transgender
Heterosexualität
Gender
Transgender
Transgender
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dänemarks Umgang mit Transsexualität: Keine psychische Krankheit mehr
Als erstes Land weltweit schafft Dänemark die diskriminierende Einordnung
ab. An den Hürden vor einer Geschlechtsumwandlung ändert sich aber nichts.
Schauspielerin über Transsexuelle: „Ich bin ein Proll“
Zazie de Paris plädiert für mehr transsexuelle Menschen in weniger
schrillen Rollen. Ab Herbst spielt sie in der „Lindenstraße“ eine
Trans*frau*.
All genders welcome?: Noch lange nicht normal
Dass nicht jeder auf dieselbe Weise liebt, steht in Hamburgs Schulen auf
den Lehrplänen – aber in den Köpfen hat sich noch nicht viel verändert.
US-Studie zu Transsexualität: Kein Ergebnis einer Hormonstörung
Warum fühlen sich manche Menschen dem anderen Geschlecht zugehörig? Eine
rückständige Erklärung dafür haben Forscher nun jedenfalls widerlegt.
Militärdienst in den USA: Transsexuelle dürfen auch schießen
Das Pentagon erlaubt zukünftig Transsexuellen den Dienst in der Armee. Eine
Arbeitsgruppe soll in sechs Monaten ihre Zulassungsbedingungen ausarbeiten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.