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# taz.de -- Jahrestag des Massakers von Gwangju: Wieso ruhe ich nicht bei ihnen?
> Vor 35 Jahren rebellierte die Bevölkerung der Stadt Gwangju gegen
> Südkoreas Diktatur. Zeitzeugen erzählen von Verlust, Reue und Vergessen.
Bild: „Lange Zeit war es beschämend für mich, dass ich überlebt habe“, s…
SEOUL taz | Wenn Lee Jai-eui seine alten Freunde aus Studententagen
besuchen möchte, dann fährt er mit seinem silbernen Kleinwagen an den
nördlichen Stadtrand von Gwangju, parkt an einem malerischen Berghang unter
Nadelbäumen voll Vogelgezwitscher und geht auf den Friedhof.
Seit 35 Jahren liegen seine einstigen Weggefährten bereits unter der Erde,
zu Dutzenden, fein aufgereiht auf einem saftig grünen Hügel. Wann immer er
zwischen den grauen Grabsteinen hindurchschreitet, begleitet Lee – einen
mittlerweile älteren Herrn mit Karohemd und getönten Brillengläsern – auf
Schritt und Tritt der immer gleiche quälende Gedanke: Wieso ruhe ich nicht
auch bei ihnen?
„Lange Zeit war es beschämend für mich, dass ich überlebt habe“, sagt der
60-Jährige: „Im entscheidenden Moment habe ich meine Freunde im Stich
gelassen. Doch wenn ich nicht gegangen wäre, wer hätte der Nachwelt
erzählen können, was damals wirklich passierte?“
Mit „damals“ bezeichnet Lee das dunkelste Kapitel der südkoreanischen
Nachkriegsgeschichte: Im Mai 1980 taten sich die Studenten und Arbeiter von
Gwangju, einer Millionenstadt im Südwesten der koreanischen Halbinsel,
zusammen: Sie wollten ihre Heimat von der brutalen Militärherrschaft
befreien.
## Ein Wunder der Zeitgeschichte
Der langjährige Diktator Park Chung-hee war im Vorjahr durch ein Attentat
ums Leben gekommen, und die Demonstranten wollten um jeden Preis
verhindern, nun den nächsten Autokraten vorgesetzt zu bekommen. Während der
chaotischen Monate des Umbruchs riss das Militär die Macht an sich. Es
verhängte das Kriegsrecht, setzte das Parlament außer Kraft, schloss die
Universitäten des Landes und ließ Dutzende Oppositionelle verhaften –
darunter auch den späteren Präsidenten Kim Dae-jung.
Manche bezeichnen den Aufstand von Gwangju rückblickend als ein Wunder der
Zeitgeschichte, weil innerhalb weniger Tage ein Sitzstreik aus 600
Studenten auf über 200.000 Demonstranten anwuchs, quer durch alle
Bevölkerungsschichten. In die Schulbücher ging er als entscheidender
Wendepunkt der koreanischen Demokratiebewegung ein. Für den Reporter Kim
Chung-geun ist jedoch das, was er mit eigenen Augen sah, nur mit den
drastischsten aller Kraftwörter zu beschreiben: Massaker, Blitzkrieg,
Menschenjagd.
Als er Gwangju in den Morgenstunden des 17. Mai 1980 erreicht, ist er keine
30 Jahre alt, und doch bereits ein hartgesottener Krisenreporter, der über
alle nennenswerten Studentenunruhen der letzten Jahre berichtet hat.
Ausgerüstet mit Schutzhelm und Gasmaske, begleitet er die Aufständischen
Tag und Nacht. Seine Erlebnisse erschüttern ihn bis ins Mark. „In
Sekundenschnelle wurde ein friedlicher Sitzstreik in eine Hölle auf Erden
verwandelt“, schreibt er später in seinen Memoiren. Willkürlich gingen die
Soldaten da auf die Demonstranten los, ohne Rücksicht auf Jugendliche und
Frauen. Zu Dutzenden stapelten sie deren Körper wie Tierkadaver in ihren
Transportwagen.
„Faszinierende Ferien“ lautete der makabre Militärcode für diesen staatli…
genehmigten Massenmord, bei dem rund 200 Zivilisten auf bestialische Weise
getötet wurden. Während jedoch die Opfer des chinesischen
Tiananmen-Massakers von 1989 seither jedes Jahr außerhalb des chinesischen
Festlands in Leitartikeln und Sondersendungen ausführlich gewürdigt werden,
sind die Toten von Gwangju außerhalb Koreas längst in Vergessenheit
geraten.
## „Nur ein Eintrag im Geschichtsbuch“
Wenn der frühere Student Lee Jae-eui heute durch das Stadtzentrum fährt,
erinnern nur noch wenige Gebäude an damals. Riesige Apartmentsiedlungen
wurden errichtet, Einkaufszentren und Multiplexkinos. Der Buchladen, in dem
sie damals nächtelang debattierten, ist längst verschwunden. Auch vor dem
Landtagsgebäude, das den Demonstranten während des Aufstands als
Hauptquartier diente, stehen dieser Tage bereits die Abrissbirnen.
„Die Jungen von heute wissen kaum mehr Bescheid über das, was damals
passierte“, sagt Lee. Auch bei seinen eigenen zwei Kindern, 24 und 30 Jahre
alt, sei das nicht anders. Viel zu sehr seien sie mit ihren eigenen Sorgen,
dem Konkurrenzkampf um Studien- und Arbeitsplätze beschäftigt. „Sie können
die Ereignisse zwar rational verstehen, doch letztlich bleiben die Toten
für sie nur ein historischer Eintrag im Geschichtsbuch“. Ihr Vater war
jedoch selbst dabei, als sich die Studenten am zweiten Tag der Proteste die
Kontrolle über das Stadtzentrum zurückerobern. In Jeeps patrouillieren sie
durch die weiten Straßenzüge, stimmen, bewaffnet mit Pflastersteinen und
Bambusstöcken, die koreanische Nationalhymne an.
Gegen die Maschinengewehre der Soldaten sollen sie keine Chance haben. Nur
wenige Stunden bevor die Proteste endgültig niedergeschlagen werden, sitzt
der zu diesem Zeitpunkt 25-jährige Lee ein letztes Mal mit den
Studentenführern und Gewerkschaftern zusammen. Im Schutz der örtlichen
Kirchengemeinde beraten sie, was nun zu tun sei. Hitzig debattieren sie die
Gretchenfrage: Wie werden wohl die Amerikaner reagieren?
## Den Diktator hofieren
Damals sind bis zu 50.000 US-Streitkräfte im Süden der koreanischen
Halbinsel stationiert. Südkorea zählt im Kalten Krieg zu den wichtigsten
militärischen Außenposten. Nur wenige Jahre zuvor hat der damalige
Präsident Jimmy Carter gelobt, Menschenrechtsfragen zum Grundpfeiler seiner
Außenpolitik zu machen. Jetzt tut Carter den Aufstand in einem Interview
mit dem US-Sender CNN als „kommunistische Verschwörung“ ab. Der damalige
US-Militärkommandeur John Wickham bezeichnet die Koreaner als „Lemminge,
die jedem folgen würden, solange er nur eine Militäruniform“ trägt.
Wie zur Verhöhnung der Getöteten lädt Ronald Reagan nur acht Monate nach
der Niederschlagung des Aufstands den koreanischen Despoten Chun Doo-hwan
ins Weiße Haus ein – den Mann, der den Schießbefehl gab. Es wird noch
einige Zeit dauern, bis das Regime in Südkorea dem Druck der Bevölkerung
nachgibt und sich politisch öffnet: 1993 kommt der erste zivile Präsident
ins Amt. Zwei Jahre später stehen Exdiktator Chun und sein Nachfolger Roh
Tae-woo wegen Korruption und Hochverrats vor Gericht. Chun wird wegen
seiner Rolle beim Guangju-Massaker zum Tode verurteilt, später aber
begnadigt.
Am Montag jährt sich der Aufstand zum 35. Mal. Lee Jai-eui wird an der
offiziellen Gedenkfeier nicht teilnehmen, fast alle Vertreter der örtlichen
Bürgerrechtsgruppen wollen wegbleiben. Mit Sorge konstatiert er, dass das
politische Klima „wieder schlimmer“ werde. Die konservative Regierung um
Präsidentin Park Geun-hye hat es den Zeitzeugen untersagt, während der
Zeremonie ihr altes Trauerlied anzustimmen.
Auch im Jahr 2015 ist die Paranoia des Kalten Krieges in Südkorea noch
längst nicht passé: Konservative Abgeordnete unterstellen den
Aufständischen von damals, sie seien von Nordkoreas Streitkräften
unterwandert worden und hätten einen Putsch geplant. Stichhaltige Beweise
dafür gibt es nicht.
## Unvergleichliche Szenen
Dem damaligen Kameramann des ARD-Büros in Tokio, Jürgen Hinzpeter, ist zu
verdanken, dass die Ereignisse trotz der strengen Zensur jener Zeit
international bekannt wurden: Er drehte damals die einzigen Videoaufnahmen
von dem Aufstand. Die 16-mm-Rollen konnte er unversehrt außer Landes
bringen, getarnt als aufwendig verpacktes Hochzeitsgeschenk.
„Ich habe über Vietnam berichtet und vom Krieg in Kambodscha, aber was ich
in Gwangju gesehen habe, war unvergleichlich und bewegt mich noch heute
zutiefst. Junge Leute, Schulkinder und Studenten wurden vorsätzlich in den
Kopf geschossen“, sagt er später. Im Jahr 1986 filmt er in Seoul erneut
Protestmärsche und wird dabei von den örtlichen Sicherheitskräften so
brutal zusammengeschlagen, dass er vorzeitig in den Ruhestand gehen muss.
Auch der Reporter Kim Chung-geun kommt in Gwangju nur knapp mit dem Leben
davon. Als er nach einer Woche die Stadt völlig erschöpft auf einem
klapprigen Fahrrad verlässt, gleicht deren Zentrum nur mehr einem
Trümmerfeld. Dorfbewohner am Wegesrand geben Kim zu essen und zu trinken.
Als sie hören, dass er Journalist ist, flehen sie ihn an: „Wissen die
Behörden in Seoul überhaupt, was hier passiert? Bitte berichten Sie den
Leuten, wie die Soldaten die Bewohner von Gwangju reihenweise töten!“
Kim Chung-geun veröffentlichte Mitte der 80er Jahre im Untergrund ein Buch
über die damaligen Ereignisse. Es gilt längst als wichtigstes Zeitdokument.
In der Zeitung wurde kein einziges Wort gedruckt.
18 May 2015
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
Diktatur
Jahrestag
Massaker
Südkorea
Seoul
Aufstand
Südkorea
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