# taz.de -- Mit dem Tuc-Tuc in Bangalore: Indiens Stadt der Zukunft | |
> Die am schnellsten wachsende Stadt des Landes gilt als indisches Silicon | |
> Valley. Bangalore ist Fortschrittsglaube, Wirtschaftswunder und eine | |
> Wundertüte. | |
Bild: Bibliothek in Bangalore | |
Auf den Straßen herrscht Anarchie. Verkehrszeichen und Fahrbahnspuren | |
verkommen zur Bedeutungslosigkeit. Wie in einer Ameisenstraße schlängeln | |
sich Autos, Motorräder und Tuc-Tucs, jene markanten dreirädrigen Taxis, | |
über die hoffnungslos überforderten Verkehrsadern der 5,5-Millionen-Stadt | |
Bangalore, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Karnatakas. Dabei | |
muss scheinbar jeder Richtungswechsel mit einem lauten Hupen angezeigt | |
werden. Und wir wechseln die Richtung häufig. Wie Slalomstangen umkurven | |
wir vor uns fahrende Gefährte und die zahlreichen freilaufenden Kühe. | |
„Good, Sir?“, fragt Rawul Faridpur, während er sich umdreht, den Daumen der | |
geballten Faust hochstreckt und mich freundlich grinsend anguckt. | |
Der 39-jährige Tuc-Tuc-Fahrer stammt aus dem Norden Indiens, aus Panipat | |
unweit der Hauptstadt Neu-Delhi, wo er in ärmsten Verhältnissen aufwuchs. | |
Nicht zuletzt aufgrund der beruflichen Perspektiven, die es ihm | |
ermöglichen, aus dem Kastensystem auszubrechen, konvertierte er - wie viele | |
Inder vor ihm - vom Hinduismus zum Christentum. Mit Tagelöhnerarbeit und | |
durch Betteln sparte er das Geld zusammen, um dann vor rund zehn Jahren mit | |
einem Bündeln an Habseligkeiten im Gepäck ins reiche Bangalore zu siedeln | |
mit seiner Ehefrau Mithu und den beiden Kindern Shemyan und Sujatha. | |
„I will show you the best places in town“, verspricht Rawul, als ich sein | |
Taxi unweit des Leela Palace Hotels anhalte. Ein Hotel, das aufgrund seines | |
palastähnlichen Baustils und der luxuriösen Ausstattung zweifelsohne zu den | |
Attraktionen Bangalores gezählt werden darf. Ich mache es mir auf der | |
Rückbank des Tuc-Tucs bequem, sofern dies überhaupt geht. Denn das | |
schwarzgelbe Taxi ist allenfalls mit besseren Campingsitzen ausgestattet. | |
Die harte, wenig gepolsterte Sitzbank überträgt jede Erschütterung direkt | |
auf die Wirbelsäule. Dafür genieße ich zu beiden Seiten freie Sicht. | |
Und Rawul ist fest entschlossen, mir die Schokoladenseiten von Bangalore | |
zeigen. Einer Stadt, in der weltweit die meisten Motorrädern und -roller | |
registriert sind, einer Stadt, die zu den saubersten Indiens zählt, einer | |
Stadt, die auch nach dem Ab- zug der britischen Kolonialherren unverkennbar | |
westlich geprägt blieb, und die, ob ihrer zahlreichen Grünanlagen und | |
Parks, gerne als Indiens Gartenstadt bezeichnet wird. Daneben trägt die am | |
schnellsten wachsende Stadt des indischen Subkontinents den Beinamen | |
indisches Silicon Valley. Denn nahezu alle namhaften Computer- und | |
Hochtechnologiefirmen sind in den großen Technikparks wie Electronics City | |
oder dem International Technology Park angesiedelt. | |
Allein 150.000 IT-Spezialisten aus aller Herren Länder leben und arbeiten | |
hier. Daneben gilt Bangalore als Zentrum der Biotechnologie sowie der Luft- | |
und Raumfahrtindustrie. Hunderte von Kilometer entfernt von China und zu | |
den Grenzen von Pakistan, an denen es immer wieder vor allem in der | |
Kaschmir-Region zu militärischen Spannungen kommt, siedelte die indische | |
Regierung die Hindustan Aeronautics Limited (HAL) an. Die HAL baut zivile | |
wie militärische Flugzeuge, während die Indian Space Research Organisation | |
erfolgreich Satelliten und Raketen entwickelt und startet. | |
Bereits in den 1950er-Jahren prophezeite Jawaharlal Nehru (1889-1964), dass | |
Bangalore eines Tages Indiens Stadt der Zukunft werden würde. Und der | |
ehemalige Ministerpräsident sollte schließlich Recht behalten. Bangalore | |
ist das Schwungrad der indischen Wirtschaft, die laut Prognosen im Jahre | |
2020 die drittstärkste weltweit nach den USA und China sein wird. Die | |
Wachstumsraten liegen in Bangalore bei über 40 Prozent. Dies spiegelt sich | |
auch in der Tatsache wieder, dass die schnellstwachsende Stadt in Asien in | |
alle Richtungen expandiert. Neben weitläufigen Boulevards und großzügigen | |
Parkanlagen bestimmen daher Baukräne das Stadtbild. Wohn- und Bürokomplexe | |
aus Glas, Stahl und Beton schießen wie Pilze aus dem Boden. „Bangalore is a | |
perfect place“, versichert Rawul. Eine Einschätzung, die auch die | |
britischen Kolonialherren in längst vergangenen Tagen teilten. Wohl auch, | |
weil die Stadt dank ihren Lage auf 920 Meter über dem Meeresspiegel über | |
ideale klimatische Bedingungen verfügt. Nur selten steigen die Temperaturen | |
hier über 30 Grad Celsius. | |
Die Fahrt geht weiter entlang der geschäftigen Haupteinkaufstraßen, der | |
Kempegowda Road und der Mahatma Ghandi Road mit ihren Cyber-Cafés, | |
Discotheken, Fast-Food-Ketten und Boutiquen und durch das belebte | |
Basarviertel Chikpet. Hier herrscht ein unglaubliches Gewusel. Es riecht | |
nach Sandelholz, Gewürzen und orientalischen Düften. Frauen in prächtigen | |
Saris lassen das bunte Treiben zu einem bunten, bewegten Bilderbuch werden. | |
Südwestlich des Markts befindet sich die Sommerresidenz von Tipu Sultan. | |
Der Palast aus dem Jahre 1791 steht in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem | |
sehenswerten Hindu-Tempel. | |
Nächstes Ziel unserer kleinen Stadtrundfahrt ist Lal Bagh, ein botanischer | |
Garten aus dem 18. Jahrhundert. Mit uns steuern unzählige Motorroller, auf | |
denen sich vier- bis fünfköpfige Familien ohne Helm und Nierengurt | |
wahlweise im Reitersitz oder auf dem Schoß des Fahrers quetschen. Denn das | |
100 Hektar große Gelände ist Treffpunkt und Wandelareal für die indische | |
Mittelschicht. Picknick, flanieren, sehen und gesehen werden - und dies | |
zwischen einer der größten Sammlungen seltener Tropen- und | |
Subtropenpflanzen des Landes - sind hier nicht nur an den Wochenenden ein | |
Muss. Liebevoll angelegte Lotos-Teiche, ein Glashaus im britischen Stil | |
sowie eine Reihe an Bäumen, die von Queen Elizabeth und Nikita | |
Chruschtschow angepflanzt wurden, machen den botanischen Garten zu einer | |
Oase der Ruhe inmitten einer boomenden Metropole. Ein zweiter großer Park | |
im Herzen von Bangalore wird hingegen von zahlreichen Verkehrsadern | |
durchzogen. Der liebevoll angelegte Cubbon Park beherbergt das Government | |
Museum mit seinen bis zu 5.000 Jahre alten Ausstellungsstücken aus | |
verschiedenen Herrschaftsperioden südindischer Dynastien. Nur einen | |
Steinwurf entfernt haben die Landesregierung und das Parlament Karnatakas | |
im imposanten Vidhana Soudha, einem 46 Meter hohen Granitgebäude aus dem | |
Jahre 1956, ihren Sitz. Für eine Stadt, die mit Siebenmeilenstiefeln der | |
Zukunft entgegensprintet, ist das Parlamentsgebäude mit seinen 50 Jahren | |
auf dem Buckel fast schon eine historische Besonderheit. Denn eines wird | |
bei der kurzen und kurzweiligen Stadtrundfahrt klar: Bangalore boomt. Man | |
kann der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes beim Wachsen zuschauen. Und | |
egal, an welcher Ecke unser Tuc-Tuc abbiegt, Bangalore ist wie eine | |
Wundertüte. Hinter jeder Biegung gibt es etwas zu entdecken. | |
11 Mar 2006 | |
## AUTOREN | |
Karsten Thilo Raab | |
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