# taz.de -- Buñuel-Retrospektive auf der Berlinale: Der Jahrhundertmann | |
> Surrealismus, Kommunismus, Flucht, neue Medien, Kulturindustrie - Luis | |
> Buñuel hatte mit allen wichtigen Konstellationen des 20. Jahrhunderts zu | |
> tun. | |
Bild: "Die Szene mit dem Auge" - Buñuels "Un chien andalou" | |
Als ich klein war, gab es in der TV-Zeitschrift, die bei uns herumlag, eine | |
der damals schon verbreiteten Debatten über zu viel Gewalt im Fernsehen. | |
Illustriert wurde der Beitrag, der befand, dass unsere Kinder so was nicht | |
sehen sollen und den sich unsere Kinder deswegen natürlich besonders genau | |
ansahen, von einer Leiche in einer Badewanne, deren Gesicht sich gerade | |
auflöste. So ein Bild vergisst man nicht, zumal die Bildunterschrift von | |
einem Verbrecher sprach, der diese Frau gerade in Salzsäure gelegt hatte. | |
Sich in der Badewanne langsam zersetzende Körper. Geil. | |
Zirka fünfzehn Jahre später sah ich die Szene dann im Laufbild. Es handelte | |
sich nicht um einen Verbrecher. Der Mann stand im Mittelpunkt einer | |
psychologischen Groteske: "Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la | |
Cruz", wie der Film auf Deutsch hieß, den Luis Buñuel in Mexiko 1955 | |
gedreht hat, spielte ausschließlich in dessen Kopf, genau wie das | |
verbrecherische Leben kleiner Kinder. Doch bei aller perlenden | |
Leichtigkeit, mit der sich die Farce entfaltet, bleibt doch ein moralisches | |
Motiv zurück. Die Geschichte vom Mord, den jeder begeht, das berühmte dünne | |
Eis, auf dem eine alltägliche, angepasste Persönlichkeit die Pirouetten | |
ihrer Normalität dreht. | |
Der alte Buñuel gab sich dagegen gern als moralfreier Martini-Kenner. | |
Unfassbar trocken mussten sie sein. In den Jahren vor seinem Tod 1983, als | |
die Erste Welt sich der gepflegten Bar zu erinnern begann und die während | |
der Kulturrevolution vergessenen Umgangsformen rekonstruieren wollte, lag | |
er damit genau richtig. Man liebte seinen herben Humor und seine | |
antiideologische Abgeklärtheit. Seine Autobiografie "Mein letzter Seufzer" | |
schaffte es in ihrer auf das Nötigste kondensierten Eleganz auf die Coffee | |
Tables urbaner Aufsteiger. Ihr Ton war knapp und unaufgeregt und dabei | |
aufrichtig. Andere knittrig coole alte Männer wie William S. Burroughs | |
wirkten daneben wie aufgekratzte Dreizehnjährige. | |
Doch so ist Buñuel nicht immer gewesen. Seine Geschichte lässt sich ohne | |
Leidenschaft und Engagement nicht vorstellen. Buñuel war bei jeder | |
wichtigen Bewegung, bei fast allen zentralen Konstellationen des 20. | |
Jahrhunderts beteiligt, in der Politik, in der Kunst, bei der Erforschung | |
der neuen Medien und der Kulturindustrie. Und er stand nicht nur an der Bar | |
und schaute zu. Seine engsten Freunde in den prägenden Jahren in Madrid | |
waren die beiden zentralen Figuren der spanischen Kultur vor dem | |
Bürgerkrieg, das immer wieder verhinderte Liebespaar Salvador Dalí und | |
Federico García Lorca. Die drei trennten sich nie, erinnert sich Buñuel. | |
Aber er war auch mit allen anderen befreundet, die in den letzten Jahren | |
vor der Ausrufung der Zweiten Spanischen Republik in der Hauptstadt Hof | |
hielten. Er kannte die Helden der älteren Generation, Ortega y Gasset, | |
Valle-Inclán und Unamuno, sogar den schon sehr alten "spanischen Flaubert" | |
Benito Pérez Galdós, dessen Werk er später mehrfach verfilmte. Und er hing | |
mit den wichtigsten Altersgenossen ab, von Rafael Alberti, dem | |
linkssurrealistischen Lyriker, der nach dem Exil noch mal kommunistischer | |
Politiker in der Dritten Republik wurde, bis zu Pepin Bello, dem charmanten | |
boy about town, der vor ein paar Tagen über hundertjährig gestorben ist. | |
Beim Kino landete er, wie nach ihm noch so mancher große Auteur, durch das | |
Verfassen von Filmkritiken. Er wollte, mittlerweile zu Studienzwecken in | |
Paris, umsonst ins Kino. Die Technik schaffte er sich durch subalterne Jobs | |
bei Jean Epstein drauf, einem unterbewerteten Meister des frühen | |
französischen Kinos, dem sich die Buñuel-Retro mit einer eigenen | |
Veranstaltung widmet. Buñuel spielt dessen Einflüsse indes herunter. Der | |
Chef überwarf sich jedenfalls mit ihm und warnte ihn vor surrealistischen | |
Neigungen. Kurz darauf, 1929/30, drehte Buñuel - teilweise in umstrittener | |
Koautorschaft mit Salvador Dalí - die beiden Filme, die als die | |
beispielhaften Dokumente eines surrealistischen Kinos gelten: "Un chien | |
andalou" und "LÂge dor". | |
Das Jahrhundertwort "surreal" ist heute ein Allgemeinplatz der | |
Kritikersprache und des Rezipientensmalltalk. Anlässlich von | |
Sciencefiction-, Fantasy- und Gothic-Filmen ist damit fast immer die | |
Inszenierung und Feier ungewöhnlicher, nicht realer Räume gemeint. Die | |
Illusion, etwas als wirklich zu erleben, das nicht wirklich ist. Und | |
tatsächlich beginnt auch "Un chien andalou" mit einem Trick, der eine | |
Illusion erzeugt: eine Hand hält einer Frau das Auge auf und zerschneidet | |
es mit einem Rasiermesser. Im Gegensatz zum Surrealismus labyrinthartiger | |
Sets und irritierender Plansequenzen ergibt sich diese Illusion aber ganz | |
aus der linearen Abfolge der Bilder. Die Ur-Formulierung des | |
surrealistischen Schocks, seiner programmatischen Konfrontation des | |
Unvereinbaren, lautet bei Lautréamont "Begegnung eines Regenschirms mit | |
einer Nähmaschine auf einem Seziertisch". | |
Sie lässt sich als allegorische Vorwegnahme des Prinzips der Montage im | |
Film verstehen. Der im Laufe des Jahrhunderts daher immer mal wieder | |
geäußerte Gedanke, dass Film an sich die surrealistische Kunst sei, wurde | |
von Buñuel und Dalí zum ersten Mal programmatisch gemacht. Aber Buñuel war | |
Eisenstein-Fan genug, um dieses prinzipiell surrealistische Moment der | |
passend gemachten Begegnung des Nichtpassenden in der Montage zu suchen, | |
nicht in einer Geisterbahn-Ästhetik. | |
Der französische Surrealismus, in dessen Umfeld der junge Regisseur | |
verkehrte, war damals eine linke Bewegung, die sich auch immer wieder, | |
meist vergeblich, der Partei andiente. Die erwartete etwas anderes von | |
ihren Künstlern, man nannte es Realismus. Buñuel stand zwar der Partei | |
nicht sehr nahe, aber ein anarchistischer Freund finanzierte ihm einen | |
Dokumentarfilm, der ein realistisches Bild eines der ärmsten Gegenden | |
Europas zeichnen sollte: "Las Hurdes" in der Region Extremadura. Der kurze, | |
eindringliche Film, den Buñuel dort dreht, ist so drastisch nahe an seinem | |
Gegenstand, dass er den Gegensatz von Realismus und Surrealismus mit | |
Schmackes dekonstruiert. Inmitten getreuer dokumentarischer Bilder einer | |
unfassbaren Wirklichkeit verselbständigt sich deren Kraft. Aus | |
symptomatischen Elendsgesichtern werden eigenständige, aber groteske | |
Menschen. Aus Anklage wird Voyeurismus. Heiseres Lachen setzt ein. Schnappt | |
dann zurück in Entsetzen. | |
Wenn sich die Welt zu sehr einer Deutung fügen soll, wehrt sie sich, indem | |
sie ins Groteske kippt. Buñuel, davon spricht Wolfgang Martin Hamdorf im | |
Katalog, war von den Esperpentos des Ramón del Valle-Inclán beeinflusst, | |
einem Genre zugespitzter antibürgerlicher Spottstücke. Doch Valle-Inclán | |
war eine Art Dandy, wenn auch in einer für Spanien typisch abweichenden | |
Ausprägung, wo der Adel nie revolutionär gestürzt wurde, sondern langsam | |
verarmte und zugrunde ging. Seine antibürgerliche Aggression war zugleich | |
Ausdruck einer Nostalgie für alte legitime feudale Verhältnisse und | |
revolutionärer Begeisterung, die für Lenin schwärmte. Auch Buñuel | |
attackierte bürgerliche Sinnstiftung von allen Seiten. Wenn sich eine | |
Geschichte zu sehr beruhigte, spazierte eines seiner berühmten | |
psychedelischen Hühner sinnlos durchs Bild und glotzte fremd. In seinem | |
vorletzten Film fordert eine Bande Flamingos "Nieder mit der Freiheit!" Das | |
richtet sich, so darf man vermuten, gegen die faschistischen Feinde der | |
Freiheit genauso, wie es der weisen Beklopptheit der kleinköpfigen Tiere | |
den Vorzug gegenüber einer entleerten Vokabel gibt. | |
Dennoch haben die Leute "Las Hurdes" richtig verstanden, das heißt seinen | |
linken Impuls. Die Falangisten ermordeten den Geldgeber und setzten den | |
Regisseur auf eine Todesliste. Der wirkte noch eine Weile beim Aufbau der | |
spanischen Filmindustrie in verschiedenen Funktionen mit, beteiligte sich | |
an einem Propagandafilm für die Republik und setzte sich dann in die USA | |
ab. Seinen Job in der Bibliothek des Museum of Modern Art verlor er, | |
nachdem ihn sein alter Kumpel Salvador als Kommunist denunziert hatte. | |
Buñuel ging nach Mexiko. | |
So wurde er der erste Auteur aus einem so genannten Schwellenland. Während | |
der 15 Jahre, die er ausschließlich in Mexiko arbeitete, probierte er alles | |
aus, was mit dieser Filmindustrie möglich war. Mal war da Geld aus Europa, | |
mal aus Hollywood, und dann wieder mussten Telenovela-artige Stoffe | |
verfilmt werden, die plötzlich durch einen seiner abgründigen Einfälle | |
gewürzt wurden. Etwa die sich selbständig machende Hand. Sie kommt schon im | |
"Andalusischen Hund" vor, in "The Beast With Five Fingers" von Robert | |
Florry, an dem er mitgearbeitet hat, dann im "Würgeengel" von 1962 und in | |
einer Kurzgeschichte aus den 40er-Jahren. Vor kurzem hat sich "Shaun, das | |
Schaf" den Einfall ausgeborgt. | |
Viele mexikanische Filme sind one of a kind geblieben, probierten Genres | |
aus, die nie serienfähig wurden. "Los Olvidados", wohl der erste Film über | |
Jugendgangs und Ghettos, zugleich einer der Meilensteine des Neorealismus, | |
überschreitet das italienische Genre zu staubiger, sinnloser Bosheit und | |
drastisch katholischer Sexualität. "La ilusión viaja en tranvía" ist das zu | |
Recht detailverliebte Porträt des Straßenlebens von Mexico City in den | |
50ern. "Èl", Buñuels persönlicher Lieblingsfilm, war eine gefloppte Studie | |
über Maskulinismus, die sehr lange in Jacques Lacan ihren einzigen Fan | |
hatte. Und "La muerte en este jardín" ist ein in den meisten Kopien um | |
circa 40 Minuten gekürztes halluzinogenes Dschungel-Verirr-Drama, das man | |
alleine schon wegen Simone Signoret gesehen haben sollte. | |
Obwohl die mexikanischen Filme Buñuels oft genug rehabilitiert wurden, hat | |
sein europäisches Spätwerk seinen Ruhm geprägt. Einerseits seine | |
Frauenfiguren, andererseits eine Rückkehr zu seiner surrealistischen | |
Trademark stehen in dessen Mittelpunkt. Buñuel hat den sprichwörtlichen | |
männlichen Blick der Kamera nie versteckt. Im grellen Licht von dessen oft | |
übertriebener Inszenierung wird aber nicht nur dessen Funktion im | |
konventionellen Erzählkino deutlich, sondern Frauen im Fadenkreuz des | |
Blickes übernehmen die Handlung: Jeanne Moreau im "Tagebuch einer | |
Kammerzofe", Catherine Deneuve in "Belle de jour" und "Tristana", Silvia | |
Pinal als "Viridiana", als "Walküre" im "Würgeengel" und als Teufel in | |
"Simon del desierto" überschreiten das Mögliche des Kinos der 60er in | |
doppelter Weise. Die Frauen übernehmen nicht einfach die Funktion des | |
handelnden männlichen Helden. Sie werden oft noch greller filmisch so | |
konstruiert wie in anderen Filmen, um dann aber aus dieser Position zu | |
handeln und ein Innenleben zu entwickeln. Sie steigen aus dem Salzsäurebad | |
und sprechen. In seinem letzten Film, "Das obskure Objekt der Begierde" | |
wählt Buñuel dafür eine besonders pointierte Formel. Er lässt die vom | |
begehrenden männlichen Blick objektivierte Frau durchweg von zwei | |
verschiedenen Darstellerinnen spielen. Carole Bouquet und Angela Molina | |
sehen sich nicht ähnlich und sprechen nicht mal dieselbe Sprache. | |
7 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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Feminismus | |
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