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# taz.de -- Eine Stadt wird solar: Die Marburger Öko-Offensive
> Der Marburger Stadtrat macht Ernst: Mit einer neuen Satzung werden
> künftig Bauherren von neuen Häusern verpflichtet, eine Solaranlage zu
> installieren.
Bild: Marburger, zur Sonne!
MARBURG taz Nur der Strand fehlt. In Marburg scheint die Sonne und das seit
Tagen. Am Fluss wird gegrillt, und auch bei geöffnetem Schiebedach wird es
den grölenden Fußballfans im Autokorso nicht zu kühl, wenn sie hupend an
den pitoresken Fachwerkhäusern der Innenstadt vorbeifahren. "Wir haben
viele Dächer und viel Sonne", konstatiert der grüne Bürgermeister Franz
Kahle. "Warum sollen wir die nicht nutzen?" 400 solarthermische Anlagen und
209 Fotovoltaik-Anlagen gibt es heute in der kleinen Studentenstadt. Dem
Bürgermeister ist das aber nicht genug. In 20 Jahren will er auf jedem
Marburger Dach eine solarthermische Anlage sehen.
Deswegen will das Stadtparlament am heutigen Freitag über die Satzung zur
"Verbindlichen Nutzung der Solarenergie in Gebäuden", abstimmen. Wird die
Satzung das Stadtparlament passieren, was bei der rot-grünen Mehrheit als
sicher gilt, muss vom 1. Juli dieses Jahres an jeder Neubau eine
solarthermische Anlage auf dem Dach installieren; je 20 Quadratmeter
Wohnfläche ein Quadratmeter Solarzellen, jedoch mindestens 4 Quadratmeter
pro Anlage. Auch bei größeren Anbauten, beim Austausch von Heizungsanlagen
oder größeren Dachsanierungen ist der Umweltschutz in Zukunft nicht mehr
nur abhängig vom guten Willen der Bauherren, sondern wird zur
Bürgerpflicht; ein bundesweit bisher einmaliges Konzept.
"Das ist ein massiver Eingriff in die Eigentumsfreiheit", monieren die
Gegner wie der Lobbyverband namens Haus und Grund. "Wir sind nicht gegen
den Umweltschutz", stellt Rainer Flatter, Geschäftsführer des
Landesverbandes klar, doch die Satzung sei insofern ein "diktatorisches
Element", da dem Einzelnen die Freiheit genommen werde, selbst darüber zu
bestimmen, wie er heizen möchte.
Franz Kahle, grüner Bürgermeister und gleichzeitig Baudezernent der Stadt
Marburg, versteht die Aufregung über seine Pläne nicht. "Ja, es gibt eine
Diktatur", sagt er schmunzelnd "eine Diktatur der Verhältnisse." Öl- und
Gasreserven gingen zur Neige. "Auch wenn wir nicht wissen wie lange das
dauern wird, spürt das auch jetzt schon jeder Bürger an der Zapfsäule und
auf der Gasrechnung." Erst vergangene Woche gaben die Marburger Stadtwerke
bekannt, dass die Gaspreise um 20 Prozent erhöht werden müssten.
In Marburg selbst merkt man wenig von dem Rummel. Bei 25 Grad und
wolkenlosem Himmel sitzen einige Studierende auf dem historischen
Marktplatz in der Sonne. Von der Solarpflicht habe er noch nichts
mitbekommen, meint Benjamin Stock. "Im Prinzip ist das doch eine sinnvolle
Sache. Menschen, die Häuser bauen können, sollten auch Verantwortung für
die Umwelt übernehmen" meint der 25-Jährige. "Wichtig ist jedoch zu
verhindern, dass die Solarpflicht zu einer weiteren Selektion derjenigen
führt, die es sich überhaupt leisten können, Häuser zu bauen", fügt der
Soziologie-Student hinzu. Jedenfalls wäre ein ausgeklügeltes System
wichtig, welches ausreichende Subventionen für finanziell schwächere
Personen und Projekte gewährleistet.
Das meint auch der Lobby-Verband Haus und Grund. "Vor allem kleine
Hauseigentümer werden massiv finanziell betroffen", beklagt ihr Sprecher
Flatter und fordert zumindest eine Verbesserung der Satzung in dieser
Richtung.
Über ein solches Förderprogramm hat sich die rot-grüne Mehrheit im
Stadtparlament auch schon Gedanken gemacht. Angedacht ist ein Konzept, das
neben den Fördermöglichkeiten des Bundes, wie etwa billige Kredite der
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), weitere 5 Prozent der Kosten
übernimmt. "Der Umstieg auf Solarwärme ist jedoch auch ohne Förderung
wirtschaftlich", betont Bürgermeister Kahle. In 10 bis 15 Jahren hätten
sich die Kosten der Installation amortisiert. "Wir haben viele Dächer und
wir haben viel Sonne, warum sollten wir das nicht nutzen?", fragt er immer
wieder.
In 20 Jahren soll jedes Marburger Dach eine Solaranlage haben, hofft der
Bürgermeister.
Seit Ende vergangenen Jahres wird deswegen an der Satzung gebastelt. Nach
der überarbeitenden Fassung können ersatzweise auch Fotovoltaik-Anlagen
installiert werden, wenn dies besser zum Energiekonzept des Hauses passt.
Auch Kraft-Wärme-Kopplung oder Energieeinsparung sind als Ersatz denkbar,
etwa wenn die Hausdächer überwiegend im Schatten liegen. Unternehmen
schließlich können sich von der solaren Baupflicht befreien lassen, wenn
sie der Stadt ein alternatives Energiekonzept für ihre Gebäude vorlegen.
Gegen diese letzte Ausnahme richtet sich auch die Kritik der Linkspartei
Hessens. "Wir unterstützen zwar die Solarsatzung", meint Hajo Zeller,
Linke-Vorsitzender des Landkreises Marburg-Biedenkopf. "Doch langfristig
ist das zu wenig." Vor allem in der Wärmedämmung müsse noch nachgelegt
werden.
Nichtsdestotrotz muss Bürgermeister Kahle sein Konzept im bundesdeutschen
Blätterwald mehr verteidigen als in der grünen Studentenstadt. Dort sitzen
einige Mütter im Schatten der hohen Bäume des Alten Botanischen Garten im
Herzen Marburgs, während ihre Kinder die Enten im Teich füttern. Auf dem
Brückengeländer hat jemand "Freiraum statt Lehrreich" geschrieben. Bei der
Landtagswahl stimmten 44,4 Prozent der Wähler für die SPD. Fast ein Drittel
der 80.000 Einwohner sind Studierende, ein weiteres Drittel arbeitet an der
Universität.
Der Begründer der "Marburger Schule" war der marxistische
Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, der 1951 an die
Philipps-Universität berufen wurde. Er hatte einst den Passus "Eigentum
verpflichtet" als sozialistisches Element des Grundgesetzes ausgelegt.
20 Jun 2008
## AUTOREN
Anna Dobelmann
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
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