# taz.de -- Ein Bett in Berlin (Teil 5): Klein Vegas im Problemkiez | |
> Wer im Hotel Estrel in Neukölln mit seinen 1.125 Betten absteigt, muss zu | |
> einem Kongress oder hat ein Rundumpaket mit Unterhaltungsshow gebucht. | |
> Eine tolle Mischung. | |
Bild: Teil des Estrel-Towers – nach oben geht's noch weiter. | |
Auf der Sonnenallee tost der Abendverkehr. Es ist heiß, die Tische vor den | |
türkischen und arabischen Cafés sind gut besetzt. Übergewichtige Menschen | |
in Trainingshosen schleppen Lidl-Tüten, junge Mädchen schieben Kinderwägen, | |
Jungmänner blockieren laut telefonierend den Bürgersteig. Aus einer | |
Eckkneipe schallt Schlagermusik. Da taucht am Horizont, hinter dem | |
S-Bahnhof Sonnenallee, ein gläsernes Schlachtschiff auf. Als sei das | |
Hochhaus mit dem spitzen Bug zwischen Schrotthändlern, Döner-Fabriken und | |
Kleinindustrien auf Grund gelaufen. Ein paar Schritte durch die Drehtür - | |
und schon betritt man eine andere Welt, einen anderen Stern: das Estrel | |
Berlin. | |
Die Luft ist angenehm kühl, der Geräuschpegel niedrig, leise klimpert ein | |
Klavier. Weich fällt das Sonnenlicht durch das Glasdach des Innenhofs, der | |
im Presseheft "Piazza" genannt wird. Fünf Restaurants laden die Besucher | |
zum Verweilen ein, von Thai bis gutbürgerlich. Das Hotel bietet außerdem | |
drei Bars, einen Minimarkt, Autoverleih, Fitness-Bereich - aber vor allem: | |
ein riesiges Tagungs- und Kongresszentrum sowie eine eigene | |
Unterhaltungsshow im separaten "Festival Center". Keine Frage: Im Hotel | |
Estrel kann man problemlos einen ganzen Tag verbringen, ohne vor die Tür zu | |
gehen. Ein kleines Las Vegas, wenn auch ohne Spielhölle - mitten im | |
Arme-Leute-Kiez. | |
Im Ristorante Portofino, dem an der Piazza gelegenen Italiener, sind die | |
meisten Tische besetzt. Eine Kellnerin flitzt hin und her, Zeit für eine | |
Auskunft hat sie aber doch. Ja, sie liebe ihre Arbeit. "Kellnerin ist mein | |
Ding, und hier ganz besonders." Es folgt ein überzeugendes Bekenntnis zu | |
den netten Kollegen sowie ein Loblied auf die Klugheit des Hotelgründers | |
und -besitzers Ekkehard Streletzki. Das Estrel ausgerechnet in Neukölln zu | |
bauen, sei einfach "genial" gewesen: "Draußen ist es nicht schön, da | |
bleiben die Leute lieber hier drin." Sie würde es auch so machen, wenn sie | |
hier Gast wäre. | |
Was sie zweifelsohne gerne wäre. Denn die junge Frau arbeitet nicht nur | |
gerne im Estrel, sie findet es auch "sehr schön hier". Ihr begeisterter | |
Blick schweift über die Piazza, wo Lichterketten an sieben Meter hohen | |
Plastik-Ficus-Benjaminis blinken und die Gastronomien im Stile moderner | |
Autobahnraststätten eingerichtet sind: in abenteuerlichen Farb- und | |
Musterkombinationen, von denen Psychologen vermutlich einmal gesagt haben, | |
sie förderten das Wohlbefinden. | |
Ziemlich bunt ist auch der Keramik-Springbrunnen im Zentrum der Piazza. Den | |
ankommenden Hotelgästen gefällt er offensichtlich: Mehrere Reisegruppen | |
fotografieren sich gegenseitig vor dem Kunstwerk. Doch trotz des Rummels | |
fühlt sich die Kellnerin offenbar bemüßigt, etwas zur Auslastung des | |
1.125-Zimmer-Hauses zu sagen. Es ist nämlich gerade "Sommerloch", also gibt | |
es keine Kongresse und Firmentreffen, die sonst einen Großteil des | |
Geschäfts ausmachten. Stattdessen kommen mehr Reisegruppen, und die buchten | |
oft das Komplettprogramm: Halbpension, Show, vielleicht noch die Bootsfahrt | |
vom hoteleigenen Schiffsanleger aus. Dass diese Gruppenreisen vor allem von | |
älteren Menschen gemacht werden, findet die glückliche Kellnerin ebenfalls | |
"schön. Ist doch nett, dass die mal rauskommen." | |
Genau das Richtige für die älteren Semester ist das Beatles-Musical am | |
Abend im Festival Center. Die Cover-Band sieht den Beatles einigermaßen | |
ähnlich, kann die Songs fehlerlos spielen und rasend schnell die Kostüme | |
wechseln. Schon nach zwei, drei Liedern hat die Band die knapp 800 | |
Zuschauer, darunter auch einige unter 50-Jährige, im Griff: Es wird | |
mitgesungen und im Takt geklatscht, was das Zeug hält. | |
Auch der Damenclub am runden Tisch links vom Mittelgang kommt in Schwung: | |
Dauergewellte Haarsträhnen wippen, pralle Brüste wogen unter engen | |
Spaghettiträger-Hemdchen zu "She loves you", rot bemalte Lippen formen | |
Liedzeilen. Die sechs Frauen zwischen 50 und 60 sind Teil einer 50-köpfigen | |
Reisegruppe aus Israel und restlos begeistert - von der Musik, von Berlin, | |
von Deutschland überhaupt. Eine Woche haben sie Zeit für ihre Städtetour, | |
erzählt Anna Shayovich. Am besten gefällt ihr natürlich Berlin. | |
Auch der Showabend im Estrel ist eine "tolle Überraschung" ihres | |
Reiseveranstalters, findet die 53-Jährige. Die Tochter ihres Mannes aus | |
erster Ehe sei nämlich Sängerin und habe gerade in Tel Aviv bei einem | |
Beatles-Musical mitgemacht - unter der Leitung von Beatles-Produzent George | |
Martin. "George Martin!", wiederholt Anna Shayovich mehrmals, als könne sie | |
es selbst kaum glauben. | |
Sie wendet sich wieder Richtung Bühne. Und fügt nach einer Pause hinzu: | |
"Wussten Sie, dass die echten Beatles nie in Israel spielen durften? Die | |
Regierung hatte Angst um die Jugend." Sie schüttelt verständnislos den | |
Kopf. Ihre lackierten Nägel klopfen den Takt zu "Cant buy me love". | |
Nach dem Ende der Show gegen 23 Uhr beginnt der gemütliche Teil der Nacht. | |
Am Tresen der Atrium-Bar mitten auf der Piazza sitzt Georg Christian Muhs | |
bei Pils und Birnenschnaps. Der 53-jährige Geschäftsmann ist Stammgast, | |
übernachtet zweimal die Woche im Estrel, weil seine Berliner Niederlassung | |
in der Nähe liegt. "Es ist ein nettes Hotel, vor allem wegen dem netten | |
Bedienungspersonal." Hier kann er sich wohl fühlen und entspannen nach | |
einem langen Tag harter Arbeit. Muhs findet aber auch: "Das Estrel ist eine | |
Insel im Problemkiez." Seine Mitarbeiter fühlten sich unwohl, wenn sie ihn | |
hier besuchen müssten. "Für sie ist Neukölln ein Angstbezirk, und sie sind | |
froh, wenn sie endlich drin sind im Hotel." | |
Zwischenbilanz vor dem Schlafengehen: In diesem Haus sind offenbar alle | |
froh. Wer ins Estrel kommt, hat keine Probleme oder lässt sie draußen vor | |
der Tür. | |
Die erste Begegnung am nächsten Morgen bestätigt das: Nicht einmal die | |
Putzfrau hat etwas zu meckern, die die 50-Quadratmeter-Suite der Reporterin | |
putzen muss - Wohnzimmer, Schlafzimmer und ein Bad, das größer ist als bei | |
manchen Leuten die Küche. 20 bis 30 Minuten braucht sie zur Reinigung eines | |
Zimmers, erzählt sie. Dafür bekommt sie 2,56 Euro. Je mehr Dreck ein Gast | |
hinterlässt, desto geringer ist also ihr Stundenlohn. "Aber ich mache das | |
jetzt schon drei Jahre und ich bin sehr zufrieden", sagt die mollige | |
Endzwanzigerin mit Berliner Schnauze. | |
Sehr zufrieden ist auch Mihaela Djuranovic. Die Pressesprecherin des Estrel | |
führt den Besuch zum Abschluss durch die "Präsidentensuite" im 18. Stock, | |
die mit den Antiquitäten des Hotelbesitzers Streletzki eingerichtet ist. | |
Ein echter Staatspräsident hat hier bislang zwar nicht genächtigt, gibt sie | |
zu. Denn leider erfülle das Hotel nicht die Top-Sicherheitsanforderungen | |
für hohe Staatsgäste. "Aber die Klinsmanns waren hier, mit Kindern, während | |
der Fußball-WM." Und natürlich viele Firmen-Präsidenten. | |
Dann schwärmt Djuranovic vom wirtschaftlichen Erfolg von Europas größtem | |
"Convention-, Entertainment- und Hotelkomplex". Der ist so überwältigend, | |
dass das Kongresszentrum, nach nicht einmal zehn Jahren, ausgebaut werden | |
soll. Djuranovic steht an einem der vielen Fenster der | |
250-Quadratmeter-Suite und zeigt auf ein leeres Grundstück auf der anderen | |
Seite der Sonnenallee. Dort soll die neue Tagungsstätte hin. "Das Gelände | |
hat Streletzki in weiser Voraussicht damals gleich mitgekauft", erklärt | |
sie. Doch bei allem Erfolg, fährt sie fort, hat er "die Bodenhaftung nie | |
verloren". Von Zeit zu Zeit besucht er sein Estrel "und spricht dann mit | |
allen, vom Management bis zum Küchenpersonal". | |
Überhaupt scheint Streletzki ein famoser Kerl zu sein: Vor ein paar Jahren, | |
erzählt Djuranovic, hat er 40 jungen russischen Künstlern ein Stipendium in | |
Berlin spendiert. Jetzt hängen über 2.000 Kunstwerke im ganzen Hotel, in | |
den Zimmern, auf den Gängen. Und, fährt die Pressesprecherin fort, der | |
Hotelbesitzer bedenkt auch immer wieder soziale Einrichtungen in Neukölln | |
mit großzügigen Spenden. Nicht umsonst habe er 2005 das Verdienstkreuz am | |
Bande verliehen bekommen. | |
Dann ist es Zeit, die Trauminsel zu verlassen. Jenseits der Drehtür brennt | |
die Sonne. Der Kran des Schrottverwerters neben dem Hotel-Biergarten zieht | |
quietschend seine Bahnen. Vom Kanal weht der süßliche Geruch von Fäulnis | |
herüber. Zurück im Leben. | |
18 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Susanne Gannott | |
## TAGS | |
Neukölln | |
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