# taz.de -- Ein Bett in Berlin (Teil 7): Boheme mit Laisser-faire | |
> Es gibt sie noch, die Charlottenburger Etagenpensionen. Eine davon ist | |
> die von Isolde Josipovici. Sie besticht durch altmodisches Flair: | |
> englische Tapeten, schwere Vorhänge, antike Möbel - und die Gastgeberin | |
Bild: Auf dem Zeltplatz bekommt man so einiges mit von seinen Nachbarn | |
Den Charme Charlottenburgs, den soll es geben. Nur, was macht ihn aus? Ist | |
es jene Mischung aus Weltoffenheit und gelangweilter Toleranz, aus | |
großbürgerlichem Trara und schleichender Verarmung? Ist es das | |
In-die-Jahre-Gekommene, das trotzdem offen ist für moderne | |
Gleichgültigkeit? Oder ist es der Hauch Boheme mit einem Schuss | |
Laisser-faire on the rocks? Ist es nicht ganz so, aber auch nicht ganz | |
anders? | |
Wer eintauchen will ins Charlottenburg-Ambiente, wer herausfinden will, was | |
es damit auf sich hat, sollte sein vorübergehendes Zuhause bei Isolde | |
Josipovici in der Pension Kettler suchen. Derzeit humpelt die 62-Jährige, | |
die einmal Mannequin war und bei der jeder Satz mit einem großzügigen | |
"Wissen Sie" samt ausladender Handbewegung mit schön manikürten Fingern | |
beginnt, zur Flügeltür ihrer 250 Quadratmeter großen Wohnung. Ihr mit | |
Pailetten besticktes Folklorekleid und die grauen Locken werden dabei in | |
sanfte Schwünge versetzt. Eine Bandscheibenoperation - fast wäre sie im | |
Rollstuhl gelandet. "Wissen Sie - ich lass mich nicht gehen. Man hat nichts | |
davon, wenn man sich gehen lässt. Sie haben nichts davon, und ich habe | |
nichts davon" - Allerweltsphilosophie. | |
Josipovici bewohnt das Zimmer mit dem großen Balkon in ihrer Etagenpension. | |
Vollgestellt ist es mit Schränken und Vitrinen, Sofas und Sesseln. An den | |
Wänden stehen Bücherregale bis zur Decke, hängen Bilder berühmter und | |
unbekannter Maler. Jedes Fleckchen auf dem Boden ihres Zimmers wird als | |
Ablage benutzt. Kacheln liegen da. Frisch bemalte, die Farbe noch feucht. | |
Harald Wolff heißt der Künstler, er wohnt in Paris. Auf den Kacheln sind | |
Menschen zu sehen, die glücklich und beschwingt wirken. Mal tanzen sie vor | |
dem Fernsehturm, mal küssen sie sich vor dem Brandenburger Tor. | |
Die Kacheln verkauft Josipovici an ihre Gäste als Souvenirs. Das Geld | |
spendet sie für die öffentlichen Brunnen in Berlin, damit diese wieder | |
fließen. "Brunnenfee" nennt man sie deshalb. "Wissen Sie, das geht doch | |
nicht, dass man in dieser schönen Stadt die Brunnen abstellt. Das ist, als | |
verbiete man mir zu atmen." Schon mehr als zehn Jahre geht sie den | |
Stadtoberen mit ihrer penetranten Vorliebe fürs Fließende auf die Nerven. | |
Die Kacheln übrigens, die haben eine besondere Geschichte. Einst zierten | |
sie den Brunnen am Ernst-Reuter-Platz. Als er abgerissen wurde, hat sie sie | |
mitgenommen. | |
Die Pension Kettler gibt es seit mehr als 100 Jahren, fast 40 Jahre davon | |
unter Josipovicis Regie. Das Flair, eine Mischung aus Klassizismus und | |
Biedermeier, aus Zuviel und Zuwenig, aus Orientteppich und Empire, ist der | |
Wirtin zu verdanken. Jedes Zimmer ist einer Berühmtheit gewidmet. Deren | |
Wesen soll sich in den Farben spiegeln. Das Maria-Callas-Zimmer in Altrosa, | |
das Peggy-Guggenheim-Zimmer in Tannengrün, das Toulouse-Lautrec-Zimmer in | |
tiefdunklem Rot. Diese und die anderen vier Zimmer sind mit schweren | |
Vorhängen, mit englischen Tapeten, mit glitzernden Kornleuchtern, mit | |
Plakaten verziert und, bis auf das Schillerzimmer, zugleich mit simplen | |
Standduschen ausgestattet. Letztere sind zumindest an den wasserfesten | |
Seiten ebenfalls mit den teuren Tapeten beklebt. Dazu gibt es alte, schwere | |
Möbel, Chaiselongues und Sofas, Nachtschränke und Holzbetten. Josipovici | |
hat sie in Antiquitätenläden zusammengesucht. "Manche Gäste kommen zu mir, | |
weil sie das Moderne nicht mögen. Wissen Sie, früher hat man noch Dinge | |
gefunden auf Flohmärkten und bei Trödlern." | |
Das Schillerzimmer fällt ein wenig aus dem Rahmen. Es ist das kleinste, | |
wirkt gedrängt und nimmt sich in seinem verblassten Grün bescheiden aus. | |
"Schiller, der ist doch fast im Armenhaus gestorben", erklärt Josipovici | |
das Einfache. Allerdings ist es das einzige Zimmer mit eigenem Balkon und | |
mit Blick in den großen, baumbestandenen Hinterhof. So fällt das Atmen | |
leicht. Und das Knarren der Dielen, wenn die anderen Gäste an der Tür | |
vorbeigehen, wird vom Wind, der sich in den Gardinen verfängt, | |
hinweggefegt. Allerdings läuft man sich selten über den Weg in der Pension. | |
Frühstück gibts auf dem Zimmer. Die Geschäfte gehen auch nicht sonderlich | |
gut. | |
Ein Zimmer, die Nummer 1, ist Lagerfeld gewidmet. Dort lebt Rocco. Seit 21 | |
Jahren. Damals musste der Mann, der sein weißes Haar wie sein Idol Karl | |
Lagerfeld zum Pferdeschwanz bindet, Hals über Kopf die Wohnung verlassen. | |
"Ich musste raus", sagt er, und in seiner Stimme schwingt ein Zittern mit. | |
Er braucht nicht zu sagen, weswegen. Das Tremolo verheißt Streit, verratene | |
Liebe. Rocco, in der Rolle des Geschlagenen. Bei Josipovici ist er hängen | |
geblieben. Ein wenig ist die Pension Kettler so auch ein Chelsea Hotel. | |
Rocco ist auch deshalb hängen geblieben, weil Josipovici ihn zu einer Zeit | |
traf, als sie die Treue eines Freundes gut brauchen konnte. Denn vor 21 | |
Jahren starb ihr Mann. Er war dreimal so alt wie sie, als sie ihn mit 18 | |
kennenlernte. Leon Josipovici, Kunsthändler, Dandy, Überlebender des | |
Holocaust. In Saint Cyrien in Frankreich war er interniert. Vor nicht allzu | |
langer Zeit bekam sie ein Buch geschenkt, in dem die Namen der Internierten | |
aufgelistet sind. Vorn auf dem Umschlag steht ein Mann lässig und in feinem | |
Zwirn vor dem französischen Polizisten, der Personalien aufnimmt. "Das ist | |
doch Bubi!, hab ich geschrien. Kalt und heiß wurde mir." Bubi war die Liebe | |
ihres Lebens. Nur ein kleines Bild von ihm und ihr hängt im 40 Meter langen | |
Flur, der ansonsten vollgepackt ist mit Kunst. | |
Mit Josipovici zog sie einen Monat nach dem Mauerbau nach Berlin. "Ich hab | |
die Stadt sofort geliebt." Ihr kommen die Tränen, wenn sie daran denkt, wie | |
man Berlin nach dem Krieg wieder Leben eingehaucht hat. Josipovici ist | |
offen für große Gefühle. Liebe, Wehmut, Leidenschaft - sie will sie spüren. | |
Essenz des Lebens. "Ich habe meinen Mann auch noch geliebt, als er schon | |
Parkinson und Alzheimer hatte." Und sie schlecht behandelte. Sie pflegte | |
ihn trotzdem. Rocco, kein Kunsthändler, aber einer, der mit Kunstdrucken | |
handelte, zog kurz nach seinem Tod ein. "Zuerst war er ein Gast. Einem Gast | |
erzählt man nicht, was einen bewegt", sagt Josipovici. Rocco stellte keine | |
Fragen, aber er war da. Umgekehrt will er auch nicht, dass man ihm Fragen | |
stellt. Kommt man ihm zu nahe, geht er. | |
Mit ihrem Mann hat Josipovici, die Schöne, die Leidenschaftliche mit den | |
dunklen, großen Augen, dem sinnlichen Mund, die Welt gesehen. Luxus, | |
Fünfsternehotels, Jetset, livrierte Diener, große Namen. Das Leben musste | |
aufgesaugt werden nach dem Holocaust. Trotzdem: Flüchtig ist es geblieben. | |
Seine Frau war pragmatischer. "Steck nicht so viel ins Bleiben", sagte er, | |
als sie anfing, die Zimmer der Pension zu gestalten. Aber Josipovici ahnte, | |
dass das Leben noch lang sein kann. Auch ohne Glamour. "Luxus, das ist kein | |
Luxus hier", sagt sie und zeigt mit ausladender Geste auf die Zimmer. | |
"Wissen Sie, ich weiß, wie Luxus aussieht." Ihr neuer Reichtum, das ist, | |
was sie erlebt hat. Charlottenburger Witwe, das ist auch so ein Klischee, | |
das dem Bezirk anhängt. Bei Isolde Josipovici kann man anfangen, damit | |
aufzuräumen. | |
1 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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