# taz.de -- Ein Bett in Berlin (3): Ein Trampelpfad durch die Nacht | |
> Wohin mag es einen verschlagen, wenn man versucht, eine Nacht in Berlin | |
> zu verbringen, ohne die Stadt zu kennen, ohne Freunde und ohne Geld? Der | |
> Selbstversuch führt an den Wannsee und aufs Polizeirevier. | |
Bild: Auf dem Zeltplatz bekommt man so einiges mit von seinen Nachbarn | |
Ein Dienstag im Sommer, abends kurz vor neun, Hauptbahnhof Berlin. Draußen | |
regnet es. Nicht gerade der perfekte Tag, um im Freien zu nächtigen. | |
Trotzdem: Es geht genau darum, diese Nacht zu überstehen - ohne die Stadt | |
zu kennen, ohne Freunde, ohne Geld. | |
In der Infozentrale am Bahnhof beginnt die Suche nach einem Schlafplatz. | |
Werbebroschüren liegen dort aus. "Nichts wie raus zum Wannsee" steht auf | |
einer. Die Sonne strahlt auf dem Bildchen daneben. Wie verlockend! Um 21.05 | |
Uhr fährt ein Zug. Hoffentlich haben die Kontrolleure Feierabend. | |
Vor den Scheiben zieht die Stadt vorbei. Häuser, Menschen, Supermärkte, | |
Regenschirme, Autos, Bars. Die S-Bahn rattert durch die Dämmerung. Ein Mann | |
tippt etwas in seinen Laptop, ein Koreaner parliert gestenreich, eine Frau | |
löst Kreuzworträtsel. Jedes Mal, wenn sie etwas einträgt, huscht ein | |
Lächeln über ihr Gesicht. In diesem Moment fühle ich mich geborgen. | |
Am Bahnhof Nikolassee steige ich aus. An der Bushaltestelle steht ein | |
Radfahrer. Er weiß auch nicht, wo man hier entspannt oder wenigstens sicher | |
schlafen kann, und guckt skeptisch - erst auf mich, dann auf die Wolken | |
über mir. "Hier streunern nachts immer ein paar Penner herum. Machs nicht | |
zu einsam", rät er. | |
Eine Karte im Bushaltestellenhäuschen gibt Orientierung. Der Weg zum | |
Strandbad Wannsee führt über die Autobahn, vorbei am verrammelten | |
Imbisswagen "Easy Rider", hinein in eine dunkle Allee. Auf der rechten | |
Seite werfen alte Straßenlaternen ein mattes Licht auf den feuchten | |
Asphalt. Aus dem Wald kommt ein Grunzen - Wildschweine. Es tröpfelt. | |
Von hinten rast ein Auto heran. Grelle Xeon-Scheinwerfer, die Fenster | |
getönt, ein schwarzer BMW. Und gleich dahinter ein Mercedes. Und noch eine | |
Limousine. Merkwürdig. Die Straße ist eine Sackgasse, sie führt nur nach | |
Schwanenwerder, auf ein kleines Eiland. | |
Vor der Inselbrücke geht ein steiniger Uferweg nach rechts ab. Die Bäume | |
stehen hoch und dunkel auf beiden Seiten. Eine unheimliche Gasse ist es, | |
ein Trampelpfad in die Nacht. Dann öffnet sich eine Lichtung. Wie aus dem | |
Nichts liegt das Havel-Panorama vor mir. Mit Sandstrand. Mit Wasser. Mit | |
Himmel. Fast wie auf dem Werbefoto - nur ohne Sonne und Segelschiffchen. | |
Havel-Panorama inklusive | |
Hier bleibe ich. Etwa 20 Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt, ohne | |
Fernseher, ohne Nachttischlampe, ohne Kopfkissen. An die Menschheit | |
erinnert nur eine leere Schachtel Marlboro Gold, die halb aus dem Sand | |
ragt. Und der Lichtsmog am Horizont - Berlin. | |
Ich trete Spuren in den nassen Sand. Bevor ich den Schlafsack unter einem | |
großen Baum ausrolle, pflüge ich die trockenen Körner mit den Schuhen an | |
die Oberfläche. | |
Kurz nach elf muss es sein, da nähern sich Stimmen. Zwei Gestalten, kaum | |
wahrnehmbar, huschen auf dem Weg vorbei. Plötzlich verstummen sie. Haben | |
sie den Schlafsack entdeckt? Wer könnte sich hierher verirren? Um diese | |
Uhrzeit an diesen versteckten Ort? Aber die Schritte entfernen sich, das | |
Klacken verhallt. Zu hören sind nur die Wellen. Und die Windböen, die die | |
Blätter zum Rauschen bringen. Der Himmel spiegelt sich im See, der Wald | |
verdichtet sich in Schwärze. | |
Farbe! Das Nächste, was ich sehe, ist Farbe. Der Sand strahlt beige, die | |
Bäume grün, im Westen schimmert die Sonne golden zwischen dem Ufergehölz. | |
Die klamme Kälte kriecht zu mir in den Schlafsack. Ich rolle mich zusammen. | |
Es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Ich habe geschlafen, fast sieben | |
Stunden lang. Durch die Büsche beobachte ich die aufgehende Sonne. Ich kann | |
nicht mehr einnicken, will noch nicht aufstehen. | |
Dann rapple ich mich doch auf. Mein Nacken ist steif. Liegestütze, Sprünge, | |
Kniebeugen helfen. Ich gehe zum Ufer. Das Wasser schlägt grün an die | |
Sandbank. Der See ist nach den ersten heißen Sommertagen voller Algen. Ein | |
leicht fauliger Geruch steigt auf. Doch vier Meter vom Ufer wird das Wasser | |
klarer. Welch eine Wonne! | |
Drei Schwäne lassen sich treiben, Wasservögel kreisen, eine Entenfamilie | |
schwimmt auf mich zu. Als würde es mich nicht bemerken, kommt ein Junges | |
immer näher, 30 Zentimeter, 20 Zentimeter, eine Handbreit. Ich scheine sie | |
nicht zu stören, die Natur, so wie ich dasitze, leicht zitternd, gerade | |
richtig erwachend. | |
Plötzlich ist da der Gedanke an Frühstück: Tee und Croissant. Über die | |
Brücke trete ich auf die Insel Schwanenwerder. Ein untersetzter Mann parkt | |
gerade seinen Straßenkreuzer mit Münchner Kennzeichen. Leider hat er keine | |
Semmel für mich. Er empfiehlt die Evangelische Bildungsstätte. | |
Warum nicht? Eine Einbahnstraße führt zwischen den Zäunen der | |
herrschaftlichen Anwesen hindurch. Auf der linken Seite wird gebaut. | |
Raupen, Kräne, Bagger - hier entstehen moderne Villen mit Seeblick. | |
"Wir sind kein Hostel, wir sind eine Bildungsstätte", enttäuscht mich die | |
Dame an der Rezeption. Leider gebe es derzeit weder Gäste noch Frühstück, | |
sagt sie. Ich glaube ihr nicht. Aber ich gebe nicht auf. Auf dieser | |
dekadenten Insel wird sich doch etwas zum Essen finden lassen. | |
Da, die Wasserschutzpolizei. Über die Gegensprechanlage meldet sich ein | |
Polizist: "Wir haben ein Glas Wasser." Vielleicht hofft er, dass sich das | |
wenig attraktiv anhört. "Super, das nehme ich", versichere ich schnell. Er | |
antwortet nicht. Zehn Sekunden später kommt eine kleine Frau zum Tor, | |
schließt auf und bittet mich herein. Eine Pistole steckt in ihrem Gürtel. | |
Die Geschichte von der Nacht am Wannsee, vom Versuch, sich ohne Geld | |
durchzuschlagen. "Können Sie sich ausweisen?", fragt sie misstrauisch. Ich | |
bejahe, da hat sie ihre Frage schon vergessen. Sie wendet sich an ihren | |
Chef: "Soll ich ihn verköstigen?" | |
Die Wände sind kahl, der Fußboden grau, 70er-Jahre eben. Die Polizeistation | |
soll geschlossen werden, erzählt die Frau, während sie mein Frühstück | |
auftischt. Marmelade, Nutella, Schinken, rote Wurst, Gouda, Margarine und | |
eine Plastiktüte voller Brötchen. Dazu Kaffee und Milch. Welch staatliches | |
Büfett! | |
Nur das Messer ist stumpf. Vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme. Die | |
Polizistin setzt sich zu mir an den Tisch. "So etwas habe ich auch noch | |
nicht erlebt", sagt sie. Ich auch nicht, könnte ich antworten, schiebe mir | |
aber lieber das Brot in den Mund. Die Kälte schwindet, mein Hunger, ihr | |
Misstrauen. Selten schmeckte eine labbrige Schrippe so gut. | |
Frühstück unter Aufsicht | |
Die Polizistin erzählt von Tag- und Nachtschichten, von Einsätzen auf dem | |
Wasser, von den Kontrollen der Angler. Ich schnappe mir das zweite | |
Brötchen. Wieder mit Marmelade. Jetzt redet die Schutzfrau über Papierkram, | |
Akten, Schießtraining. Ich kaue. Zwischendurch stelle ich ein paar Fragen, | |
das Gespräch schleppt sich hin. Die Polizistin muss bei mir sitzen, als | |
Aufsicht. Das ist Vorschrift so. | |
"Wir machen gleich eine Übung", verkündet ihr Chef und fügt - nicht ohne | |
Stolz in der Stimme - hinzu: "eine große Übung sogar!" Seine Kollegin räumt | |
das Frühstück ab und führt mich zum Ausgang. Herzlich sagt sie: "Auf | |
Wiedersehen." | |
Freilufthotel Wannsee ab 0 Euro ohne Frühstück, inklusive Naturpool und | |
Frischluft | |
4 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Friedemann Bieber | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
"Ein Bett in Berlin" (Teil 9): Die ganze Welt zu Hause | |
Auf dem Sofa von Florian Fischer haben hunderte Gäste übernachtet. | |
Kostenlos. Der Sozialpädagoge ist aktives Mitglied des Hospitalityclubs, | |
der weltweit Schläfplätze austauscht. | |
Ein Bett in Berlin (Teil 6): Zelten im Innenstadtidyll | |
Regen, Punks, die sich auf dem Boden wälzen und feiernde Nachbarn: Wie man | |
eine Nacht auf der Tentstation trotzdem übersteht. | |
Ein Bett in Berlin (Teil 5): Klein Vegas im Problemkiez | |
Wer im Hotel Estrel in Neukölln mit seinen 1.125 Betten absteigt, muss zu | |
einem Kongress oder hat ein Rundumpaket mit Unterhaltungsshow gebucht. Eine | |
tolle Mischung. | |
Ein Bett in Berlin (4): Meeresrauschen vor Plattenkulisse | |
Die Pension "11. Himmel" wird von Kindern aus Berlin-Marzahnl und ihren | |
Eltern geführt. Der Gast bekommt vom 11. Stock aus einen Eindruck vom Leben | |
im Plattenbau. | |
Ein Bett in Berlin (2): Zwölf Zimmer, 50 Jahre Erfahrung | |
Die 88-jährige Maria Nagott will ihren Gästen im Haus Franken in | |
Berlin-Lichterfelde ein Zuhause bieten. Einbrecher verscheucht die Chefin | |
persönlich, als Werbeträger setzt sie auf den Bezirksbürgermeister. | |
Ein Bett in Berlin (Teil 1): Die Jugend der Welt, gestapelt | |
Millionen Touristen strömen jedes Jahr nach Berlin. Die Sparsamen nächtigen | |
in Hostels wie dem A&O am Zoo. Hier langweilen sich Schulklassen aus dem | |
Schwabenland. Und blondierte Schwedinnen nutzen das Zehn-Bett-Zimmer als | |
Ankleideraum für die Nacht. |