# taz.de -- In Knotenschrift geschrieben: Identität aus der Vergangenheit | |
> Caral, die Pyramidenstadt nördlich von Lima, ist national und | |
> international kaum bekannt. Dabei kann sie der berühmten Inkastadt Machu | |
> Picchu Konkurrenz machen. | |
Bild: Jugend an historischer Stätte | |
Gonzalo Rodríguez stapft zielstrebig durch den feinen Sand. Vor einer der | |
Pyramiden in der Ruinenstadt Caral bleibt er stehen und deutet auf die | |
steinerne Treppe, die die Pyramide hochführt. Dort oben, am Ende der | |
Treppe, haben wir das kleine Knäuel gefunden, sagt er. | |
Die Treppe hatte man zugeschüttet, und als wir den Schutt beseitigten, um | |
den Aufgang frei zu räumen, entdeckte jemand das kleine Paket, erinnert | |
sich der Archäologe mit dem dichten dunkelbraunen Bart und dem beigen | |
Schlapphut. Der soll ihn gegen die gleißende Sonne schützen, die im Tal von | |
Supe vom Himmel brennt. In dem Tal, rund 180 Kilometer nördlich von Lima, | |
befinden sich Perus derzeit wichtigste Ausgrabungsstätten - doch die Funde | |
von Caral stellen alles andere in den Schatten. | |
Schon an den Feuerstellen haben wir Reste von Baumwolle und Muscheln | |
gefunden, die damals geopfert wurden, doch das unscheinbare Knäuel war ein | |
echter archäologischer Volltreffer. Bereits zuvor wussten Rodríguez und | |
Ausgrabungsleiterin Ruth Shady, dass sie einer alten Hochkultur auf die | |
Schliche gekommen sind, doch wie weit die Bewohner Carals wirklich | |
entwickelt waren, darüber gab erst das unscheinbare Bündel aus der Pyramide | |
Aufschluss. | |
Es enthielt den Beweis dafür, dass die Stadt, die wir peu à peu ausgraben, | |
die bei weitem älteste Stadt Amerikas ist, erklärt Ruth Shady und lächelt | |
stolz. Die schlanke Frau mit der leisen Stimme fand in dem Knäuel neben | |
Sandalen, Federschmuck und mehreren Flöten einen Quipu. Für Laien ist der | |
aus Baumwollfäden unterschiedlicher Länge und mit zahlreichen Knoten | |
versehene Quipu nicht viel mehr als ein schmutzigbraunes Wollknäuel. Die | |
Knoten sind jedoch fein säuberlich geknüpfte Worte und stehen für eine der | |
ältesten Schriftsprachen der Welt. Niemand hatte bis zu jenem Tag Mitte | |
April 2005 vermutet, dass die Knotensprache so alt sein könnte. | |
Vor 5.000 Jahren, so haben die Laboruntersuchungen ergeben, wurde der Quipu | |
geknüpft, und er ist ein zentraler Beweis für die Existenz der ältesten | |
Hochkultur auf dem Kontinent - die von Caral. Die Pyramidenstadt ist | |
demnach rund 1.400 Jahre älter als die Siedlungen der Olmeken am Golf von | |
Mexiko und steht auf einer Stufe mit den Ur-Zivilisationen von Ägypten, | |
Mesopotamien oder China. Eine kleine Genugtuung für die peruanische | |
Archäologin, die acht Jahre nahezu betteln musste, um öffentliche Förderung | |
für die Ausgrabungen zu erhalten. | |
Gleichwohl steht Caral auch weiterhin im Schatten von Machu Picchu und der | |
berühmten Inkakultur. Die hat vom Wissen der Gelehrten aus der | |
Pyramidenstadt Caral profitiert. Nicht nur die Bewässerungstechniken, | |
sondern auch die Knotensprache wurde von den Leuten aus Caral übernommen, | |
vermutet Dr. Shady. Bis dahin galten nicht nur die Quipu als fundamentaler | |
Bestandteil der Inkakultur. | |
Bis 1994 lag Caral unter Unmengen von feinem Sand und Felsgeröll | |
verschüttet. Damals begann Dr. Shady mit den Ausgrabungen, und erst im | |
Laufe der Jahre wurde der Archäologin der Stellenwert des Fundes klar. | |
Teure Messungen konnten sich die peruanischen Archäologen anfangs nicht | |
leisten, erst seit 2002 wird das Ausgrabungsprojekt von der Regierung in | |
Lima finanziert. 2001 sponserten Privatpersonen die ersten | |
Radiokarbon-Messungen. Sie ergaben, dass die Schilfsäcke, die mit Steinen | |
gefüllt in den Pyramiden Carals eingemauert waren, aus dem Jahre 2627 vor | |
Christus stammen. Weitere Untersuchungen von Fundstücken wie den kunstvoll | |
verzierten Flöten, von Kleidungsstücken aus Baumwolle oder Federn | |
bestätigten diese Altersangaben in den Folgejahren. | |
Heute weiß man, dass Caral rund 3000 Jahre vor Christus entstand - und um | |
1600 vor Christus wieder verschwand. In diesem Zeitraum wurde in der | |
kleinen Stadt, wo schätzungsweise 3.000 Menschen lebten, ohne Unterlass | |
gebaut. Mindestens sieben Pyramiden entstanden, von denen die letzte noch | |
nicht einmal komplett freigelegt ist. | |
An der Pirámide de la Galería, der mit knapp 19 Metern dritthöchsten | |
Pyramide der Stadt, fanden die Forscher dann im April 2005 das Päckchen, | |
das zur Neufassung der Geschichte Perus und Amerikas den Ausschlag gab. Die | |
Fundstücke, allen voran das spektakuläre Knotenbündel, aber auch Reste von | |
Kleidungsstücken aus Baumwolle, sind seitdem im Museo de la Nación in Lima | |
und an anderen Ausstellungsorten der Öffentlichkeit vorgestellt worden. | |
Baumwolle war ein ökonomischer Eckpfeiler der Handels- und | |
Agrargesellschaft von Caral, erklärt Gonzalo Rodríguez. Bewässerungskanäle | |
spannten sich wie ein Netz von Adern über die gesamte Region und versorgten | |
die trockenen Felder mit dem lebenswichtigen Nass. Die Menschen im | |
Hinterland von Caral belieferten die rund dreißig Kilometer entfernt | |
lebenden Küstenbewohner mit sorgsam geknüpften Netzen aus Baumwolle und | |
erhielten dafür Fisch und Meeresfrüchte. Reste von Sardellen und Muscheln | |
wurden an zahlreichen Feuerstellen gefunden, erklärt Rodríguez. | |
Caral habe, so ergänzt Ruth Shady, über ein weit verzweigtes Handelsnetz | |
verfügt. Auf großen Schautafeln wird aufgezeigt, was alles in Caral | |
gefunden wurde und woher es stammt: Muscheln aus Ecuador und Argentinien, | |
Samen der Achiote, einer Frucht aus dem tropischen Regenwald, oder die | |
Federn des Cóndor, die aus dem Hochland stammen. | |
Vor allem bei den Schulkindern, die von Jahr zu Jahr in immer größerer Zahl | |
in die Pyramidenstadt im kleinen Norden Perus, dem Norte chico, fahren, | |
kommt diese Form der Veranschaulichung gut an. Ein großer Erfolg war auch | |
die Rekonstruktion des Gesichts eines typischen Bewohners von Caral. | |
Mehrere Monate arbeitete eine Gruppe von peruanischen Spezialisten aus | |
Medizin und Kriminalistik anhand der fünf bisher gefundenen Skelette an der | |
Plastik eines Kopfes und einer realistischen Statue. | |
Für die Peruaner ist das ausgesprochen wichtig, denn über die | |
Veranschaulichung wird auch die Identifizierung mit der Hochkultur sehr | |
viel leichter, erklärt Dr. Shady. Das ist ein zentrales Ziel der | |
Archäologin, denn viele Peruaner tun sich schwer damit, sich mit der | |
eigenen Kulturgeschichte zu identifizieren. Als Ruth Shady vor einiger Zeit | |
einen Arbeiter aus dem kleinen Dorf Caral, welches in der Nähe der | |
Ausgrabungsstätte liegt, fragte, wer die Pyramiden wohl einst erbaut haben | |
möge, bekam sie die Antwort: Giganten waren es. | |
Dass es ganz normale Menschen gewesen sein könnten, konnte sich der Mann | |
angesichts der beeindruckenden Dimensionen der Bauwerke nicht vorstellen. | |
Mit einer Länge von 170 Metern, einer Tiefe von 150 und einer Höhe von 20 | |
Metern sind die Dimensionen der größten Pyramide, der Pirámide Mayor, | |
überaus beeindruckend. Die Antwort ist typisch für uns Peruaner, so die | |
Archäologin. Auch Machu Picchu und die Linien von Nasca sind dem | |
peruanischen Volksmund zufolge das Werk von Außerirdischen, erklärt Ruth | |
Shady mit einem sarkastischen Lächeln. Mangelndes Selbstwertgefühl | |
attestiert sie ihren Landsleuten, und da kann die Archäologie helfen. Auch | |
das ist ein Grund, weshalb in Caral eng mit der lokalen Bevölkerung | |
zusammengearbeitet wird. | |
Als Fremdenführer, Arbeiter oder Konservator werden vorrangig Einheimische | |
angestellt, und die Bauern der Region können sich von Fachleuten beraten | |
lassen. Dr. Shady will schlicht vermeiden, dass sich alle Hoffnungen in | |
Caral wie in Machu Picchu auf den internationalen Tourismus fixieren. | |
Priorität in den Augen der Archäologin haben ohnehin die peruanischen | |
Besucher, die nur einen äußerst geringen Obolus für den Besuch der | |
Pyramidenstadt zahlen müssen. So will Frau Shady helfen, positive Bezüge | |
zur Vergangenheit aufzubauen und die eigene Identität zu stärken. Ein | |
Konzept, das in Peru seinesgleichen sucht. | |
7 Jan 2009 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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