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# taz.de -- Debatte Sexuelle Gewalt: Achtung vor den Opfern
> Die Debatte über die Brutalität männlicher Autoritäten ist progressiv.
> Betroffene müssen endlich nicht mehr um ihre Würde fürchten.
Bild: In der Debatte um die Missbrauchsfälle wohl meistfotografiert: die Odenw…
BERLIN taz | Jetzt also auch Anja Röhl. Die Tochter von Klaus Rainer Röhl,
dem ehemaligen Chefredakteur der Zeitschrift Konkret, hat in dieser Woche
im Stern davon berichtet, wie ihr Vater sich ihr, als sie ein Kind war,
immer wieder mit Anzüglichkeiten näherte, sie berührte oder an sie
geschmiegt onanierte. Röhl weist die Vorwürfe zurück; was er nicht
zurückweisen kann, ist, dass Konkret unter seiner Führung immer wieder
Geschichten druckte, die pädophile Neigungen befeuerten und auskosteten.
Die Debatte in den 90ern
Ist dies nun ein weiterer Fall, an dem das Publikum seine Sensationslust
austobt und sich zugleich der eigenen Normalität vergewissert, weil die
Missbrauchten und deren Peiniger immer die anderen sind? Ein weiterer Fall,
der all jene auf ihre Kosten kommen lässt, die schmutzige Details,
öffentliche Beichten und das Spektakel von Schuld und Sühne genießen? Oder
ist die Geschichte, die Anja Röhl erzählt, ein weiteres Steinchen in einem
Mosaik, das zusammenzufügen zwar quälend ist, aber etwas Wesentliches,
nämlich Aufklärung und Erkenntnis verspricht?
Um die Fragen zu beantworten, lohnt es, sich noch einmal vor Augen zu
führen, was an der Odenwaldschule in den späten 90er-Jahren passierte.
Damals wandten sich zwei ehemalige Schüler in einem Schreiben an die
Schule, in dem sie den langjährigen Leiter Gerold Becker bezichtigten, er
habe sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Die Schule antwortete ihnen im
August 1998, Becker habe den Vorwürfen nicht widersprochen und alle
Funktionen, die er zu diesem Zeitpunkt innehatte, niedergelegt. Die
Frankfurter Rundschau berichtete im November 1999 über den Fall. Das war
es. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt stellte das Verfahren gegen Becker
ein, die Taten seien verjährt.
2002 wurde der Reformpädagoge in den Vorstand der Hermann-Lietz-Schulen
berufen, obwohl das Kollegium einer dieser Schulen dagegen protestierte.
Becker war außerdem gern gesehener Gast bei Tagungen und Berater unter
anderem für den Landeselternbeirat Brandenburg. Das bedeutet: Obwohl sich
die Leidtragenden an die Öffentlichkeit wandten, obwohl ihre Aussagen
glaubwürdig waren, wollte niemand davon Notiz nehmen. Das Unrecht, das
ihnen widerfuhr, wurde umso größer, je weniger es als solches anerkannt
wurde. Stattdessen herrschte eine merkwürdige, undurchdringliche
Übereinkunft. Was nicht sein darf, kann nicht sein, und deswegen hört man
denen, die davon berichten, erst gar nicht zu. Die Betroffenen mussten
nicht nur etwas erleben, was sie zutiefst verletzte, sie müssen auch
erleben, wie hinterher so getan wird, als sei gar nichts geschehen.
Der neue sachliche Ton
Das hat sich geändert. Viele Medien berichten heute frei von
Sensationslust, zum Teil stellen sie dabei sogar ihr eigenes Vorgehen
infrage. In der Zeit etwa war das Erschrecken über die Freundschaft
zwischen Marion Gräfin Dönhoff und Gerold Becker groß. Je mehr konkrete
Fälle öffentlich werden, umso weniger funktioniert es, zu leugnen oder
wegzuschauen. Verstärkt wird dies dadurch, dass sich sexuelle Gewalt keinem
spezifischen gesellschaftlichen Milieu zuschlagen lässt. Da weder die
katholische Kirche noch die liberale Reformpädagogik, weder das
konservative noch das liberale Milieu Missbrauch verhinderten, ist es
schwer, einen Sündenbock auszumachen. Das Problem, so dämmerts einem nach
und nach, ist überall. Zumal die Familie als Bollwerk gegen all die
Übergriffe auch nicht taugt. Das deutet sich in Röhls Geschichte an und
auch in der des Berliner Filmemachers Michael Stock, der als Kind und
Heranwachsender von seinem Vater missbraucht wurde und darüber den Film
"Postcard to Daddy" gedreht hat. Die Konkretion ist es auch, die den
gegenwärtigen öffentlichen Diskurs von dem der 80er- und 90er-Jahre
unterscheidet. Damals gab es spektakuläre Einzelfälle und daneben eine
Vielzahl von Statistiken, aus denen angeblich hervorging, dass jedes dritte
Mädchen Missbrauchsopfer werde. Jedes dritte Mädchen: Das schien alles zu
sagen und sagte doch zu wenig. In den Szenarien von Wildwasser e. V. oder
Dunkelziffer e. V. steckte zu viel Spekulation, als dass man sie wirklich
hätte ernst nehmen wollen.
Verunsicherte Autoritäten
Was in den Statistiken dunkel raunender Schrecken war, liegt heute offen
zutage. Gleichwohl erschrickt man über vieles: darüber, wie sich die eigene
Zeitung in ihrer Frühphase zum Sprachrohr pädophiler Interessen machte;
darüber, wie sicher sich katholische Würdenträger sein konnten, wenn sie
sich an Schutzbefohlenen schadlos hielten; darüber, dass Gerold Becker an
Ansehen nicht verlor. Im Erschrecken liegt die Möglichkeit, dass den
sexuellen Gewalttätern die gesellschaftliche Anerkennung, die sie bis dato
genießen konnten, versagt wird. Die Autoritäten, die ihre Macht ausnutzten,
können sich ihrer selbst nicht mehr so sicher sein wie noch im letzten
Jahr, und die Institutionen kommen nicht umhin, sich mit den Verfehlungen
auseinanderzusetzen und Konsequenzen zu ziehen, die über die Versetzung
eines Priesters in eine andere Gemeinde weit hinausgehen.
Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff veröffentlichte vor wenigen Wochen einen
beeindruckenden Text im Spiegel. Er schrieb von der Schwierigkeit, die es
ihm bereite, für die an ihm begangene sexuelle Gewalt eine Sprache zu
finden. Die Übergriffe eines Internatsleiters hätten aus ihm "ein
sprachloses Kind mit Schwanz" gemacht, einen Zwölfjährigen, der für das,
was ihm geschah, keine Worte, keine Begriffe, keinen Rahmen kannte. Vieles
spricht dagegen, diese Erfahrung in die Öffentlichkeit zu tragen: "Und
lieber behält man intimen Schmutz für sich, als ihn einer schmutzgierigen
Welt auszusetzen, die sich nur respektlos erschüttert zeigt."
Das ist aber nur die eine Seite der Geschichte. Die andere ist, dass erst
im mühsamen und qualvollen Sprechenlernen überhaupt die Möglichkeit
aufscheint, die Geschehnisse hinter sich zu lassen. "Es gab immer ein
Gerede, doch erst jetzt wird daraus ein Reden, und nur das, nichts sonst,
kann dem Geschehenen ein Gesicht geben", schreibt Kirchhoff. Eine
Gesellschaft, in der so viel sexuelle Gewalt steckt wie in unserer, ist auf
dem Weg, das Reden über diese Gewalt zu lernen.
8 May 2010
## AUTOREN
Cristina Nord
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