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# taz.de -- Reformpädagogik und Missbrauch: Abschied von den Patriarchen
> Bei einem Treffen des Arbeitskreises von Reformschulen flogen die Fetzen,
> als es darum ging, eine gemeinsame Erklärung zu sexueller Gewalt zu
> schreiben.
Bild: Lehrer der Odenwaldschule haben einst den Arbeitskreis von Reformschulen …
BENSBERG taz | Auf der Bühne läuft grad Kabarett. Rund 200 Reformpädagogen
des "Blick über den Zaun", kurz BÜZ, sind bester Laune. In der Zugabe
verrät einer der Schauspieler, was er dachte, als er die Einladung zum BÜZ
sah: "Da geh isch doch gerne hin!", sagt er in Kölschem Slang. "Denn ein
Bützsche bedeutet bei uns: Knutschen, Küssen."
Jetzt lacht der Theatersaal, befreiend ist das. Und auch beklemmend, geben
einige hinterher zu. "Ich hab mich bei manchen der Witze gefragt: Darf ich
jetzt lachen?" Tatsächlich ist es für den BÜZ, den reformpädagogischen
Arbeitskreis, eine Tortur, mit dem Kuss in Verbindung gebracht zu werden.
Küssen und Reformpädagogik, das ist gar nicht mehr witzig, seit
scheibchenweise bekannt wird, was die einst wichtigste Reformschule, die
Odenwaldschule in Ober-Hambach, unter Nähe verstand.
Gerold Becker, Leiter der Schule, missbrauchte offenbar nicht nur selbst
jahrelang Schüler. Er ließ ein regelrechtes System an der Oso entstehen,
das mehr an einen Knabenpuff erinnert als an eine Schule. In einzelnen
Familien war gegenseitiges Befriedigen bis hin zu Vergewaltigung und
Pornografie etwas Normales. Das ist zwar 25 bis 30 Jahre her. Aber Becker,
der Franz Beckenbauer der Reformpädagogen, hat seine Zunft ins Mark
getroffen. Auch in Bensberg.
"Die Reformpädagogik hat jetzt schon Schaden genommen", sagt Sabine Herold,
Lehrerin der Grundschule "Schimmeldewog". "Wir müssen deutliche Worte
finden, sonst sind wir weg vom Fenster."
"Beziehungsarbeit gehört zu dieser Pädagogik", sagt Nils Kleemann,
Schulleiter der Montessorischule Greifswald, "aber nicht in dieser kranken
Form, sondern in einer professionellen Umgebung".
Niemand hier will Beckers Taten und das System Odenwald entschuldigen. Aber
genauso wenig möchte man die Reformpädagogik pauschal in Haftung nehmen
lassen. Die pädagogischen Patriarchen freilich haben es den BÜZlern nicht
leichtgemacht. Wolfgang Harder, der den "Blick über den Zaun" gründete und
prägte, ist gar nicht erst angereist. Harder wird von vielen hier verehrt,
er leitete die Odenwaldschule - nur hat er nicht mit Konsequenz das System
Becker aufgedeckt, 1999, als es das erste Mal auf den Tisch kam.
"Ich finde es schade, dass wir nicht mit den Leuten selbst darüber sprechen
können, die betroffen sind", sagt einer. Die Beklommenheit ist groß. Seit
25 Jahren, seit es den "Blick über den Zaun" gibt, ist Harder hier mit von
der Partie - aber jetzt, nach dem großen Knall, ist sein Platz leer.
Viel schlimmer aber ist es mit Hartmut von Hentig. Er war der Guru der
Szene. Doch nun wird auf jedes Wort des Patriarchen geachtet. Im Januar
sagte Hentig in einer Festrede in Stuttgart, jeder Erzieher solle etwas von
pädagogischer Liebe in sich tragen - auch als "eine Form der ,persönlichen
Liebe' ". "Unsere aufgeklärte Gesellschaft ist in diesem Punkt kleinmütig.
Sie blickt misstrauisch auf jede Zärtlichkeit und errichtet fürsorgliche
Schutzvorkehrungen gegen den scheuen Gott." In Stuttgart bekam Hentig für
eine Rede mit dieser Passage rauschenden Beifall. In Bensberg sagt einer
der Teilnehmer: "Wenn man so etwas liest, wird einem schlecht."
Der "Blick über den Zaun" ist ein Netzwerk exzellenter Schulen. In 12
Arbeitskreisen organisiert, tauschen sich die 100 besten deutschen Schulen
aus - und besuchen sich gegenseitig als kritische Freunde. Nun sehen sich
diese Schulen, die Vorreiter eines neuen Lernens sind, einem schweren
Vorwurf ausgesetzt: dass die Reformpädagogik Missbrauch begünstigt -
Kuschelpädagogik wörtlich genommen.
Zunächst stand das Thema Missbrauch und Reformpädagogik gar nicht auf der
Bensberger Tagesordnung. "Das hat Revolution gegeben", berichtet ein
Schulleiter aus Hamburg. Die erste Fassung einer Bensberger Erklärung zu
sexueller Gewalt wird wütend zurückgewiesen. Zwei Tage lang fliegen im
Kardinal-Schulte-Haus die Fetzen. Die Verabschiedung gerät zu einem
Drahtseilakt.
200 Pädagogen beugen sich über den Text. Sein Kernsatz lautet: "Wir sind
erschüttert und beschämt, dass Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt
auch an Schulen widerfahren ist, die sich auf unsere pädagogischen
Prinzipien berufen." Die Berliner Schulleiterin Gabriele Anders-Neufang
moniert die Formel "wir sind beschämt". "Natürlich bin ich erschüttert,
aber ich bin nicht beschämt, sondern ich bin empört, dass so etwas
passieren konnte. Ich kann mich nicht für etwas schämen, was ich nicht
begangen habe und wofür ich nichts kann."
Anders-Neufang will nichts entschuldigen. Aber sie will auch nicht für
etwas in Haftung genommen werden, was 25 Jahre her ist - denn ihre
Humboldt-Gemeinschaftsschule, der die Eltern die Türen einrennen, ist
gerade mal zwei Jahre alt.
Die Leiterin der Hamburger Max-Brauer-Schule, Barbara Riekmann, versteht
ihre Kollegin - und will dennoch die Beschämung drin lassen. "Wenn man wie
ich mit Leuten lange zusammengearbeitet und Standards entwickelt hat, dann
ist man beschämt, wenn man hört, was sie getan und zugelassen haben." Ein
anderer sagt: "Dieser Satz ist das Mindeste an Selbstkritik, was wir
leisten können."
Nun meldet sich Hannelore Weimar, ebenfalls eine Berliner Schulleiterin.
Sie möchte, dass der Satz an die Spitze der ganzen Erklärung kommt. Die
Stimmung droht zu kippen. Jemand schlägt vor, abzustimmen, jemand anderes,
die Erklärung zu verschieben - und plötzlich will jemand das Adjektiv in
der Formel "sexuelle Gewalt" einfach streichen. Doch dieser Putschversuch
geht in empörten Rufen unter. Der Kernsatz wandert ganz nach vorn in die
Präambel, und es gibt keinen, der dagegen aufbegehrt.
Stattdessen gibt es großen Beifall, als Uwe Koltzsch, seit 2000
pädagogischer Leiter der Odenwaldschule, sagt: "Wir empfinden es als
Unerträglichkeit, wenn man Gerold Becker noch als wichtigen Repräsentanten
der Reformpädagogik zitiert."
Der Abschied von den reformpädagogischen Patriarchen hat begonnen.
5 May 2010
## AUTOREN
Christian Füller
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