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# taz.de -- Latinos im US-Kongresswahlkampf: "Wäre McCain besser gewesen?"
> Latinos sind die größte Minderheit Kaliforniens. Vergebens erhofften sie
> sich vom neuen US-Präsidenten eine Immigrationsreform. Bei der
> Kongresswahl kommt es nun auf ihre Stimmen an.
Bild: Latinos demonstrieren für die von Obama versprochene Einwanderungsreform…
"Das sind Märchen", sagt Altagracia Garcia kategorisch. "Wenn sie wirklich
gewollt hätten, wäre es möglich gewesen. Schließlich hat es bei der
Gesundheitsreform auch geklappt."
Die junge Frau ist in Los Angeles aufgewachsen. In der
lateinamerikanischsten Stadt der USA. Wo die Straßen und Bezirke und die
Mehrheit der Einwohner inklusive dem Bürgermeister spanische Namen haben.
Wo jeder jemanden kennt, der sich ohne Papiere durchs Leben schlägt. Und wo
die Wahlbeteiligung der Latinos vor zwei Jahren Rekordhöhe erreichte: 85
Prozent von ihnen gingen wählen. 67 Prozent stimmten für Barack Obama, der
eine Migrationsreform versprochen hatte.
Zwei Jahre danach ist die Aufbruchstimmung verpufft. Die
Einwanderungsreform hat nicht stattgefunden. Stattdessen hat die neue
Verwaltung in ihrem ersten Amtsjahr mehr Abschiebungen organisiert als ihre
Vorgänger. 2009 waren beinahe 400.000 Menschen betroffen. Die meisten
wurden nach Lateinamerika deportiert.
Erschwerend hinzugekommen ist die Wirtschaftskrise. Sie hat sozial schwache
Latino-Familien besonders hart getroffen. "Der amerikanische Traum ist
schwierig geworden", sagt Altagracia, "für uns sind viele Türen zu. Das war
für die Einwanderer aus Europa anders."
Ohne Wahlrecht
Die junge Frau arbeitet in der Einwanderungsorganisation Chirla (Koalition
für humane Migrantenrechte in Los Angeles). Sie betreut und berät
Putzfrauen aus Lateinamerika. An den Wänden hängen Bilder von Martin Luther
King. Altagracia glaubt, dass heute eine Bürgerrechtsbewegung von Latinos
nötig ist, um das Land "von unten" zu verändern. Auf den Präsidenten, den
sie einst bewundert hat, setzt sie immer weniger. "Er verliert zunehmend
meinen Respekt."
In den vergangenen Wochen hat Altagracia mit hunderten von Wählern
gesprochen. Dabei ging es nicht um die Kandidaten, die sich für den
Gouverneurssitz in Sacramento, das Repräsentantenhaus oder den Senat in
Washington bewerben. Denn Werbung für politische Parteien ist nicht mit den
Statuten einer wohltätigen Vereinigung vereinbar.
Stattdessen haben sich die Chirla-Mitglieder auf zwei von neun
Referendumsfragen konzentriert, die den Wählern in Kalifornien ebenfalls am
Dienstag gestellt werden. Altagracia hat eine Kampagne gegen "Vorschlag 23"
geführt, der die Vorschriften zur Luftreinhaltung wieder auflockern will.
Und sie hat versucht, Wähler für "Vorschlag 24" zu begeistern, der die
Steuererleichterungen für große Unternehmen abschaffen und die leeren
Staatskassen füllen soll.
Für Altagracia ist es die dritte Wahlkampagne ihres Lebens. Dabei war die
27-Jährige bisher nie stimmberechtigt. Sie ist - seit ihre Eltern sie als
sechsjähriges Kind aus Mexiko mit in die USA genommen haben - eine
"Illegale". Sie gehört zu den rund 12 Millionen Menschen, die ohne Papiere
in den USA leben.
"Wir sind weder von hier noch von da", sagt der 26-jährige Eric Huerta. Er
war sieben, als seine Eltern von Mexiko-Stadt nach Los Angeles
übersiedelten. Seine mexikanischen Verwandten hat er nie wieder gesehen.
Eric lebt mit dem Spanisch seiner Eltern. Und dem Englisch von Boyle
Heigths, einem fast ausschließlich von Latinos bewohnten Stadtteil im Osten
von Los Angeles. In Boyle Heights haben die Geschäfte spanische Namen. Im
Ortszentrum warten Mariachi-Musiker auf ihre Kunden.
Als Papierloser hat Eric die USA nie verlassen: "Ich kann ja nicht wieder
einreisen." Es ist ihm nicht möglich, den Führerschein zu machen. Er kann
keinen offiziellen Arbeitsplatz antreten - schon gar nicht im öffentlichen
Dienst. Und er hat keinen Anspruch auf ein Stipendium. So lange er zur
Schule ging, saß er in einer Klasse mit anderen Latinos, von denen viele in
einer ähnlichen Lage waren wie er. Danach wurde ihm bewusst, dass er ein
Außenseiter in seinem eigenen Land ist. Nach der Schule verkaufte Eric drei
Jahre lang Obstsäfte und Eis an einem Straßenrand in Los Angeles. "Ich war
deprimiert", sagt er.
Ohne Reform
Seit er studiert, geht es ihm besser. Er arbeitet heute als Reporter bei
einem Latino-Community-Projekt. Ist in Kontakt mit Latino-Künstlern. Und
hat sich einer Dream-Act-Gruppe angeschlossen. Solche Gruppen existieren an
jeder Unversität in den USA, an der es Latino-Studenten gibt. Sie benennen
sich nach einem Gesetzentwurf: Development, Relief and Education for Alien
Minors Act (Dream Act).
Und sie verlangen, dass der Dream Act in Kraft tritt, um den mehr als zwei
Millionen Jugendlichen und Studenten, die ohne Rechte in den USA leben, die
Staatsangehörigkeit zu geben. Der bisherige Gesetzentwurf sieht vor, dass
ein Universitätsstudium oder der Militärdienst ausreichen, um die
Staatsangehörigkeit zu erhalten.
Bislang hat die Mehrheit im Kongress das Gesetz abgelehnt. Eine der
Begründungen für die Ablehnung: Eine "Amnestie" würde neue "Illegale" in
die USA locken. Eric sagt in solchen Fällen: "Ich bin nicht freiwillig
gekommen, sondern als Kind hierher gebracht worden. Ich kenne nichts
anderes."
Die Gruppe an der Universität hat dem jungen Mann ein Gefühl von Stärke
gegeben. "Eines Tages werden wir Anwälte, Lehrer und Journalisten sein. Und
wir kennen das System. Gegen uns können sie nichts tun", ist er überzeugt.
Dürfte er wählen, würde er sein Kreuz bei den Demokraten machen. Vor allem
als kleineres Übel: "Die Republikaner wollen uns sogar das Recht streitig
machen, wie Inländer an US-Universitäten zu studieren."
Aber ein enthusiastischer Anhänger von Obama ist Eric nicht mehr. Er nennt
den Präsidenten einen "weißen Afroamerikaner". Und er glaubt, dass er den
Dream Act "nicht unterstützt, weil er nie in einem Stadtteil mit Banden und
Verbrechen gelebt hat."
Keith Rodriguez hat eine Mutter aus Mexiko-Stadt und einen Vater aus Texas
- "mit mexikanischen Vorfahren". Seinen englischen Vornamen verdankt er
einer alten Angst seines Vaters: "In den 60er Jahren war es in den USA
quasi unmöglich, mit einem mexikanischen Namen Arbeit zu finden. Das wollte
er mir ersparen." Sicherheitshalber hat Keith seiner Tochter wieder einen
englischen Namen gegeben.
Der vor 30 Jahren in den USA geborene Keith hat das Wahlrecht. Aber er
nimmt es seit 2000 nicht mehr in Anspruch. Zuletzt hatte er George W. Bush
gewählt. Inzwischen glaubt der Exsoldat, dass "alle Politiker alles
Mögliche versprechen, aber sich letztlich nicht an ihre Versprechen
halten."
Keith ist arbeitslos. Er nimmt an einer Umschulung teil. In seinem
Klassenraum sitzen 25 junge Leute, die meisten davon Latinos. "Mindestens
50 Prozent wählen nicht", ist Keith überzeugt. Er selbst will erst dann
wieder wählen gehen, wenn ein "Hispanic" zur Wahl steht - "egal aus welcher
Partei". Das Werben um die Stimmen der Latinos, die Wahlspots in diesen
letzten Tagen vor der Wahl, viele auf Spanisch, beeindrucken ihn nicht.
Dagegen wissen die Politiker, dass am Dienstag alle Wahlergebnisse von den
Latinos abhängen.
Die auf "Chicano Studies" spezialisierte Lehrerin Fabiola Torres hat
täglich mit erwachsenen jungen Latinos zu tun, die aus verschiedenen
Gründen nicht wählen. In ihren Klassen im Glendale Community College sitzen
durchschnittlich 30 Prozent Schüler ohne Papiere. Von den übrigen Schülern,
die theoretisch wählen dürfen, haben nicht wenige das Gefühl, es ginge sie
nichts an. Die Lehrerin wird ob dieser Apathie manchmal wütend: "Sie haben
alles. Aber sie nutzen es nicht."
An diesem Tag im Oktober lässt Fabiola Torres jeden Schüler eine
Persönlichkeit seiner Wahl aus der Chicano-Geschichte vorstellen. Die weiße
Tafel füllt sich mit den Namen von mexikanischen Rockmusikern,
mexikanischen Filmemachern und mexikanischen Schriftstellern. Alle sind
Grenzgänger zwischen zwei Welten. Das macht sie den Schülern ähnlich.
Auch die 38-jährige Fabiola ist Latina. Ihr Vater und ihre Mutter sind aus
Mexiko in die USA gekommen. Fabiola Torres würde keine Wahl auslassen. Auch
nicht die kommenden Midterms. Sie wird dieses Mal wieder demokratisch
wählen. Obwohl ihr zu Obamas Politik als Erstes eine Gegenfrage einfällt:
"Wäre McCain besser gewesen?"
Ihren Unterricht versteht die Lehrerin als "Sinn"-Vermittlung: "Ich kämpfe
jeden Tag gegen die Apathie." Die Chicano Studies sind für die meisten
Schüler die erste Gelegenheit, sich mit Leuten zu befassen, die aus
demselben Milieu kommen wie sie. "Das hilft, um zu verstehen, wer sie
sind", sagt die Lehrerin. "Und das kann dazu führen, dass sie eines Tages
merken, dass ihre Stimme zählt."
Altagracia, die Wahlkämpferin ohne Wahlrecht, wird am Dienstagabend
zusammen mit Kollegen von der Migrantenorganisation Chirla ein Wahlfest
veranstalten. Sie hat in den vergangenen Wochen oft vor verschlossenen
Türen gestanden. Manchmal kam von der anderen Seite auch ein Ruf: "Lasst
uns in Ruhe, wir haben jetzt die Staatsangehörigkeit. Euer Mist
interessiert uns nicht mehr."
Im Dezember bekommt Altagracia die US-Staatsangehörigkeit. Nachdem sie
geheiratet hat, konnte sie in diesem Jahr einen Antrag stellen. Danach ging
alles ganz schnell. Sobald sie Papiere hat, will sie die Pyramiden in
Mexiko besuchen, in deren Schatten sie zur Welt gekommen ist.
Eric hat vorerst keine Aussicht auf die Staatsangehörigkeit. Aber sobald er
sie bekommt, möchte er auch er ins Ausland reisen. Doch seine erste Reise
soll nicht ins Land seiner Vorfahren gehen, sondern nach Japan. Er ist
Manga-Fan.
28 Oct 2010
## AUTOREN
Dorothea Hahn
## TAGS
USA
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