# taz.de -- Debatte Gesundheitsreform: Agenda der Solidarität | |
> Die Bürgerversicherung ist ein Kernanliegen von SPD und Grünen. Damit sie | |
> Erfolg hat, muss die Mittelschicht darin einen Vorteil für sich erkennen. | |
Bild: So oder so voller Bakterien: Geld. | |
Die Bürgerversicherung ist in ihrer Dimension vergleichbar mit der Agenda | |
2010 oder dem Ausstieg aus der Atomenergie. In der privaten | |
Krankenversicherung sind fast 9 Millionen Menschen versichert. Sie werden | |
vermutlich größtenteils massive Vorbehalte gegen die Bürgerversicherung | |
haben, weil sie glauben, die Umstellung bringe ihnen nur Nachteile. | |
Das ist eine größere Gruppe als die direkt von den Hartz-Gesetzen | |
Betroffenen. Und diese Gruppe ist einkommensstärker, besser organisiert und | |
besser in den Medien verankert, als es alle Arbeitslosen Deutschlands je | |
waren. Die Universitätsprofessoren, ein großer Teil der Ärzteschaft, viele | |
Gutachter und Richter, die der privaten Assekuranz geneigt sind, im Süden | |
Münchens wohnende "Wirtschaftsjournalisten" überregionaler Zeitungen und | |
viele Beamte - sie alle werden das Projekt verhetzen, so gut sie können. | |
Will man diese Reform durchsetzen, muss man Mut und Geschick beweisen, | |
sonst droht ein Desaster. Beachtet werden muss auch, dass es in den eigenen | |
Reihen - sowohl der SPD als auch der Grünen - Skeptiker und Widersacher | |
gibt. Die Skeptiker glauben, das Projekt wäre den Kampf nicht wert oder | |
würde scheitern. Die Widersacher, bis heute noch weitgehend stumm, halten | |
die Bürgerversicherung aus diversen Gründen für falsch und sind, kulturell | |
oder ideologisch, oft nahe an den Lobbygruppen, die das Projekt bekämpfen | |
werden. | |
Eine Idee von der Parteibasis | |
Was muss also getan werden? Zunächst gibt es auf der Habenseite bereits | |
zwei wichtige Voraussetzungen, die das Projekt von der Agenda 2010 | |
unterscheiden. Im Gegensatz zur Agenda ist der Gedanke der | |
Bürgerversicherung als Vision in der Basis der SPD und der Grünen fest | |
verankert. Es handelt sich nicht um eine Idee der Parteispitzen, sondern | |
der Parteibasis, die zum Teil auch gegen Vorbehalte früherer Parteispitzen | |
von der Basis durchgestimmt wurden. | |
Niemand käme auf die Idee, die Bürgerversicherung als Idee von Sigmar | |
Gabriel oder Jürgen Trittin zu bezeichnen, obgleich die beiden jetzt an der | |
Speerspitze der Bewegung stehen. Ich würde sogar sagen, dass es neben dem | |
Mindestlohn kein politisches Ziel in der SPD gibt, das so eindeutig und | |
stark von einer jeden zukünftigen SPD-geführten Regierung erwartet würde. | |
Entsprechend hoch ist die Fallhöhe. Jede Glaubwürdigkeit der | |
SPD-Parteispitze wäre verloren, wenn man die Bürgerversicherung später | |
nicht einführen würde. Die Bürgerversicherung ist auch die Möglichkeit der | |
SPD, interne und externe Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. | |
Die zweite wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist die soziale Spannweite | |
der Bürgerversicherung. Von der Agenda 2010 konnten nur Arbeitslose zu | |
profitieren hoffen. Beim Abbau der Zweiklassenmedizin, der mit der | |
Bürgerversicherung verbunden ist, und der gleichzeitigen Sicherung der | |
finanziellen Basis unserer Krankenversicherung kann die Gruppe der | |
potenziellen Gewinner als sehr viel größer gelten. Die Bürgerversicherung | |
ist ein Projekt der solidarischen Mitte - also von Menschen, die sich in | |
der ökonomischen und politischen Mitte der Gesellschaft befinden, aber im | |
Bereich von Bildung und Gesundheit keine Qualitätsunterschiede nach | |
Einkommen akzeptieren. | |
Was Grünen-Wähler trifft | |
Damit die solidarische Mitte die Bürgerversicherung annimmt, muss sie klare | |
Verbesserungen für diese Gruppe mitbringen. Dazu genügt die im Konzept der | |
Grünen ausgewiesene Beitragssatzsenkung von 1,6 Prozent allein nicht, zumal | |
diese in erster Linie nur durch eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze | |
erzielt wird, die viele Wähler der Grünen hart treffen wird. Notwendig ist | |
eine gleichzeitige Lösung wichtiger Strukturprobleme in unserem System. | |
Das Konzept der Bürgerversicherung der SPD, das gerade von einer | |
Arbeitsgruppe um Andrea Nahles entwickelt wird, sieht daher vier | |
Strukturreformen vor: die Neufinanzierung und -organisation der Prävention | |
in Schulen und Betrieben, die Vermeidung eines Hausärztemangels, den Ausbau | |
der Krankenhauspflege und eine Senkung der Arzneimittelpreise auf das | |
europäische Durchschnittsniveau. Eine bessere und gerechtere Finanzierung | |
eines insgesamt ineffizienten Systems wäre nicht vermittelbar. | |
Gleichzeitig müssen Hausärzte und Pflegekräfte auch als Verbündete für die | |
Reform gewonnen werden. Eine Bürgerversicherung kann gegen ihren Widerstand | |
nicht durchgesetzt werden. Vor der Zwangseinbeziehung der jetzt bereits | |
privat Versicherten, die die Grünen fordern, ist zu warnen. Strittig ist | |
erstens, ob dies juristisch überhaupt möglich ist. Zweitens wäre die | |
Bürgerversicherung zu leicht als Enteignungsprojekt verhetzbar. Gerechter | |
wäre es, den Altversicherten der PKV innerhalb einer Frist eine Option zum | |
Übertritt zu gewähren. Da jeder sich dann entscheiden könnte, gäbe es kein | |
Unrecht. | |
Keine Nivellierung nach unten | |
Die bestehende Zweiklassenmedizin muss man beseitigen, indem die | |
Honorarsysteme der Krankenhäuser und Ärzte zwischen PKV und GKV | |
vereinheitlicht werden. Dabei ist der Eindruck einer Nivellierung nur nach | |
unten unbedingt zu vermeiden; auch hier hat das Konzept der Grünen noch | |
Schwächen. Und schließlich muss die Erhebung anderer Einkommen gleichzeitig | |
unbürokratisch sein und einen positiven Impuls für den Arbeitsmarkt | |
bringen. | |
Wenn die Erhebung anderer Einkommensarten unbürokratisch sein soll, ist die | |
Verbeitragung durch die Krankenkassen als Quasifinanzämter keine brauchbare | |
Lösung, es muss also mit einer Steuerkomponente gearbeitet werden. Und | |
einen Impuls für den Arbeitsmarkt kann es nur dann geben, wenn sich durch | |
das Konzept die Abgabenlast in der Summe von Steuern und Abgaben bei | |
Geringverdienern mit regulären Arbeitsplätzen verringert, sodass ein Anreiz | |
entsteht, von der prekären zur regulären Beschäftigung zu wechseln. | |
Die Bürgerversicherung muss es schaffen, dass gerade bei Geringverdienern | |
mehr Netto vom Brutto bleibt. Nur wenn das Konzept der Bürgerversicherung | |
als gerecht, effizient, fördernd und unbürokratisch besticht, ist es gegen | |
den massiven Widerstand, der erwartet werden muss, durchzusetzen. | |
20 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Karl Lauterbach | |
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