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# taz.de -- Bremen im Jahre neun nach Pisa: "Eine Schule für alle"
> Bremen fiel bei Pisa durch. Es folgten Reformen, die eine "Reparatur am
> fahrenden Auto" waren. In einer Schule gelang das Kunststück. Dort wird
> kein Kind nach unten durchgereicht.
Bild: Gemeinsam lernen, die Schwächern stärker fördern: Das ist auch das Kon…
BREMEN taz | An ihrem ersten Schultag setzte sich Joanna Malenda in Byków
in Polen den Ranzen auf, der voll von Büchern war. Als sie sich bücken
musste, fiel sie vornüber. Tom Schmidt, ein Junge aus Bremen, bekam am
selben Tag zum ersten Mal Hausaufgaben auf. Die Kindergartenzeit war damit
endgültig vorbei. Das war im Jahre 2001.
Ein Jahr zuvor hatten Wissenschaftler 1.466 Schulen in Deutschland besucht
und 15-Jährige in Lesen, Mathe und Naturwissenschaften getestet. Die
Ergebnisse der ersten sogenannten Pisa-Studie zeigten: Im Vergleich mit
anderen Industrieländern schnitten deutsche Schüler unterdurchschnittlich
ab.
Wer bis dahin geglaubt hatte, deutsche Schulen funktionierten bis auf
wenige Ausnahmen ganz gut, sah sich enttäuscht. Das ganze System war
fehlerhaft. In keinem anderen Land waren die Unterschiede zwischen den
Jugendlichen so groß, war der Schulerfolg so stark abhängig vom Elternhaus.
In Bremen aber war das alles noch ein bisschen extremer.
In Bremen gehen Tom und Joanna heute zur Schule - in die zehnte Klasse der
Oberschule In den Sandwehen. Sie gehören zu der Generation, die bei der
Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie eingeschult wurde. Letztes Jahr
wurde dieser Jahrgang im Rahmen der nunmehr vierten Pisa-Studie getestet.
Neun Jahre liegen zwischen den beiden Erhebungen, nach neun Jahren, so
sagen Bildungsforscher, könne man erstmals feststellen, ob sich wirklich
etwas bewegt hat. Die Ergebnisse der Toms und Joannas werden es zeigen. So
viel ist klar: Reformmüde waren die Bremer nicht.
Dreimal Namenswechsel
Dreimal wurde die Schule in den vergangenen zehn Jahren umbenannt. Aus dem
Schulzentrum wurde zuerst die Integrierte Stadtteilschule, heute heißt sie
nun Oberschule. Die Schule liegt abgelegen am nördlichen Stadtrand von
Bremen. Es sei dennoch einfach, dorthin zu kommen. Auch kurzfristig.
"Kriegen wir hin", sagt Schulleiter Friedrich-Karl Jostes am Telefon.
"Kriegen wir hin."
Jostes, ein untersetzter Mann, drückt einem kräftig die Hand. Seit 1979 ist
er an der Schule, es gab damals drei streng getrennte Sektionen: eine für
Hauptschüler, eine für Realschüler und eine für Gymnasiasten. Die Hälfte
der Klassen gehörte damals zum Hauptschulzweig, doch zwei Drittel der
Hauptschüler waren so gut wie die Realschüler, schätzt Jostes. An der
Aufteilung änderte sich 25 Jahre lang nichts - nur wurden die Hauptschüler
immer schlechter.
Als im Jahr 2000 die Pisa-Forscher durchs Land reisten, waren an den
städtischen Hauptschulen nur noch jene Kinder, die keine andere Schulform
mehr haben wollte - jene Kinder, deren Eltern wenig Geld, wenig Bildung und
wenig Macht hatten, das zu ändern. Auch die Schule In den Sandwehen nahm
damals an den Tests teil. Jostes, gerade Schulleiter geworden, bekam die
Ergebnisse zugeschickt. Sie liegen immer noch im Schrank. "Ich werde einen
Teufel tun und sie rausgeben", sagt er schnell. Warum nicht? Der Vergleich
unter so ungleichen Startbedingungen sei nicht fair gewesen.
Aber mit Lehrern und Eltern diskutierte er die Ergebnisse. "Es nützt
nichts, daran rumzumäkeln." Die Misere anzuerkennen war der erste Schritt
zur Veränderung, und diese, das war Jostes klar, konnte nur mit den Lehrern
gelingen. Mit denen, die schon da waren, und denen, die die Pisa-Ergebnisse
ihrer Schüler wie eine Ohrfeige vorkamen. Hatten sie denn nicht immer gute
Arbeit geleistet?
Die Lehrer mussten umdenken, die Schule musste sich verändern und der
Unterricht natürlich auch. "Schulentwicklung ist Personalentwicklung."
Jostes sagt es laut und überzeugt. Als andere noch jammerten, dass die
Stadt zu wenig Fortbildungen anbiete, rief der Schulleiter bei der
Bosch-Stiftung an. Die hatte 2003 ein Programm aufgelegt, in dem Lehrer
dazu ausgebildet wurden, im Team zu arbeiten. Seitdem arbeiten die Lehrer
hier in Teams zusammen. Bis zu acht Lehrer eines Klassenzuges müssen ihren
Unterricht gemeinsam planen und über Fächergrenzen hinausdenken.
Joanna und Tom warten vor Jostes Büro. Die beiden Schülersprecher führen
durch ihre Schule und beginnen im alten Schulteil mit den Werkstätten, der
Küche und dem Nähraum. Kochen, Werken oder Nähen muss jeder Schüler hier
ein Jahr lang belegen. Tom wechselte 2005 an die Schule. Seine Eltern, der
Vater Tischler, die Mutter Hausfrau, hatten sie für ihn ausgesucht, weil
eine Gesamtschule kleinere Klassen hat. Dabei wollte Tom aufs Gymnasium,
wie seine Freunde. Wenn er sie heute trifft, bereut er die Wahl nicht. "Die
haben nie Zeit, sind immer am Lernen. Hier ist alles entspannter."
Im Jahr 2004, ein Jahr bevor Tom hierher kam, hatte das Kollegium
beschlossen, Haupt- und Realschulklassen zusammenzulegen. Weil es nichts
bringt, sagt Jostes, alle "Pappnasen" in eine Klasse zu stecken. In so
einer Klasse zähle nämlich nur noch, wer den größten Blödsinn macht. Doch
das habe sich grundlegend geändert. "Wenn ich die Laura neben den Mustafa
setze und Mustafa blödelt rum, dann muss Laura nur mal ,pst!' machen. Dann
ist Ruhe."
"Eine Schule für alle" lautet der Slogan seitdem auf der Homepage der
Schule. Soll heißen, niemand wird von einer Schulform in die andere nach
unten durchgereicht.
Tom erzählt, dass er in der siebten Klasse plötzlich keinen Bock mehr hatte
auf Schule; er lernte nicht mehr und machte nie Hausaufgaben - die
Pubertät. Die Lehrer redeten mit ihm, immer wieder. Tom wollte das lange
nicht hören. Doch in der achten Klasse ging es wieder aufwärts. "Die hatten
echt viel Geduld, ich glaube, woanders wäre das schiefgegangen."
Wer sich hier gut anstellt, kann nach der zehnten Klasse in die gymnasiale
Oberstufe an eine Partnerschule wechseln. Tom könnte es mit seinem
Zweierdurchschnitt schaffen. Doch ihm reicht der Realschulabschluss, um
Bankkaufmann zu werden.
Joanna will Abitur machen. Leise sagt sie: "Es wird zu wenig für die
Leistungsstarken getan. Die Lehrer fördern vor allem die Schwachen." Tom
hakt ein: "Da ist doch richtig, wir müssen uns darauf konzentrieren, dass
auch die im Unterricht mitkommen." Joanna schweigt, doch ihre Miene zeigt,
dass Zweifel bleiben.
Der zweitälteste Sohn von Maike Becker zum Beispiel hat das nicht
ausgehalten, immer der Beste zu sein und immer sein Wissen an andere
weiterzugeben. Seine Mutter hat ihn daher wieder abgemeldet und auf ein
Gymnasium geschickt. Maike Becker, ehemalige Elternvertreterin, arbeitet
hier in der Schule. Sie betreut die Theke der Mediathek und die Homepage
der Schule. "Für unseren zweitältesten Sohn war diese Schulform nicht gut"
sagt sie. "Aber für viele ist sie richtig", schickt sie hinterher. Ihr
ältester Sohn etwa hatte eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Im Sommer verließ
er die Schule mit einem sehr guten Realschulabschluss. "Hier werden Kinder
nicht kleingemacht."
Tom und Joanna sind am "Lesegarten", wie die Bibliothek hier heißt,
angekommen. An den Tischen sitzen oft auch die Lehrer und Studenten, die
zusätzlich Förderunterricht geben. Die Kinder können hierherkommen, aber
sie müssen nicht. Das ist der Unterschied. Es soll kein Stigma sein, in der
Pause Deutsch zu üben. Maike Beckers Ältester hat nicht am
Extraförderunterricht teilgenommen, er hat das im Unterricht geschafft.
Lehrer und Mitschüler haben ihm geholfen. In einer Hauptschule wäre er wohl
untergegangen, denn über 70 Prozent der Bremer Hauptschüler konnten 2003
kaum lesen. Bremen hat daher 2009 als erstes Bundesland Haupt-, Real- und
Förderschulen abgeschafft. Bald wird es nur noch Oberschulen und Gymnasien
geben.
Joanna und Tom sind im neuen Schulteil angekommen. Sie wollen die Mensa
zeigen. Der Bund legte 2003 ein Programm für Ganztagsschulen auf. Die
Schule In den Sandwehen verbaute von den 12 Millionen Euro für Bremen 3,2
Millionen. Als die Mensa fertig war, begann Phase 2 der Runderneuerung. Die
Schule wurde Ganztagsschule. Der Schultag geht bis in den Nachmittag. Das
bedeutet: Frühstück, Mittag, Arbeitsgemeinschaften, Nachhilfe und
Hausaufgabenbetreuung gratis für alle.
Alles außer Ferien
Emily und Ranja sind gerade beim Frühstück. "Ich mag alles außer Ferien",
ruft Emily überschwänglich und klatscht in die Hände. Ihre Freundin Ranja
nickt. "Am liebsten würde ich immer hier sein." Emily will vielleicht mal
Kinderärztin werden oder Bäckerin. Alles scheint möglich, ihre
Oberschulzeit hat gerade erst begonnen.
Es ist immer noch dieselbe Klientel, doch die Schüler sind anders, sinniert
Maike Becker in der Mediathek. Es gibt keine Kritzeleien, die Atmosphäre
ist ruhiger. Eine gute Schule, hatte Schulleiter Jostes gesagt, ist eine,
in der die Armen nicht arm bleiben. Diesem Ziel sei er mit seinem Kollegium
gefolgt, Lehrern und Schülern seien deshalb so viele Reformen zugemutet
worden. "Das war wie eine Reparatur am fahrenden Auto."
Die Führung ist beendet. Joanna kam 2006 mit ihrer Familie nach
Deutschland, sie absolvierte hier an der Schule einen Deutschintensivkurs
und erhält in diesem Jahr als erste Schülerin der Schule ein Stipendium der
Bundesregierung für Schüler mit Migrationshintergrund. "Mir ist Schule
wichtig, denn ich will später was werden." Ihr Deutsch ist akzentfrei.
An Schulen, die schon fast abgeschrieben waren, gibt es inzwischen
Vorzeigeschüler wie Joanna. Am Dienstag wird nun die neueste Pisa-Studie
vorgestellt. In Bremen glaubt natürlich keiner, dass Deutschlands Schüler
plötzlich alle Überflieger geworden sind. Für den Schulleiter zählt eine
andere Liste. Darauf stehen die Namen der 139 Schulabgänger dieses Jahres.
Der messbare Erfolg: Vor sechs Jahren hatten die Grundschulen nur 8 Prozent
von ihnen eine Gymnasialempfehlung gegeben. Jetzt aber wechselten 32
Prozent dieses Jahrgangs auf die gymnasiale Oberstufe. Im nächsten Frühjahr
wird Jostes sie anrufen. Dann wird er wissen, ob sich der Aufwand gelohnt
hat.
6 Dec 2010
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
Schule
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