# taz.de -- Henryk M. Broder interviewt Thilo Sarrazin: "Es war ein langer und … | |
> Was ist so schlimm daran, wenn sich Deutschland selbst abschafft? Und was | |
> antwortet Thilo Sarrazin seinen Kritikern? Henryk M. Broder hat für die | |
> taz nachgefragt. Das Interview in ganzer Länge. | |
Bild: Thilo Sarrazin (re): "Ich habe das Gefühl, es nicht ganz falsch gemacht … | |
Henryk M. Broder: Herr Sarrazin, es sind auf den Tag genau drei Monate, | |
seit die beiden Vorabdrucke im Spiegel und in der Bild erschienen sind. | |
Drei Monate sind eine kurze Zeit, oder eine lange Zeit, je nachdem. Wie | |
geht es Ihnen heute? | |
Thilo Sarrazin: Ja, ich bin immer noch dabei, mich daran zu gewöhnen. Und | |
ich habe das alles noch nicht verarbeitet, mental wie auch intellektuell. | |
Das wird noch einige Zeit dauern. | |
Geht es Ihnen wie jemand, der, sagen wir, einen Unfall mit seinem Auto | |
hatte und erst langsam begreift, was passiert ist? | |
Ja, es hat schon sehr viel verändert. Ich bin auf einmal Pensionär. Das war | |
nicht geplant Ich habe natürlich immer noch genug zu tun. Aber trotzdem, es | |
ist schon anders. Es ist nicht schlecht, nur ungewohnt. Ich bin berühmt, | |
was ich in dieser Form nie war. Ich war bekannt, aber nicht berühmt. Und | |
die Leute begegnen berühmten Menschen anders. Auch das ist interessant zu | |
sehen. | |
Und wenn ich dann mein Buch lese, was ich bisweilen tue, bin ich immer | |
wieder darüber erstaunt, dass ein trockener, sachlicher Text – ich halte | |
ihn für gut geschrieben, aber es sind vor allem Tabellen, Zahlen Fußnoten | |
-, dass solch ein trockener, sachlicher Text so viel Staub aufwirbeln kann. | |
Obwohl gar nicht so wahnsinnig viel Neues drin steht. Verglichen mit | |
anderen Autoren, zum Beispiel Ihnen, Herr Broder, bin ich geradezu von | |
staatsmännischer Zurückhaltung. Das, was Sie schreiben, und das, was ich | |
schreibe, wird ganz verschieden aufgenommen. | |
In Deutschland hat das Tradition, dass man Akademikern mehr übel nimmt als | |
Angehörigen der niederen Stände. | |
Gut, ich will mich nicht beklagen. Ich halte es da mit Churchill: Never | |
explain, never complain. So muss man das machen in der Politik, wenn man | |
sich aus dem Fenster lehnt. | |
Das heißt, Sie kämpfen noch mit der allerjüngsten Geschichte? Ihrer | |
allerjüngsten Geschichte? | |
Nicht mit meiner allerjüngsten Geschichte. Sondern mit der Gesamtrezeption, | |
die ich noch verarbeiten muss. Ich habe den größten Teil dessen, was über | |
mich geschrieben wurde, gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe | |
ausgewählt, den Spiegel und die FAZ gelesen, und das war es. Sonst habe ich | |
gar nichts gelesen und auch keine Nachrichten gehört, so dass ich die | |
meisten Dinge, die in der taz, in der Süddeutschen, in der Frankfurter | |
Rundschau und in der Zeit über mich standen, nicht mitbekommen habe. | |
Sie waren nicht mal neugierig? | |
Nein, ich war nicht neugierig. Ich habe mir gedacht: Du musst jetzt in | |
dieser Phase erstmal die Ruhe bewahren, und dazu gehört auch, dass man sich | |
nicht mit allen und allem auseinandersetzt. Und wenn ich doch was las, | |
meist unterwegs in Hotels, habe ich mich gleich aufgeregt, was einem nicht | |
gut tut. | |
Zum Beispiel? | |
Da las ich irgendwann in der Frankfurter Rundschau ein Interview mit dem | |
ausscheidenden Präsidenten des Bundesamtes für Migration, einem Herrn | |
Schmidt, der behauptete, meine Zahlen seien falsch. Das war einfach Unsinn. | |
Er behauptete völligen Mist in verleumderischer Absicht. Daraufhin habe ich | |
aus dem Hotel heraus der Frankfurter Rundschau eine böse Mail geschrieben, | |
in der ich alles richtig stellte, und die Mail kam dann nach einem halben | |
Tag zurück. | |
Sie hatten sich vertippt? | |
Nein, ich hatte mich nicht vertippt, sondern die Frankfurter Rundschau hat | |
in ihrer Papierausgabe keine Mailanschrift für Leserbriefe. Das geht nur | |
per Post. Ist auch eine Art, sich der Dinge zu entledigen. | |
Dieses Ignorieren war Ihr cordon sanitaire zum Schutz vor Aufregung? | |
Ja, man kann auch als Soldat nicht ständig nachdenken über alle Gefahren. | |
Man liegt irgendwo im Graben, muss raus, und dann sagt man sich: Na ja, ein | |
bisschen Luft ist da noch zwischen den Kugeln. Nicht jede Kugel trifft. | |
Dinge, die man nicht ändern kann, muss man akzeptieren. Ich werde aber mit | |
einigen Monaten Abstand, ab kommenden März etwa, alles, was seinerzeit über | |
mich geschrieben wurde, lesen. Der Verlag hat alles gesammelt. Und dann | |
werde ich versuchen, die ganze Diskussion nachzuvollziehen. | |
Haben Sie mitbekommen, was der stellvertretende Chefredakteur des ZDF über | |
Sie gesagt hat? | |
Das ist mir berichtet worden. Er hat es, glaube ich, am 30. August gesagt, | |
auf meiner Pressekonferenz. | |
Es war nach der Pressekonferenz. In heute, bzw. dem heute journal. "Thilo | |
Sarrazin verlässt den Konsens dieser Demokratie". Und: "Thilo Sarrazin will | |
einen anderen Staat, nicht offen und gastfreundlich, sondern abweisend, | |
respektlos, fremdenfeindlich." | |
Das sind genau die Worte, die ich sprachanalytisch auseinandernehmen werde. | |
Ich werde fragen, ob es zum Konsens gehört, dass man mit verbundenen Augen | |
durch die Welt läuft. Wenn das der Konsens der Demokraten ist, dann wird | |
man nicht sehr weit kommen, weil man am nächsten Baum landet. So begann der | |
Kommunismus, so beginnen Utopien und Diktaturen: dass man sich ein Bild von | |
der Wirklichkeit macht, und dann kämpft man mit diesem Bild oder gegen | |
dieses Bild, aber nicht mit der Wirklichkeit. Und das ist Ideologie. | |
Frau Käßmann hat sinngemäß gesagt, wenn Bevölkerungsgruppen derart | |
diffamiert werden, wie Sie es tun, dann führt das über Ausgrenzung bis hin | |
zur "Auslöschung von Menschenleben." | |
Vielleicht hat sie das Buch gar nicht gelesen. Oder sie hat beim Lesen | |
wieder mal ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Wenn die Buchstaben dann | |
auseinander laufen, dann kann schon mal was missverstehen. Ich frage | |
mittlerweile immer, wenn ich Menschen treffe, prominent oder nicht | |
prominent, die über mein Buch reden, lobend oder tadelnd, als erstes: Haben | |
Sie es gelesen? Und wenn die Antwort lautet: "Nein, habe ich nicht", dann | |
beende ich das Gespräch. Freundlich oder unfreundlich. Zu den einen sage | |
ich: Seien Sie mal nicht mit Ihrem Lob voreilig. Wenn Sie es lesen, finden | |
Sie es ja vielleicht schrecklich. Und zu den anderen sage ich: Wenn Sie es | |
gelesen haben, können wir uns ja mal drüber unterhalten, | |
Aber ganz ehrlich, Herr Sarrazin: Finden Sie die Debatte über ihr Buch | |
nicht viel spannender als das Buch selbst? | |
Das Buch kenne ich ja schon. Und das Unbekannte ist natürlich immer | |
spannender als das Bekannte. Vieles von dem, was ich geschrieben habe, was | |
mir angekreidet wird, haben andere vor mir geschrieben. Es ist ja nicht in | |
dem Sinne ein originelles Buch, dass ich mir völlig neue Sachen ausgedacht | |
hätte. | |
In Köln würde man dazu sagen: Aus einem Furz ein Fackelzug gemacht. | |
Für einen Furz ist das Buch doch ein bisschen zu dick. Und dafür war es | |
auch zu anstrengend. War schon ein ziemlich langer und lauter Furz, wenn | |
man das mal so sagen darf. Zum Beispiel wird immer wieder geschrieben, ich | |
hätte behauptet, Muslime seien genetisch dümmer. Steht nirgendwo in meinem | |
Buch, nirgendwo. Wäre auch ganz falsch. Das ist ein absolutes | |
Missverständnis, aber es ist nicht aus der Welt zu schaffen, weil es so | |
schön ist. | |
Aber natürlich ist es zulässig, Schlussfolgerungen zu ziehen. Auch ein | |
Satz, der in ihrem Buch nicht drinsteht, kann so als Conclusio verstanden | |
werden. | |
Es ist ja niemandem genommen, über das Buch hinaus nachzudenken. Es gilt | |
immer Goethes Wort: Das Geheimnis zu langweilen, ist alles zu sagen. | |
Kommt es vor, dass Sie morgens aufstehen und dann nach dem Wachwerden | |
anfangen, Ihre Tasche zu packen, weil Sie glauben, Sie müssten nach | |
Frankfurt fahren? | |
Nein. Dazu war die Zeit zu kurz in Frankfurt. Ich war ja nur anderthalb | |
Jahre bei der Bundesbank. Mein Leben hat sich in dieser Zeit zu großen Teil | |
in der Bahn abgespielt, nämlich von und nach Frankfurt, also quer durch | |
Deutschland. Und das ist jetzt auch der Fall. Meine eigentlich Heimat ist | |
im Augenblick der ICE. | |
Aber immerhin in der ersten Klasse. | |
Ja. Ich habe die Bahncard 100 erste Klasse. Das ist schon eine sehr schöne | |
Erwerbung. | |
Harald Schmidt nennt diese Bahncard "Die schwarze Mamba". | |
Ein schöner Ausdruck. Es ist schon was Tolles. Man steigt überall ein, man | |
hat es immer geheizt, Man kriegt immer heißen Kaffee. | |
Sagen die Schaffner schon: Grüß Gott, Herr Sarrazin, wohin geht es heute? | |
Die Schaffner sind das dienstleistende Personal, dem ich begegne. Die sind | |
rundum und umfassend begeistert von mir. Aus welchen Gründen auch immer. | |
Ich habe schon viele Bücher für Bahnschaffnern signiert. Kürzlich stand ich | |
auf dem Bahnhof in Köln. Hält mich ein Mann in Arbeitskleidung an: "Sie | |
sind doch der Sarrazin, ich möchte ein Autogramm von Ihnen", und holt so | |
einen Block raus, DB Netz AG Streckenplan. | |
Das vermittelt doch ein gewisses Wohlgefühl, oder? | |
Ja, das muss ich sagen. Das Gefühl, dass man es nicht ganz falsch gemacht | |
hat. | |
Ist schon mal das Gegenteil passiert, dass ein Taxifahrer Sie im Regen | |
stehen ließ, weil Sie der Sarrazin sind? | |
Wenn es passiert ist, dann ist mir das nicht aufgefallen. Neulich stieg in | |
Spandau aus, und es war schon spät. Der Taxifahrer sah türkisch aus und | |
sprach auch so. Als wir dann bei mir zu Hause ankamen, stieg er aus, gab | |
mir die Hand, was für einen Taxifahrer ungewöhnlich ist, und machte so eine | |
Geste: Gut gemacht, sagte er. Das war ein Lob aus unerwartetem Munde. | |
Sozusagen ein Lob mit Migrationshintergrund. | |
Ja. Es gibt viele, die hier leben, die Deutschland als ihre Heimat ansehen | |
und es nicht gut finden, dass ein Teil ihrer Landsleute oder andere | |
Migranten das nicht so sehen. | |
Herr Sarrazin, völlig im Ernst: Sie haben doch den Jackpot getroffen. Sie | |
haben ein Buch geschrieben, das zum Bestseller wurde. Über eine Million | |
verkaufte Exemplare. Sie sind bekannt, sie sind offenbar auch beliebt, | |
zumindest beliebter als zu der Zeit, als Sie noch Finanzsenator waren. Das | |
ist doch eigentlich was ganz Positives? | |
Ich habe mich ja auch nicht beklagt. Ich habe gesagt: Never explain, never | |
complain. Ich habe nur mit der Situation noch nicht abgeschlossen. | |
Aber das würde sich eigentlich jeder Autor wünschen, so einen Hype, eine | |
hohe Auflage und die Liebe der Menschen. | |
Ja, das ist Autorenglück. Völlig klar. Nur muss ich aber jetzt | |
unterscheiden: Was ist der Qualität des Autors Sarrazin geschuldet, und was | |
ist meinem Bekanntheitsgrad geschuldet, den Funktionen, die ich davor | |
hatte. Das muss ich auseinander halten. Und da muss ich zugeben, dass ich | |
eine Reihe unfreiwilliger Helfer gehabt habe: Präsident Wulff, | |
Bundeskanzlerin Merkel, Parteivorsitzender Gabriel, Heribert Prantl, die | |
waren ja alle in meinem Sinne tätig. Die könnten jetzt alle zu mir kommen | |
und Provision verlangen. | |
Am Ende ist es der Genosse Zufall. Es gab vor ein paar Jahren einen | |
grauenhaften Unfall über der Schweiz. Da sind zwei Maschinen | |
zusammengestoßen. Eine der Maschinen hätte nur 15 Sekunden später starten | |
müssen, und es wäre nicht zu diesem Unfall gekommen. Könnte es bei Ihnen | |
auch so sein, dass viele Faktoren zusammen kamen, mit denen sie nicht | |
gerechnet hatten? | |
Schon möglich. Die Elemente sind alle bekannt, aber die Mischung: | |
Demographie, Fertilität, Intelligenzverteilung in der Bevölkerung, | |
Zuwanderung, das war schon brisant. Das habe ich auch so gesehen, als das | |
Buch fertig war. Ich bin dann auch den meisten Textentschärfungsvorschlägen | |
des Verlages brav wie ein Lamm gefolgt. Irgendwann in einer Spätphase | |
meinte der Verlag, ich sollte doch überall das Wort "Rasse" durch "Ethnie" | |
ersetzen. Das habe ich dann auch gemacht. Das war mir völlig egal. Ich habe | |
mich nur bei den Zitaten von Charles Darwin geweigert. Das wäre wie | |
Urkundenfälschung. Wenn er im englischen Original "race" sagt, da muss ich | |
auch im Deutschen Rasse sagen. Aber alles andere war mir völlig egal. | |
Man hat Ihnen oft vorgeworfen, Sie hätten es auf einen Skandal ankommen | |
lassen. Jetzt erzählen Sie das so, als hätten Sie zwar die Brisanz des | |
Buches schon früh gesehen, aber doch die Folgen nicht geahnt. | |
Das war ja auch nicht zu ahnen, weil der Skandal fand nicht über Inhalte | |
des Buches sondern über Rezeptionsprozesse statt. An den Inhalten war | |
nichts, was man ohne weiteres angreifen konnte. Insoweit hat für mich die | |
Reaktion schon in den ersten Tagen jedes Maß verloren und sich vom Anlass | |
völlig gelöst. | |
So ist das eben bei einem Tabubruch. | |
Ein Tabu ist ja etwas, das man rational nicht hinterfragt. Man zeigt sich | |
nicht nackt in der Rudi-Dutschke-Straße. Obwohl, wenn es heiß ist, warum | |
nicht? Aber es ist ein Tabu. Man tut es eben nicht. Und wenn Tabus verletzt | |
werden, dann kann es auch zu irrationalen Reaktionen kommen. Das | |
Interessante dabei ist, dass es in unserer ungleichzeitigen Gesellschaft in | |
unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Tabus gibt. Und ohne dass mir | |
das bewusst war, hat wohl ein großer Teil der politischen Klasse auf | |
gewissen Gebieten andere Tabus als ich. Offenbar auch ein Großteil der | |
Medien-Klasse. | |
Aber Sie sprachen gerade davon, dass das meiste, was über Sie geschrieben | |
wurde, bekannt war. Oder es in verschiedenen Quellen schon einmal | |
dokumentiert wurde. | |
Ja, die 550 Fußnoten sagen ja, dass ich aus 550 verschiedenen Quellen | |
geschöpft habe. | |
Das heißt, es war doch kein Tabu. Ich versuche, dem "Urknall Sarrazin" auf | |
die Spur zu kommen. | |
Ich auch. Ich glaube, wir Deutschen haben ein besonderes Problem damit, | |
dass Menschen von Geburt an verschieden sind. Einerseits sind wir alle | |
Menschen, andererseits sind wir nicht nur männlich und weiblich; wir sind | |
auch groß und klein, klug oder weniger klug, wir haben unterschiedliche | |
Temperamente, und wir werden auch durch unsere kulturelle Herkunft | |
unterschiedlich geprägt, ohne dass wir das später wieder einfangen können. | |
Wenn wir zehn sind, sind wir kulturell geprägt durch unsere Gesellschaft, | |
können uns auch nur noch wenig verändern. Das ist auch das, was die Empirie | |
sagt. | |
Was uns immer noch zu schaffen macht, das sind die Spätfolgen der | |
mörderischen Ideologie vom "Untermenschen". Diese Erfahrung hat uns | |
Deutsche zu Recht tief geschockt und den Rest der Welt auch. Auf die Dauer | |
führt sie aber in eine Art von ethisch hochstehender | |
Wirklichkeitsverweigerung, wenn man sagt, weil es keine Untermenschen gibt, | |
sind alle Menschen gleich. Ich finde, dass die amerikanische | |
Unabhängigkeitserklärung das Problem klug angepackt hat… | |
…all men are born equal. | |
Ja, born equal, als Gleiche geboren. So kann man es am besten übersetzen – | |
und dann können die Menschen ihren Weg gehen, auf der Suche nach dem | |
"pursuit of happiness". Und da steht nichts davon, dass sie diesen Weg mit | |
demselben Temperament, mit denselben Fähigkeiten oder mit demselben Erfolg | |
gehen, der Ansatz ist sehr individuell. Alle Menschen haben gleiche Rechte, | |
sind als Gleiche geboren. Den Rest wird man dann sehen, in der Wirklichkeit | |
des Lebens. Wenn alles gleich wäre, dann gäbe es ja keine Differenzierung. | |
Das Leben in seiner Vielfalt basiert auf der Entwicklung von Ungleichheit, | |
sonst gäbe es keinen Fortschritt oder überhaupt keine natürliche | |
Entwicklung. | |
Wer hat sich den Titel Ihres Buches einfallen lassen: "Deutschland schafft | |
sich ab". Waren Sie das? | |
Das ist eine lange Geschichte. Der Arbeitstitel, unter dem das Buch immer | |
noch geführt wird im Verlag, wenn ich meine Abrechnungen bekomme, heißt: | |
"Wir essen unser Saatgut auf" … | |
Das klingt wie eine Streitschrift des Bauernverbandes. | |
Meine Mutter kommt aus der Landwirtschaft. Als Kind musste ich die | |
Getreidearten auswendig lernen. Gerste, Hafer, Roggen, konnte ich alles | |
unterscheiden. Winterweizen, Sommerweizen. Irgendwann kam ich drauf, dass | |
das kein so richtig massentauglicher Titel ist. Und dann dachte ich | |
"Deutschlanddämmerung" wäre nicht schlecht. Das war dann aber zu nah an | |
Wagner. | |
Ein anderer guter Titel wäre auch gewesen "Der Untergang des Abendlandes", | |
aber der war schon vergeben. Oder der Untergang des Abendlandes 2.0. | |
Und dann hatte ich "Deutschland im Abendlicht" erwogen. Aber der Verlag | |
meinte, das klingt wie ein Lyrikband, und das würde keiner kaufen. So kamen | |
wir schließlich auf "Deutschland schafft sich ab", der Satz steht irgendwo | |
im Text. | |
Im Prinzip spricht nichts dagegen, dass sich ein Land abschafft. Holland | |
hat sich abgeschafft, Belgien hat es nie gegeben. England ist im Begriff | |
sich abzuschaffen. | |
Das habe ich ja auch geschrieben. Letztlich gibt es keinen rationalen | |
Grund, weshalb Deutschland bestehen sollte. Es gibt aber auch keinen | |
rationalen Grund, warum Sie Ihre Frau lieben, falls Sie sie lieben. | |
Emotionale Gründe sind rational nicht hinterfragbar. Bei allen rationalen | |
Argumenten stößt man bei den sogenannten letzten Dingen immer wieder an | |
emotionale Kerne. Die kann man ablehnen oder eben nicht. Es ist, wie es | |
ist. Die Polen lieben ihr Polen, die Franzosen singen die Marseillaise und | |
die Holländer sind froh, dass sie nicht Teil von Nordrhein-Westfalen sind. | |
Das heißt, das Sosein der Völker, die damit verbundene Geschichte und | |
kulturelle Identität, hat für mich ein eigenes Seinsrecht. Was ich auch | |
nicht hinterfrage. | |
Aber das Sosein hat auch eine zeitbedingte Ausprägung. Wir sind ungefähr | |
gleich alt, wir beide erinnern uns noch an die 60er Jahre. Da sah | |
Deutschland ganz anders aus als heute. Zwischen 1965 und 2010 hat sich | |
Deutschland bereits einige Male abgeschafft und neu erfunden. Spricht etwas | |
dagegen? | |
Stimmt, das Sosein hat seine eigene Ausprägung. Es gibt aber in den | |
Wesenszügen von Sprachen und Völkern auch Konstanten, die über viele | |
Jahrtausende reichen. Wenn man sich beispielsweise die Malerei anschaut, | |
aus der Zeit von Dürer, dann sieht man auf den ersten Blick, ob die Madonna | |
italienisch ist oder deutsch. Und zwar nicht an den Gebäuden im | |
Hintergrund, sondern man sieht es am Gesichtsausdruck. | |
Das ist doch nichts Besonderes. Die Limburger in Holland behaupten, dass | |
sie eine ganz andere Mentalität haben als die Leute, die in Groningen | |
wohnen. Wahrscheinlich stimmt das auch. | |
Ja klar, die in Groningen sind Ostfriesen und die Limburger, das sind... | |
… fast schon Belgier. | |
Die Norddeutschen sind wieder anders als die Bayern. Und man merkt heute | |
noch diese mentalen Unterschiede. Also, der Südtiroler ist einem Bayer | |
wesentlich ähnlicher als einem Ostmärker aus Wien, der ist ganz anders. | |
Aber mentale Verfasstheiten ändern sich doch mit der Zeit. Früher waren die | |
Deutschen autoritär gesinnt und totalitär anfällig, heute sind sie ein | |
rebellisches Volk. Sogar brave Schwaben prügeln sich inzwischen mit der | |
Polizei. Es hat auch in Deutschland einen Mentalitätswandel stattgefunden. | |
Natürlich, es bleibt nichts, wie es ist, alles ändert sich. Und trotzdem | |
gibt es innerhalb des Wandels Konstanten. Die Menschen südlich und westlich | |
des Limes, sie sind anders, sie sind übrigens auch ethnisch anders | |
zusammengesetzt als die anderen. Als ich 1965 nach Oldenburg kam, um dort | |
meinen Wehrdienst abzuleisten, da ging ich durch die Stadt, schaute | |
natürlich nach den Mädchen, und fast alle waren blond. Sie sahen aus wie | |
Däninnen, Finninnen oder Schwedinnen. Da, wo ich herkam, sahen die Mädchen | |
ganz anders aus. Die Rheinschiene war immer davon geprägt, dass dort die | |
Römer durchzogen, dass sich dort Legionäre ansiedelten. Da war die | |
Völkerwanderung, da zogen die Hunnen längs. Im Norden war immer Ruhe. Da | |
sitzen seit 2.000 Jahren Germanen. Und die bleiben unter sich. | |
Nicht unbedingt. Auch die Ostfriesen machen heute Ferien in der Türkei. Es | |
geht nicht, dass eine deutsche Familie zu viert nach Antalya fährt, da vier | |
Wochen in Saus und Braus lebt, dafür 1.000 Euro bezahlt und hinterher dem | |
Zimmermädchen und dem Kellner aus Antalya die Einreise nach Deutschland | |
verweigert. Das ist der Preis für die Globalisierung. | |
So einfach ist es nicht. Die Frage, ob Menschen wandern müssen oder | |
Menschen wandern sollen, ist eine Frage, die ist vom Austausch von Waren | |
und Ideen zunächst mal völlig unabhängig. Wir müssen uns fragen, weshalb | |
wandern die Menschen? Damit ging das Ganze los. Es ging los, als die | |
deutsche Industrie Anfang der 60er Jahre Arbeitskräftemangel hatte und | |
Druck auf die Regierung machte, Gastarbeiter zuzulassen. Es gab damals auch | |
Überlegungen, mit den Fabriken ins Ausland gehen. Das wäre besser gewesen. | |
Hätte Deutschland Anfang der 60er Jahre gesagt, Gastarbeiter lassen wir | |
nicht zu, wir können einen Teil der Produktion ins Ausland verlegen… | |
Es gibt inzwischen VW-Werke in Brasilien und Indien. | |
Das ist auch der richtige Weg. Jedenfalls besser, als dass die zu uns | |
kommen in großen Massen. Letztlich muss jedes Land seine eigene Balance | |
finden zwischen der Zahl der Menschen, die es bei sich aufnimmt, und der | |
Frage, wie es sie ernährt und beschäftigt. Schauen Sie, ganz Afrika hatte | |
1950 210 Millionen Einwohner gehabt, Deutschland damals 68 Millionen. | |
Afrika war also drei Mal so bevölkerungsstark wie Deutschland. Heute hat | |
Afrika eine Milliarde Einwohner, und in 40 Jahren wird es zwei Milliarden | |
Einwohner haben. | |
In Afrika werden jedes Jahr 35 Millionen Menschen geboren. In ganz Europa, | |
vom Ural bis an die Felsen der irischen Westküste, sind es fünf oder sechs | |
Millionen. Selbst wenn die Armutswanderung aus Afrika pro Jahr eine Million | |
oder zwei Millionen wäre, es würde an den afrikanischen Verhältnissen | |
nichts ändern, aber unserer Verhältnisse aus der Balance bringen. Und | |
deshalb müssen wir das Prinzip aufrecht erhalten, dass jedes Land, jede | |
Region für seine bzw. ihre eigene Bevölkerung selber sorgt. | |
Es gibt in der Natur kein Vakuum. Da, wo ein Freiraum entsteht, strömt | |
immer was nach. Es gibt auch in der sozialen Natur kein Vakuum. Also, | |
Menschenüberschüsse gehen dahin, wo ein Mangel an Menschen herrscht. | |
Völlig richtig. Die Natur kennt kein Vakuum. Menschen werden in der | |
norddeutschen Tiefebene immer leben. Die Infrastruktur ist gut, das Klima | |
ist angenehm. Fragt sich nur: Wer. Und das ist wie bei Wasser, es fließt | |
immer bergab. Außer man baut Staudämme. | |
Heiße Luft dagegen steigt auf. | |
Ja, und deshalb kann man zwar das Prinzip, dass die Natur kein Vakuum | |
kennt, als Prinzip aufrechterhalten, muss aber andererseits in historischen | |
Zeiträumen denken. Der römische Limes hielt immerhin etwa 400 Jahre. Das | |
Oströmische Reich hielt sogar wesentlich länger. Das heißt, man kann schon | |
Verhältnisse gestalten. | |
Aber man kann nicht im Internet-Zeitalter einen Limes bauen. | |
Man kann viel mehr, als man glaubt. Die Japaner halten strikt an der | |
Politik fest, dass sie keine Einwanderer haben wollen. | |
Die Japaner sind von Hause aus Rassisten und machen sich nichts daraus. | |
Die Türken sind da auch relativ konsequent. Es gibt in der ganzen Türkei | |
etwa 100.000 Ausländer. Sie lassen keine Einwanderung von Arabern in die | |
Türkei zu. China hat fremde Völkerschaften nur bekommen, indem sich das | |
Reich ausdehnte, durch Eroberungen und nicht durch Einwanderung… | |
Herr Sarrazin, wer möchte schon nach China einwandern? | |
Für die Kambodschaner wäre es, glaube ich, mittlerweile ziemlich | |
interessant. | |
Okay, vielleicht auch für die Mongolen oder die Nordkoreaner. Aber sonst... | |
Es gibt kein Naturgesetz, das Einwanderung oder Wanderung zwischen Staaten | |
oder Kontinenten zu einer unvermeidlichen Entwicklung macht. Das gibt es | |
nicht, sondern das ist menschengemacht. Als die Buren nach Südafrika zogen, | |
war das ein menschenleeres Land. Und dann haben sie die Schwarzen aus dem | |
Norden geholt, als Arbeitskräfte eingesetzt und sind jetzt eine Minderheit, | |
die irgendwann verschwinden wird. | |
Ist das der Preis der Geschichte? | |
Das ist der Preis der Geschichte, genau. Auch in den USA. Hätten die | |
Indianer eine strikte Einwanderungspolitik betrieben und jedem Weißen | |
unverzüglich wieder ins Meer geworfen, dann stünde es heute anders um die | |
indianischen Nationen. | |
Man kann auch sagen: Der Stärkere setzt sich durch. | |
Deswegen verlaufen Einwanderungsprozesse nicht sehr vornehm. Und sind | |
potenziell auch ziemlich blutig. Diese Mentalität „Piep, piep, piep, wir | |
haben uns alle lieb“ bringt uns nicht weiter. Erstmal muss man fragen, wer | |
wandert ein. Man muss eine rationale Einwanderungspolitik betreiben. Und | |
dann muss man ganz klar machen, dass die, die einwandern, sich vermischen | |
sollten. Wir, die Deutschen waren dazu immer sehr gut in der Lage, die | |
Juden übrigens weitgehend auch. | |
In Amerika haben sich die Deutschen praktisch aufgelöst. Ein Viertel der | |
Amerikaner hat deutsche Wurzeln, weiß es aber nicht. | |
Ich hatte neulich ein interessantes Gespräch mit einem pensionierten | |
amerikanischen General. Der war aus Texas. Und der wusste nicht, dass seine | |
Großeltern deutsche Einwanderer waren, weil die Eltern das vor ihm geheim | |
gehalten haben. Das sind natürlich Extreme. Aber im Prinzip ist es schon | |
richtig, dass man sich entweder mischt oder regional sauber getrennt lebt. | |
Wenn Sie in die Schweiz gehen, sehen Sie, dass die Sprachgrenzen zwischen | |
den Kantonen relativ scharf gezogen sind. Und die Franzosen im Kanton Bern | |
hatten ja irgendwann die Nase voll und einen eigenen Kanton bekommen. | |
Aber wenn man das konsequent weiterdenkt, Herr Sarrazin, landen wir bald | |
wieder in der Kleinstaaterei. | |
Man muss sehen, wie der Mensch funktioniert, wie er tickt, wie er lebt, wie | |
er arbeitet. Die Schweizer haben da ein sehr gutes Modell gefunden. | |
In der Schweiz gehört die Verachtung für den Nachbarn mit zur Folklore. | |
Wenn Sie sich anhören, wie die Zürcher über die Basler reden… Nicht, dass | |
die sich nicht mögen, sie hassen sich. Das kann doch kein Modell für | |
größere soziale Konglomerate sein. Schauen Sie, was mit Belgien passiert. | |
Wenn sich morgen Belgien auflösen würde, niemand würde es vermissen. | |
Das "Wir" und das "Die" ist den Menschen angeboren. Und die Unterscheidung | |
in "Wir" und "Die", die muss man sozial verträglich organisieren. Man kann | |
sie aber nicht als eine angeborene Eigenschaft des Menschen verdrängen. | |
Deshalb teilen sich Menschen immer auf in Parteien und grenzen sich | |
gegenseitig ab: in Stadtvierteln, in Firmen, in Vereinen, in Ethnien, in | |
Völkerschaften und so weiter. Man muss diese Mechanik durchschauen. | |
Aber man muss sie nicht fördern. | |
Man muss nur die Formeln finden, die ihr gerecht werden. | |
Also Integration plus Assimilation? | |
Es gibt keine Integration ohne Assimilation. Das ist ein Scheingegensatz. | |
Aber was spricht dagegen, dass Familien, sagen wir, zu Hause türkisch, | |
polnisch, russisch oder arabisch sprechen? | |
Was die Familien miteinander reden, kann ihnen keiner vorschreiben. Aber | |
die Lebenswirklichkeit bei ökonomisch integrierten Menschen bedeutet, am | |
Ende redet man die Sprache der Arbeitswelt. Und das ist dann auch die | |
Sprache der Lebenswelt. Und wenn man das anders macht, dann beschwört man | |
unnötige Konflikte herauf. | |
In der ehemaligen DDR gibt es immer noch Naturreservate der Sorben und der | |
Wenden, die sehr bewusst ihre Sprache pflegen. | |
Das war natürlich auch ein Stück DDR-Folklore. Das ist ja auch okay. So | |
wird ja auch in Teilen der Schweiz noch das Räto-Romanische gepflegt. | |
Herr Sarrazin, etwas ganz was anderes: Haben Sie einen Dankesbrief von | |
Christian Wulff bekommen? Sie haben ihn doch eigentlich gerettet mit Ihrem | |
freiwilligen Rücktritt? | |
Nein. | |
Er hat sich nicht bedankt? | |
Nein, das wäre von ihm vielleicht auch ein bisschen viel verlangt. | |
Aber es wäre eine schöne menschliche Geste gewesen. | |
Der Bundespräsident ist ja in seinem Verhalten öffentlich ausführlich | |
gewürdigt worden. Was soll ich da jetzt noch hinzufügen? | |
Haben Sie noch Kontakt zu Herrn Weber, dem Präsidenten der Bundesbank? | |
Mein letztes Gespräch hatte ich mit Herrn Weber an dem Tag, als er den | |
Antrag stellte, mich aus dem Bundesbank-Vorstand zu entlassen. Das war, | |
glaube ich, am 4. September. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. | |
Es gab ein Foto in der FAZ, wo Sie vor einem Stapel von Büchern sitzen und | |
diese Bücher, hieß es in der FAZ, seien Ihnen von Ihren Mitarbeitern, von | |
Ihren Kollegen zum Signieren gegeben worden? Stimmt das? | |
Ja, die Hauptverwaltung der Bank hat an ihrem Frankfurter Standort | |
anderthalbtausend oder zweitausend Mitarbeiter. Und ich habe in meinen | |
letzten 14 Tagen im Amt mindestens 300 Bücher signiert. | |
Bei Lyrikbänden wäre das schon eine große Auflage. | |
Da ich in der Chefetage bei Herrn Weber persona non grata war, war es immer | |
interessant, wie die Mitarbeiter ihre Bücher anschleppten. Nämlich in Tüten | |
verborgen oder in Aktendeckeln versteckt. Die gaben sie dann schamhaft bei | |
meiner Sekretärin ab, die hat sie dann ausgepackt, mit Zettelchen versehen, | |
für Herrn X und Frau Y. Jeden Morgen, wenn ich kam, hatte ich so einen | |
Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch. | |
Und wie haben die Mitarbeiter die Bücher abgeholt, nach Einbruch der | |
Dunkelheit? | |
Nein, die kamen dann wieder, mit der Tüte in der Hand, da wurde es verpackt | |
und dann haben sie es wieder abgeholt. Ein Zentralbereichsleiter unter | |
Herrn Weber hat sich nicht entblödet, in seiner Abteilung Nachforschungen | |
anzustellen, wer bei mir ein Buch habe signieren lassen. | |
Und was ist mit den Leuten passiert? | |
Gar nichts, da haben alle geschwiegen. Es hat sich keiner geoutet. | |
Aber was wäre passiert, wenn sich einer dazu bekannt hätte? Müsste er heute | |
irgendwo auf einer Galeere rudern? | |
Alle Pförtner der Bundesbank haben ein Buch von mir. Die haben es alle | |
selber gekauft, und ich habe es dann signiert. Denen kann ja keiner was | |
tun. Das ist ja das Schöne im öffentlichen Dienst. Wer nicht mehr | |
aufsteigen will, ist der unabhängigste Mann der Welt. So ein Pförtner ist | |
insoweit frei. | |
Was würden Sie sagen, wenn einer in einer Ihrer Lesungen aufsteht und sagt: | |
"Ausländer raus"? Was würden Sie ihm antworten? | |
Da würde ich sagen: Das ist dumm und als Rezept untauglich. | |
Wie feiern Sie Weihnachten? | |
Mit meiner Familie und einem Weihnachtsbaum. | |
Und liegt Ihr Buch unterm Weihnachtsbaum? | |
Nein, wieso? Ich habe es ja schon gelesen. | |
Glauben Sie an Reinkarnation? | |
Nein. Es gibt Dinge, die wir nicht wissen, und da soll man sich auch ein | |
Wissen nicht anmaßen. Über die Welt, wo sie herkommt, weshalb sie überhaupt | |
da ist - das ist mir immer wieder ein Rätsel. Wenn ich mit dem Zug durch | |
die Gegend fahre und aus dem Fenster schaue und sehe, was da draußen alles | |
passiert, frag ich mich auch, woher kommt das eigentlich? Wo kommen wir | |
her, wo gehen wir hin? Absolut offene Fragen, da weiß ich nicht mehr als | |
meine Katze. | |
Es gibt im Prinzip zwei Möglichkeiten: Genesis oder Urknall. Und die | |
Geschichte der Genesis ist einfach schöner, finde ich. | |
Wir Menschen können ja nur in unseren Kategorien denken. Also denken wir in | |
Zeit und Raum und können uns eine Welt jenseits von Raum und Zeit nicht | |
vorstellen. Weshalb ich mit der Aussage, dass der Kosmos endlich, aber | |
unbegrenzt sei, ein Problem habe. Ich habe mir das immer so vorgestellt: | |
Wenn eine Raupe auf einer Kugel kriecht, dann wissen wir, dass sie es in | |
einem Raum tut, der endlich, aber unbegrenzt ist. Die Raupe kann das aber | |
nicht verstehen, weil sie nicht merkt, dass es sich um eine Kugel handelt. | |
So geht es auch dem Hamster im Tretrad. Der glaubt, dass er eine ganz lange | |
Strecke läuft. | |
Ja, vielleicht glaubt er das wirklich. Ich weiß es nicht. Wir haben unsere | |
immanenten Grenzen und können die Welt nur regeln in einem ganz engen | |
Segment aus Zeit und Raum. Mehr ist nicht drin. | |
Ich habe eine letzte Frage. Meine Frau möchte wissen, wie Sie Ihr Geld | |
anlegen. Was können Sie uns raten? | |
Vor allem eines: Man sollte seine Investitionsentscheidungen nie mit | |
Steuersparüberlegungen vermischen. | |
Der Deutsche riskiert sein Vermögen, um Steuern zu sparen. | |
Ja, es ist viel billiger, Steuern zu zahlen. Sie und ich müssen von unserem | |
Grenzeinkommen also durchschnittlich 44 Prozent abgeben. Ich vermute mal, | |
dass das bei Ihnen auch so ist. | |
Ich finde es zuviel. | |
Ja, ich finde es auch zuviel. Aber wenn man versucht, davon etwas | |
vorzuenthalten, das merkt der Fiskus irgendwann. Das funktioniert nicht. | |
Also, am besten ist, man tut so, als ob Netto gleich Brutto wäre, und | |
vergisst das Geld, das man dem Fiskus gibt. Und wenn es um die Verzinsung | |
geht, das ist im Augenblick schwierig. Sparbuch wäre zur Zeit das Beste. | |
Sparbuch? | |
Ja. Legen Sie Ihr Geld aufs Sparbuch, erstmal für ein Jahr und gucken dann | |
weiter. | |
Sie würden Ihr Geld nicht bei einer isländischen Bank anlegen? | |
Nein. Ich hab es bei der Commerzbank, das ist eine staatseigene Bank. | |
Vielen Dank, Herr Sarrazin. | |
Vielen Dank, Herr Broder. | |
7 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Henryk M. Broder | |
## TAGS | |
Deniz Yücel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Islamkritiker: Unsinn Mittäterschaft | |
Henryk M. Broder und seine Freunde in ursächlichen Zusammenhang mit dem | |
Massenmörder von Norwegen zu bringen, ist unhaltbar. Und es ist gefährlich | |
Islam-Tagung der Akademie Tutzing: Wieder Ärger um Sarrazin | |
Die evangelische Akademie Tutzing lädt zu einer Islam-Tagung Thilo Sarrazin | |
ein. Grüne und Wissenschaftler finden das skandalös. Die Linke kritisiert | |
staatliche Zuschüsse. | |
Psychologie der Sarrazin-Leser: Auch die Unterschicht kauft Thilo | |
"Deutschland schafft sich ab" soll das hierzulande bestverkaufte Buch seit | |
1945 sein. Nun gibt es neue Untersuchungen zum Inhalt und zu den Käufern. | |
Ein Jahr mit Thilo Sarrazin: Mist zu Gold | |
365 Tage mit der Dauerschleife Thilo Sarrazin gehen zu Ende. Und ich weiß | |
jetzt, dass Inhalte nicht zählen und Moral gebeugt werden muss. Meine 10 | |
Lektionen, die ich gelernt habe. | |
Debatte Rechtspopulismus: Nicht immun gegen Parolen | |
Steht Deutschland bald eine neue Rechtspartei ins Haus? Ein Jörg Haider | |
oder Geert Wilders hätte auch hierzulande gute Chancen. Schuld daran ist | |
die Sarrazin-Debatte. | |
Runder taz-Tisch zur Integration: "Die Atmosphäre ist total vergiftet" | |
Ein Streitgespräch zwischen Erika Steinbach, Naika Foroutan, Neco Celik und | |
Thomas Brussig über Heimat, "Leitkultur" und die Schwierigkeit, als | |
gleichberechtigter Bürger anerkannt zu werden. | |
Kolumne Deutschenfeindlichkeit: Mir brauche Lichterkedde | |
Woher bloß dieser Hass? Warum nur diese Verachtung? | |
Aus der Deutschland-taz: Das Ende der Dankbarkeit | |
Ich hatte es schon geschafft: vom Arbeiterkind zur Türkin zur Migrantin. | |
Nun wundere ich mich, dass ich für viele Deutsche wieder eine Ausländerin | |
bin. | |
Aus der Deutschland-taz: Drei Farben Deutschland | |
In den linken Milieus und den Migrantenszenen gibt es eine falsche Scheu | |
vor der Liebe zu Land und Leuten. Wieso es gut ist, die Heimat zu lieben. | |
Ein Bekenntnis. | |
Aus der Deutschland-taz: Im achten Kreis der Hölle | |
Bis zum Ende werden die Schwachen und die Starken aneinander gekettet sein. | |
Nur leider wird das in Deutschland zu oft vergessen und eine Politik der | |
zwei Herzen betrieben. | |
Aus der Deutschland-taz: "Wir achten nicht auf Herkunft" | |
Wegen angeblicher Deutschenfeindlichkeit geriet ihre Schule in die | |
Schlagzeilen. Sechs SchülerInnen der Otto-Hahn-Gesamtschule in Neukölln | |
wehren sich im Gespräch gegen diese Abstempelung. | |
Aus der Deutschland-taz: No Integration, Baby! | |
In vielen Großstädten hat jeder dritte Erwachsene einen | |
Migrationshintergrund. Das Gesicht des Landes hat sich verändert. Schafft | |
den Begriff Integration ab! |