# taz.de -- Runder taz-Tisch zur Integration: "Die Atmosphäre ist total vergif… | |
> Ein Streitgespräch zwischen Erika Steinbach, Naika Foroutan, Neco Celik | |
> und Thomas Brussig über Heimat, "Leitkultur" und die Schwierigkeit, als | |
> gleichberechtigter Bürger anerkannt zu werden. | |
Bild: Neco Celik, Naika Foroutan, Thomas Brussig, Erika Steinbach (v.l.n.r.) | |
Sind Ostdeutsche eigentlich gut integriert? Lässt sich die Lage vieler | |
Vertriebener, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik kamen, | |
mit der Situation von Flüchtlingen aus dem Iran oder der von türkischen | |
Gastarbeiterkindern vergleichen? | |
Zu diesen Fragen lud die taz vier ExpertInnen ein: die | |
Vertriebenensprecherin schlechthin, Erika Steinbach; die Politologin Naika | |
Foroutan, deren Eltern aus dem Iran geflüchtet waren; den Schriftsteller | |
Thomas Brussig, einen Kenner ostdeutscher Gemütszustände der Nachwendezeit, | |
sowie Neco Celik, Regisseur aus Berlin und bekennender Kreuzberger. | |
Frau Steinbach, Frau Foroutan, Herr Brussig, Herr Celik: Was ist Heimat für | |
Sie? | |
Erika Steinbach: Meine Mutter. Das habe ich aber erst bemerkt, als sie | |
gestorben war. Vorher war ich eher heimatlos. | |
Naika Foroutan: Für mich ist Heimat der Rosenthaler Platz. Dort bin ich zu | |
Hause. | |
Thomas Brussig: Ja, das ist so ein Ort, da hat man so dieses Berlingefühl. | |
Aber Heimat ist auch ein sehr missbrauchter Begriff, weswegen ich mich | |
lange gegen so etwas wie Heimatgefühle gesträubt habe. | |
Neco Celik: Auf meinen Reisen ins Ausland bekomme ich immer bestätigt: Ah, | |
du bist Deutscher. Und dann kommst du nach Hause, und du wirst wieder mit | |
dieser ganzen Integrationssoße zugeschüttet. Ich lasse es deshalb lieber | |
noch offen. | |
Frau Steinbach, Sie haben ja auch einen Migrationshintergrund. Und die | |
Vertriebenen wurden nach dem Krieg in vielen Gegenden auch nicht gerade mit | |
offenen Armen empfangen. Ist Ihnen das Gefühl vertraut, von den | |
Alteingesessenen ausgegrenzt zu werden? | |
Steinbach: Ich bin eine Zwangsmigrantin, wenn diese Vokabel überhaupt auf | |
deutsche Vertriebene zutrifft. Aber das Gefühl der Ablehnung kennen wir. | |
Meiner Mutter wurde in Schleswig-Holstein gesagt, als sie nur etwas Milch | |
für mein sehr krankes kleines Schwesterchen wollte: "Ihr seid ja schlimmer | |
als die Kakerlaken." Es hat sie bis zu ihrem Lebensende verfolgt, dass die | |
eigenen Landsleute so etwas zu ihr gesagt haben. Trotzdem war die Situation | |
völlig anders, weil wir dieselbe Sprache sprachen und dieselbe Kultur | |
teilten: also Goethe, Schiller, all das. Wir waren ja ein Volk, wie man es | |
in der DDR am Ende so schön sagte. | |
Herr Brussig, sind wir ein Volk? Nach dem Mauerfall wurden die Unterschiede | |
zwischen Ost und West deutlich. Fühlten Sie sich nach der Vereinigung fremd | |
im neuen Deutschland? | |
Brussig: Ja und nein. Die Westdeutschen waren schon irgendwie anders. Die | |
hatten eine ganz andere Grandezza, einen ganz anderen Auftritt, ein ganz | |
anderes Selbstbewusstsein. Da gab es diesen schönen Witz: Man braucht im | |
Westen dreizehn Jahre zum Abitur, weil da ist ein Jahr Schauspielunterricht | |
dabei. Also, der trifft das ganz gut. | |
Steinbach: Habe ich noch nie gehört. Merke ich mir. | |
Brussig: Deutschland muss sich erst noch daran gewöhnen, "Deutsch" | |
vorbehaltlos für vieles gelten zu lassen. Und ich frage mich, wie lange | |
Ossis noch als Ossis gesehen werden. Ich denke, das wird so lange dauern, | |
bis sich die sozialen Unterschiede eingeebnet haben, was | |
Vermögensverteilung oder Arbeitslosigkeit betrifft. Auch bei der Besetzung | |
von Führungspositionen in der Wirtschaft ist das Gefälle noch groß. | |
Celik: Ich glaube nicht, dass sich das ändern wird, wenn ich sehe, dass wir | |
heute immer noch über dieses Thema sprechen und so ein Buch wie das von | |
Sarrazin das ganze Land zum Wackeln bringen kann. Plötzlich haben alle | |
etwas gegen Menschen mit Migrationshintergrund, was auch immer das sein | |
soll. Und die Wessis werden auch immer über die Ossis herziehen. | |
Foroutan: Gerade in diesen Zeiten der Globalisierung halten viele aber auch | |
für sich selbst an einer bestimmten Form von Identität fest, ob das nun | |
"Ossi", "Wessi" oder das Vertriebenensein ist. Wir führen viele Interviews | |
mit jungen Leuten mit Migrationshintergrund. Da gibt es immer mehr, die | |
sich mit Stolz als "muslimisch" oder "türkisch" bezeichnen und das auch | |
überhaupt nicht tauschen wollen gegen ein "Deutschsein". | |
Und Sie selbst? | |
Foroutan: Ich persönlich bezeichne mich gern als Deutschiranerin oder als | |
"iranischdeutsch". Das sind beides Teile meiner Identität. | |
Steinbach: Ich glaube, die Unterscheidung zwischen Ossis und Wessis wird | |
sich auswachsen. Bei den Zuwanderern wird sich das aber nicht so schnell | |
auflösen. Da gibt es die, die sich diesem Land zugehörig fühlen, in guten | |
wie in schlechten Zeiten. Das ist sicher der überwiegende Teil. Und da sind | |
die, die erkennbar nicht mitmachen, die sich abgrenzen. Das macht vielen | |
Menschen Angst und führt zu den Debatten, die Sie, Herr Celik, jetzt | |
beklagt haben. Aber Sie, Frau Foroutan, werden nie Probleme haben: jemand, | |
der so gut die Landessprache spricht und einfach mitmacht. | |
Foroutan: Das stimmt so ja nicht. Untersuchungen zeigen, dass bei gleicher | |
Leistung und bei gleicher Qualifikation die Bewerber, die einen | |
herkunftsdeutschen Namen haben, meist eher zum Bewerbungsgespräch | |
eingeladen werden als solche mit Migrationshintergrund. Und viele haben es | |
satt, dass man ihnen einfach nur aufgrund ihres Phänotyps immer wieder die | |
Frage stellt: Woher kommst du? Man beginnt sich dann zu fragen: Ist man nur | |
dann deutsch, wenn man blond ist? | |
Steinbach: Davon gibt es gar nicht so viele, wie man glaubt. | |
Foroutan: Umso verwunderlicher, dass diese Frage noch so häufig gestellt | |
wird! Deutschland ist ja schon längst plural. Gerade in Frankfurt! | |
Steinbach: Über hundert Nationen haben wir da. | |
Foroutan: Sie haben vor allen Dingen 72 Prozent Kinder mit | |
Migrationshintergrund. Da kann man Deutschland gar nicht mehr in | |
urtümlichen, homogenen Strukturen denken - weil es das in vielen Gegenden | |
einfach nicht mehr gibt. Dieses Bewusstsein und Gefühl dafür, das müssen | |
wir erst noch erlernen, alle. | |
Steinbach: Ich glaube allerdings, dass die Mehrheit der originären | |
deutschen Bevölkerung ein gemeinsam tradiertes, kulturelles Fundament teilt | |
und daran festhalten möchte: Das ist unsere Literatur, unsere Sprache. | |
Uns scheint, dass Sie das Moment der gemeinsamen deutschen Kultur viel zu | |
stark gewichten. Haben Konservative und Linksliberale denn so viel gemein? | |
Und liest die Unterschicht nicht eher die Bild-Zeitung als Heinrich Böll? | |
Foroutan: Und die meisten Ossis sind zum Beispiel überhaupt nicht religiös | |
… | |
Steinbach: Ja, aber auch die Ossis feiern Weihnachten und Ostern. Und ich | |
mache es auch nicht allein an der Religion fest, sondern an der Kultur. Für | |
mich hat das ein großes Gewicht. Ich glaube sogar, dass uns das über die | |
politische Trennung Deutschlands hinweggeholfen hat. Deutsche Musik etwa, | |
ob das nun Brahms, Beethoven oder Mendelssohn ist. Das war und ist ein | |
starkes, verbindendes Element. Orientalische Musik dagegen kenne ich wenig | |
… | |
Mozart hat Sie integriert … | |
Steinbach: Ja, allerdings in westlicher Tonalität. Und es gibt ja auch | |
wunderschöne Literatur, die aus dem Orient kommt. Ich habe als junges | |
Mädchen liebend gern "Tausendundeine Nacht" gelesen - natürlich in der | |
Kindervariante. Da passen Sie, Frau Foroutan, wunderbar hinein: So habe ich | |
mir eine Prinzessin aus "Tausendundeiner Nacht" immer vorgestellt. | |
Celik: Und ich bin Aladin oder was? Also wir haben auch eine Ahnung von | |
Mozart, Schiller und Goethe. Ich werde 2013 sogar Mozart inszenieren. | |
Steinbach: Ja, Sie leben ja auch schon eine Weile hier. | |
Celik: Nicht eine Weile. Ich bin hier geboren. Und die Mehrheit von uns | |
lebt seit über 40 Jahren hier. Aber so wird das leider nicht diskutiert. | |
Steinbach: Ich glaube schon, dass es so diskutiert wird. Aber es gibt einen | |
Bereich, der den Menschen eben Sorge macht, der sie ängstigt. Und ich halte | |
es auch nicht für Ausgrenzung, wenn man sich für seinen Mitmenschen | |
interessiert und ihn fragt, wo er herkommt, wenn er etwa einen Akzent hat. | |
Da bin ich immer neugierig: Wo kann ich den einordnen, liege ich da | |
richtig? Bei Ihnen, Frau Foroutan, würde ich nie fragen: An Ihrem Deutsch | |
merkt man, Sie sind hier aufgewachsen. | |
Foroutan: Ich werde trotzdem täglich gefragt. Täglich. | |
Celik: Hinzu kommt, dass wir hier in Deutschland gerade mal wieder | |
kübelweise mit Schmutz übergossen werden. | |
Steinbach: Ach nein, die Migranten hier werden doch nicht mit Schmutz | |
übergossen. Die aktuelle Debatte dreht sich doch nur um einige wenige. | |
Foroutan: Na ja, um die Muslime. | |
Brussig: Doch, Frau Steinbach, das stimmt. Die Atmosphäre ist vergiftet. | |
Celik: Total vergiftet. | |
Steinbach: Ich glaube, dass manche Migranten auch etwas überempfindlich auf | |
Dinge reagieren, die gar nicht so gemeint sind, und dass sich dann die | |
Empfindlichkeiten gegenseitig aufschaukeln. Gerade aus dem muslimischen | |
Bereich gibt es ja auch viele, die sagen: Wir müssen sehr wachsam sein | |
gegenüber diesen Integrationsverweigerern, die sich ihre Gattinnen ja ganz | |
bewusst aus dem tiefen Anatolien holen. | |
Celik: Wo liegt denn das Problem, wenn man seinen Ehepartner aus Anatolien | |
holt, solange das freiwillig geschieht? | |
Steinbach: Das arme Wurm darf dann auch wieder nicht Deutsch lernen und | |
bleibt in der Wohnung eingesperrt. | |
Foroutan: Die können doch gar nicht mehr nach Deutschland rein, bevor sie | |
nicht den A2-Deutschtest gemacht haben. | |
Celik: Sie diskutieren diese Einzelfälle, als ginge es um alle. | |
Steinbach: Nein, ich sage ja, das ist nur ein kleiner Teil. Aber dieser | |
kleine Teil, der ängstigt. | |
Brussig: Nein. Mit seinem Titel "Deutschland schafft sich ab" spielt | |
Sarrazin doch nicht auf eine Minderheit an. Deutschland wird sicher nicht | |
durch eine kleine Minderheit abgeschafft. Nein, Sarrazin hat höher gezielt. | |
Und das, woran sich dann so viel entzündet hat, ist etwa, dass er wertvolle | |
Schwangerschaften gegen Schwangerschaften gestellt hat, die uns auf Dauer | |
alle teuer zu stehen kommen werden. Mit dieser Rechnung, einer typischen | |
Volkswirtsrechnung, hat er einen Tabubruch begangen. | |
Foroutan: Die Integrationsverweigerung wird außerdem einseitig einer | |
bestimmten Gruppe und einer bestimmten Kultur zur Last gelegt. Ich will | |
Ihnen ein Beispiel nennen. Mein Mann ist Rechtsanwalt und hatte in letzter | |
Zeit mehrere Fälle in Neuruppin. Jedes Mal, wenn er von dort wiederkommt, | |
ist er zerschmettert: Von den ganzen Integrationsverweigerern deutscher | |
Herkunft, die es dort gibt. Von Vergewaltigung, Drogen, Kriminalität, Mord. | |
Er könnte ja nach Hause kommen und sagen: Na ja, die Ossis, die sind ja | |
ganz schön kulturell verwahrlost. Aber das erschiene ihm absurd. | |
Bildungsferne, Kriminalität, Gewalt in der Ehe - all das gibt es überall | |
auf der Welt. Aber in der gegenwärtige Debatte wird gesagt: Das kommt aus | |
dem Islam. | |
Steinbach: Sie haben völlig recht: es gibt auch unter den seit Generationen | |
einheimischen Deutschen welche, die unwillig sind, eine Berufstätigkeit | |
aufzunehmen, selbst wenn sie es könnten, und lieber die Hand aufhalten. Da | |
muss man genauso ansetzen. | |
Foroutan: Es gibt ja in Deutschland leider nun mal keine Vollbeschäftigung | |
und Arbeit für jeden. | |
Ist es nicht so, dass ein bestimmtes Milieu, das man früher | |
Lumpenproletariat genannt hätte, nun einfach sehr stark von Migranten | |
geprägt wird? | |
Foroutan: Es gibt ja auch vieles, was nicht mit dem Faktor Kultur | |
zusammenhängt. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut | |
hat etwa Gruppen von Migranten untersucht, die ursprünglich aus der Türkei | |
stammen. Er hat festgestellt: In Oldenburg zählen prozentual wesentlich | |
mehr zu den Bildungsaufsteigern, wohingegen in bestimmten Gebieten von | |
Dortmund nur ein minimaler Anteil zu diesen bildungsaffinen Gruppen | |
gehören. Und das liegt ja dann vielleicht doch eher an der Politik der | |
Stadt Dortmund und an der Politik der Stadt Oldenburg als daran, dass es | |
sich um Muslime handelt. | |
Steinbach: Möglicherweise hängt es auch daran, woher die Menschen gekommen | |
sind? Wenn die nun alle aus dem tiefsten Anatolien kamen? | |
Foroutan: Nein, die Vergleichsgruppen sind gleich. Nur gibt es in Dortmund | |
stark segregierte Stadtviertel, und in Oldenburg leben die Menschen über | |
die ganze Stadt verteilt. | |
Steinbach: Das ist immer besser. In dem Moment, wo man eine Art Getto | |
entstehen lässt, produziert man fahrlässig Probleme. So ist es offenbar in | |
Berlin geschehen. In Frankfurt haben wir das zum Glück nicht im gleichen | |
Ausmaß. | |
Celik: Ich stelle mir gerade vor, Frau Steinbach, wir beide wären | |
arbeitslos und würden uns in einer Schlange vor der Arbeitsagentur treffen | |
und ins Gespräch kommen. Und Sie würden zu mir sagen, dass es nicht in | |
Ordnung ist, dass ich arbeitslos sei und mich an den Transferleistungen | |
bediene. Weil ich einen Migrationshintergrund habe. So kommt mir das gerade | |
vor. | |
Sie meinen, das Problem ist die Arbeitslosigkeit, nicht die Herkunft? | |
Celik: Genau. Aber stattdessen wird gesagt: Eine kleine Gruppe von euch, | |
die holt sich ihre Frauen aus Anatolien, und das macht die Situation dann | |
schlimm für uns alle. | |
Herr Brussig, sind Sie froh darüber, dass das Ossi-Bashing durch das | |
Muslim-Bashing abgelöst wurde? In den neunziger Jahren wurden Ossis ja auch | |
verantwortlich gemacht für alles, was schieflief im Osten: für | |
Rechtsextremismus, Wendeverlierer, soziale Verwahrlosung. | |
Brussig: Klar, dass sich die Dummen nun ein neues Thema suchen. Und ich | |
erkenne bestimmte Argumentationsmuster in der aktuellen Debatte wieder. | |
Deshalb haben die hier lebenden Deutschen mit türkischem oder arabischem | |
Namen mein vollstes Mitgefühl. Aber ich glaube, es kann auch jederzeit | |
wieder zum Ossi-Bashing zurückkommen. | |
Steinbach: Aber die Bayern und die Preußen, die sind auch übereinander | |
hergezogen! Und zwar ziemlich drastisch. | |
Brussig: Das ist aber etwas anderes, weil es eben nicht mit dieser | |
Degradierung von Lebenschancen einhergeht. Und das ist nun mal der Fall, wo | |
wir nach wie vor ein gravierendes Ost-West-Gefälle haben und wo es auch | |
keine gleichen Chancen für Deutsche mit Migrationshintergrund gibt. | |
Deswegen ist diese Studie mit den zwei Bewerbungen, die eine mit einem | |
türkischen Namen und die andere mit einem deutschen Namen, eine gravierende | |
Sache. Die Witze, die dann gemacht werden, sind genau deshalb auch so | |
verletzend: weil sie eine Herabsetzung spiegeln, die ja im wirklichen Leben | |
auch stattfindet. | |
Steinbach: Was halten Sie denn von anonymisierten Bewerbungen? Wir haben | |
das ja im Bereich der Musik. Bei manchen Orchestern wird es so gehandhabt, | |
dass derjenige, der zur Probe vorspielt, hinter einem Vorhang verborgen | |
ist: Man kann ihn nicht sehen, und dann wird nur nach Qualität ausgewählt. | |
Was halten Sie davon? | |
Foroutan: So etwas finde ich notwendig. Diese Generation ist hier | |
aufgewachsen, hier sozialisiert und hat das deutsche Schulsystem | |
durchlaufen mit Goethe, Schiller und Heine - also genau dem, was Frau | |
Steinbach als den kulturellen Kern Deutschlands beschreibt. Können Sie | |
nachvollziehen, dass diese Generation im Grunde genommen genau das gleiche | |
empfindet wie damals viele Vertriebene, die hier nicht akzeptiert wurden, | |
obwohl sie sich doch als kulturell gleich empfanden. Diese dritte | |
Generation scheitert immer wieder daran, sich unhinterfragt zugehörig zu | |
fühlen. Und nicht nur daran! | |
Steinbach: Aber immer und überall? Ich erlebe das in Frankfurt anders. | |
Foroutan: Na ja, zumindest bei 53 Prozent. Das ist schon sehr viel. Bei 53 | |
Prozent der Mehrheitsgesellschaft, das ergeben Befragungen des Bielefelder | |
Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung, lässt sich das Moment des | |
"Etabliertenvorrechts" finden - also dieses Gefühl, dass derjenige, der | |
zuerst da war, mehr Rechte haben sollte. Man fragt sich nur, wann endet das | |
Zuerst-da-gewesen-Sein? Wann der Migrationshintergrund? Juristisch wäre das | |
nach der dritten Generation. Aber phänotypisch bleibt das haften. Und wenn | |
Sie dunkelhäutig sind, dunkelhaarig, dann wird Ihnen immer wieder | |
abgesprochen, gleichberechtigte bei der Teilhabe zu sein. | |
Steinbach: Das wird sich auch auflösen. Das ist ein Prozess. | |
Celik: Ich bin da sehr skeptisch. Mein Sohn, der ist acht Jahre alt, hatte | |
neulich ein Fußballspiel. Und da sagte ein deutscher Junge: Müssen wir | |
jetzt gegen die Türken spielen? Mein Sohn spielt bei einem Kreuzberger | |
Verein. Und wenn wir dann zu einem Spiel in die Außenbezirke fahren und man | |
sieht, was da für eine negative Energie herrscht, das ist teilweise | |
unerträglich. Durch solche Debatten wie um Sarrazin wird das genährt. Es | |
wird ja nicht besser, sondern schlimmer. Das ist das Problem. | |
Können Sie verstehen, dass Sarrazin - oder zumindest diese Debatte, die er | |
mit seinen Thesen ausgelöst hat - vielen Leuten Angst macht? | |
Steinbach: Das kann ich verstehen. Aber ich glaube, dass die deutsche | |
Gesellschaft und die deutsche politische Klasse über Jahrzehnte hinweg auch | |
zu blauäugig gewesen sind und die Probleme verdrängt haben. Ich kann mich | |
noch lebhaft daran erinnern, wie die CDU sagte, die Kinder müssen in der | |
Schule Deutsch sprechen können, die müssen auch identische Umgangsformen | |
haben. Wir sind dafür an unseren Informationsständen bespuckt worden, man | |
sprach von Zwangsgermanisierung. Heute ist es quer durch die politische | |
Klasse Konsens, dass es in der Schule eine einheitliche Sprache geben muss. | |
Der Lehrer verzweifelt ja sonst. | |
Die Union hat sich sechzehn Jahre lang geweigert, die Einwanderer als | |
Einwanderer anzuerkennen. Erst mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht, das | |
die rot-grüne Koalition im Jahr 2000 eingeführt hat, hat sich das | |
schließlich geändert. Das war doch ein Fortschritt, oder nicht? | |
Steinbach: Ich weiß nicht, ob das ein Fortschritt ist. Wenn sie volljährig | |
sind, müssen sie sich ja für eine Staatsbürgerschaft entscheiden - die | |
deutsche oder die ihrer Eltern. Das ist durchaus konfliktträchtig. | |
Wäre es Ihnen denn lieber, sie würden gleich Deutsche? | |
Steinbach: Nein. Ich glaube nur, dass es für einen jungen Menschen schwer | |
ist, so eine Wahl zu treffen. Und dass es da stark auf die Familie ankommt, | |
wie er sich am Ende entscheidet. | |
Foroutan: Oder auf das politische und gesellschaftliche Klima, das seine | |
Entscheidung mit beeinflusst. | |
Wie könnte eine moderne deutsche Leitkultur aussehen, die es Einwanderern | |
leichter macht, sich mit Deutschland zu identifizieren? | |
Steinbach: Wir brauchen gar nicht nach einer Leitkultur zu suchen. Wir | |
haben schon eine. Die Leitkultur dieser Mehrheitsgesellschaft gründet auf | |
dem christlichen Abendland, auch wenn heute nicht mehr alle Christen sind. | |
Sie ist durch unsere Sprache, unsere Literatur, unsere Musik definiert. | |
Dadurch werden wir, ob wir wollen oder nicht, in unseren Befindlichkeiten | |
geleitet. | |
Celik: Ich werde dadurch nicht geleitet. | |
Brussig: Es ist unsere freie Entscheidung, wodurch wir uns leiten lassen. | |
Und es ist ja nicht so, dass uns nichts passieren kann, nur weil wir Goethe | |
und Beethoven intus haben. | |
Steinbach: Da kann sehr viel passieren, einschließlich Adolf Hitler … | |
Brussig: Ja eben, deshalb ist mir das auch zu wenig. Ich würde deshalb | |
sagen, dass zu unserer Leitkultur auch eine gewisse Offenheit gehören | |
sollte. Das würde ich auch aus der Tradition heraus ableiten - etwa von dem | |
Preußenkönig, der da einst sagte, es möge hier ein jeder nach seiner Fasson | |
glücklich werden. | |
Steinbach: Friedrich der Große. | |
Brussig: Genau. Oder wie meine Mutter sagt: Jedem Tierchen sein | |
Pläsierchen. | |
Steinbach: Das ist die Volksvariante. | |
Brussig: Ja, und die halte ich für tragfähig. Wie tragfähig dagegen das | |
Christentum als Leitkultur ist, weiß ich nicht. Ich bin kein Christ und | |
fühle mich hier trotzdem wohl. Auch wenn ich nicht über jede Debatte immer | |
so glücklich bin. | |
Was tun wir, damit Deutschland sich nicht abschafft? | |
Steinbach: Deutschland wird sich nicht abschaffen. Es ist ein vielfältiges | |
Land und ein sehr schönes dazu. Wir müssen uns nur darauf besinnen, was | |
unsere Stärken sind. Dazu gehört auch, dass wir konsequent angehen, was wir | |
als Problem erkannt haben. Mit aller Fürsorge, aber auch mit aller | |
Beharrlichkeit. | |
Foroutan: Wir sollten diesen paternalistischen Blick auf Migranten ablegen. | |
Ich glaube, wir müssen endlich damit anfangen, allen Bürgern dieses Landes | |
eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewähren. Und lieber den Blick darauf | |
werfen, was wir alle gemeinsam für dieses Land tun müssen in Zeiten | |
globaler Unsicherheiten. Weil wir dieses Land in all seiner Vielfalt | |
genauso als unser Land betrachten wie Sie. | |
Steinbach: Klingt gut. | |
Brussig: Ich weise nur darauf hin, dass der Name Sarrazin darauf hindeutet, | |
dass seine Familie auch noch nicht seit Karl dem Großen oder Otto dem | |
Ersten dabei war, sondern auch irgendwann dazugekommen ist. Und wenn wir | |
das, was der Familie Sarrazin widerfahren ist, eben auch den hier lebenden | |
Familien Samadi oder Atatürk angedeihen ließen, dann wären wir schon einen | |
großen Schritt weiter. | |
Celik: Ich wünsche mir, dass die Politiker sich eindeutig zu uns bekennen | |
und deutliche, positive Signale senden. Damit wir zusammenwachsen können. | |
Sonst wird das ein Nebeneinander, kein Miteinander. | |
Steinbach: Was inszenieren Sie eigentlich demnächst von Mozart? | |
Celik: Die "Entführung aus dem Serail". | |
8 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
J. Feddersen | |
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