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# taz.de -- Runder taz-Tisch zur Integration: "Die Atmosphäre ist total vergif…
> Ein Streitgespräch zwischen Erika Steinbach, Naika Foroutan, Neco Celik
> und Thomas Brussig über Heimat, "Leitkultur" und die Schwierigkeit, als
> gleichberechtigter Bürger anerkannt zu werden.
Bild: Neco Celik, Naika Foroutan, Thomas Brussig, Erika Steinbach (v.l.n.r.)
Sind Ostdeutsche eigentlich gut integriert? Lässt sich die Lage vieler
Vertriebener, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik kamen,
mit der Situation von Flüchtlingen aus dem Iran oder der von türkischen
Gastarbeiterkindern vergleichen?
Zu diesen Fragen lud die taz vier ExpertInnen ein: die
Vertriebenensprecherin schlechthin, Erika Steinbach; die Politologin Naika
Foroutan, deren Eltern aus dem Iran geflüchtet waren; den Schriftsteller
Thomas Brussig, einen Kenner ostdeutscher Gemütszustände der Nachwendezeit,
sowie Neco Celik, Regisseur aus Berlin und bekennender Kreuzberger.
Frau Steinbach, Frau Foroutan, Herr Brussig, Herr Celik: Was ist Heimat für
Sie?
Erika Steinbach: Meine Mutter. Das habe ich aber erst bemerkt, als sie
gestorben war. Vorher war ich eher heimatlos.
Naika Foroutan: Für mich ist Heimat der Rosenthaler Platz. Dort bin ich zu
Hause.
Thomas Brussig: Ja, das ist so ein Ort, da hat man so dieses Berlingefühl.
Aber Heimat ist auch ein sehr missbrauchter Begriff, weswegen ich mich
lange gegen so etwas wie Heimatgefühle gesträubt habe.
Neco Celik: Auf meinen Reisen ins Ausland bekomme ich immer bestätigt: Ah,
du bist Deutscher. Und dann kommst du nach Hause, und du wirst wieder mit
dieser ganzen Integrationssoße zugeschüttet. Ich lasse es deshalb lieber
noch offen.
Frau Steinbach, Sie haben ja auch einen Migrationshintergrund. Und die
Vertriebenen wurden nach dem Krieg in vielen Gegenden auch nicht gerade mit
offenen Armen empfangen. Ist Ihnen das Gefühl vertraut, von den
Alteingesessenen ausgegrenzt zu werden?
Steinbach: Ich bin eine Zwangsmigrantin, wenn diese Vokabel überhaupt auf
deutsche Vertriebene zutrifft. Aber das Gefühl der Ablehnung kennen wir.
Meiner Mutter wurde in Schleswig-Holstein gesagt, als sie nur etwas Milch
für mein sehr krankes kleines Schwesterchen wollte: "Ihr seid ja schlimmer
als die Kakerlaken." Es hat sie bis zu ihrem Lebensende verfolgt, dass die
eigenen Landsleute so etwas zu ihr gesagt haben. Trotzdem war die Situation
völlig anders, weil wir dieselbe Sprache sprachen und dieselbe Kultur
teilten: also Goethe, Schiller, all das. Wir waren ja ein Volk, wie man es
in der DDR am Ende so schön sagte.
Herr Brussig, sind wir ein Volk? Nach dem Mauerfall wurden die Unterschiede
zwischen Ost und West deutlich. Fühlten Sie sich nach der Vereinigung fremd
im neuen Deutschland?
Brussig: Ja und nein. Die Westdeutschen waren schon irgendwie anders. Die
hatten eine ganz andere Grandezza, einen ganz anderen Auftritt, ein ganz
anderes Selbstbewusstsein. Da gab es diesen schönen Witz: Man braucht im
Westen dreizehn Jahre zum Abitur, weil da ist ein Jahr Schauspielunterricht
dabei. Also, der trifft das ganz gut.
Steinbach: Habe ich noch nie gehört. Merke ich mir.
Brussig: Deutschland muss sich erst noch daran gewöhnen, "Deutsch"
vorbehaltlos für vieles gelten zu lassen. Und ich frage mich, wie lange
Ossis noch als Ossis gesehen werden. Ich denke, das wird so lange dauern,
bis sich die sozialen Unterschiede eingeebnet haben, was
Vermögensverteilung oder Arbeitslosigkeit betrifft. Auch bei der Besetzung
von Führungspositionen in der Wirtschaft ist das Gefälle noch groß.
Celik: Ich glaube nicht, dass sich das ändern wird, wenn ich sehe, dass wir
heute immer noch über dieses Thema sprechen und so ein Buch wie das von
Sarrazin das ganze Land zum Wackeln bringen kann. Plötzlich haben alle
etwas gegen Menschen mit Migrationshintergrund, was auch immer das sein
soll. Und die Wessis werden auch immer über die Ossis herziehen.
Foroutan: Gerade in diesen Zeiten der Globalisierung halten viele aber auch
für sich selbst an einer bestimmten Form von Identität fest, ob das nun
"Ossi", "Wessi" oder das Vertriebenensein ist. Wir führen viele Interviews
mit jungen Leuten mit Migrationshintergrund. Da gibt es immer mehr, die
sich mit Stolz als "muslimisch" oder "türkisch" bezeichnen und das auch
überhaupt nicht tauschen wollen gegen ein "Deutschsein".
Und Sie selbst?
Foroutan: Ich persönlich bezeichne mich gern als Deutschiranerin oder als
"iranischdeutsch". Das sind beides Teile meiner Identität.
Steinbach: Ich glaube, die Unterscheidung zwischen Ossis und Wessis wird
sich auswachsen. Bei den Zuwanderern wird sich das aber nicht so schnell
auflösen. Da gibt es die, die sich diesem Land zugehörig fühlen, in guten
wie in schlechten Zeiten. Das ist sicher der überwiegende Teil. Und da sind
die, die erkennbar nicht mitmachen, die sich abgrenzen. Das macht vielen
Menschen Angst und führt zu den Debatten, die Sie, Herr Celik, jetzt
beklagt haben. Aber Sie, Frau Foroutan, werden nie Probleme haben: jemand,
der so gut die Landessprache spricht und einfach mitmacht.
Foroutan: Das stimmt so ja nicht. Untersuchungen zeigen, dass bei gleicher
Leistung und bei gleicher Qualifikation die Bewerber, die einen
herkunftsdeutschen Namen haben, meist eher zum Bewerbungsgespräch
eingeladen werden als solche mit Migrationshintergrund. Und viele haben es
satt, dass man ihnen einfach nur aufgrund ihres Phänotyps immer wieder die
Frage stellt: Woher kommst du? Man beginnt sich dann zu fragen: Ist man nur
dann deutsch, wenn man blond ist?
Steinbach: Davon gibt es gar nicht so viele, wie man glaubt.
Foroutan: Umso verwunderlicher, dass diese Frage noch so häufig gestellt
wird! Deutschland ist ja schon längst plural. Gerade in Frankfurt!
Steinbach: Über hundert Nationen haben wir da.
Foroutan: Sie haben vor allen Dingen 72 Prozent Kinder mit
Migrationshintergrund. Da kann man Deutschland gar nicht mehr in
urtümlichen, homogenen Strukturen denken - weil es das in vielen Gegenden
einfach nicht mehr gibt. Dieses Bewusstsein und Gefühl dafür, das müssen
wir erst noch erlernen, alle.
Steinbach: Ich glaube allerdings, dass die Mehrheit der originären
deutschen Bevölkerung ein gemeinsam tradiertes, kulturelles Fundament teilt
und daran festhalten möchte: Das ist unsere Literatur, unsere Sprache.
Uns scheint, dass Sie das Moment der gemeinsamen deutschen Kultur viel zu
stark gewichten. Haben Konservative und Linksliberale denn so viel gemein?
Und liest die Unterschicht nicht eher die Bild-Zeitung als Heinrich Böll?
Foroutan: Und die meisten Ossis sind zum Beispiel überhaupt nicht religiös
…
Steinbach: Ja, aber auch die Ossis feiern Weihnachten und Ostern. Und ich
mache es auch nicht allein an der Religion fest, sondern an der Kultur. Für
mich hat das ein großes Gewicht. Ich glaube sogar, dass uns das über die
politische Trennung Deutschlands hinweggeholfen hat. Deutsche Musik etwa,
ob das nun Brahms, Beethoven oder Mendelssohn ist. Das war und ist ein
starkes, verbindendes Element. Orientalische Musik dagegen kenne ich wenig
…
Mozart hat Sie integriert …
Steinbach: Ja, allerdings in westlicher Tonalität. Und es gibt ja auch
wunderschöne Literatur, die aus dem Orient kommt. Ich habe als junges
Mädchen liebend gern "Tausendundeine Nacht" gelesen - natürlich in der
Kindervariante. Da passen Sie, Frau Foroutan, wunderbar hinein: So habe ich
mir eine Prinzessin aus "Tausendundeiner Nacht" immer vorgestellt.
Celik: Und ich bin Aladin oder was? Also wir haben auch eine Ahnung von
Mozart, Schiller und Goethe. Ich werde 2013 sogar Mozart inszenieren.
Steinbach: Ja, Sie leben ja auch schon eine Weile hier.
Celik: Nicht eine Weile. Ich bin hier geboren. Und die Mehrheit von uns
lebt seit über 40 Jahren hier. Aber so wird das leider nicht diskutiert.
Steinbach: Ich glaube schon, dass es so diskutiert wird. Aber es gibt einen
Bereich, der den Menschen eben Sorge macht, der sie ängstigt. Und ich halte
es auch nicht für Ausgrenzung, wenn man sich für seinen Mitmenschen
interessiert und ihn fragt, wo er herkommt, wenn er etwa einen Akzent hat.
Da bin ich immer neugierig: Wo kann ich den einordnen, liege ich da
richtig? Bei Ihnen, Frau Foroutan, würde ich nie fragen: An Ihrem Deutsch
merkt man, Sie sind hier aufgewachsen.
Foroutan: Ich werde trotzdem täglich gefragt. Täglich.
Celik: Hinzu kommt, dass wir hier in Deutschland gerade mal wieder
kübelweise mit Schmutz übergossen werden.
Steinbach: Ach nein, die Migranten hier werden doch nicht mit Schmutz
übergossen. Die aktuelle Debatte dreht sich doch nur um einige wenige.
Foroutan: Na ja, um die Muslime.
Brussig: Doch, Frau Steinbach, das stimmt. Die Atmosphäre ist vergiftet.
Celik: Total vergiftet.
Steinbach: Ich glaube, dass manche Migranten auch etwas überempfindlich auf
Dinge reagieren, die gar nicht so gemeint sind, und dass sich dann die
Empfindlichkeiten gegenseitig aufschaukeln. Gerade aus dem muslimischen
Bereich gibt es ja auch viele, die sagen: Wir müssen sehr wachsam sein
gegenüber diesen Integrationsverweigerern, die sich ihre Gattinnen ja ganz
bewusst aus dem tiefen Anatolien holen.
Celik: Wo liegt denn das Problem, wenn man seinen Ehepartner aus Anatolien
holt, solange das freiwillig geschieht?
Steinbach: Das arme Wurm darf dann auch wieder nicht Deutsch lernen und
bleibt in der Wohnung eingesperrt.
Foroutan: Die können doch gar nicht mehr nach Deutschland rein, bevor sie
nicht den A2-Deutschtest gemacht haben.
Celik: Sie diskutieren diese Einzelfälle, als ginge es um alle.
Steinbach: Nein, ich sage ja, das ist nur ein kleiner Teil. Aber dieser
kleine Teil, der ängstigt.
Brussig: Nein. Mit seinem Titel "Deutschland schafft sich ab" spielt
Sarrazin doch nicht auf eine Minderheit an. Deutschland wird sicher nicht
durch eine kleine Minderheit abgeschafft. Nein, Sarrazin hat höher gezielt.
Und das, woran sich dann so viel entzündet hat, ist etwa, dass er wertvolle
Schwangerschaften gegen Schwangerschaften gestellt hat, die uns auf Dauer
alle teuer zu stehen kommen werden. Mit dieser Rechnung, einer typischen
Volkswirtsrechnung, hat er einen Tabubruch begangen.
Foroutan: Die Integrationsverweigerung wird außerdem einseitig einer
bestimmten Gruppe und einer bestimmten Kultur zur Last gelegt. Ich will
Ihnen ein Beispiel nennen. Mein Mann ist Rechtsanwalt und hatte in letzter
Zeit mehrere Fälle in Neuruppin. Jedes Mal, wenn er von dort wiederkommt,
ist er zerschmettert: Von den ganzen Integrationsverweigerern deutscher
Herkunft, die es dort gibt. Von Vergewaltigung, Drogen, Kriminalität, Mord.
Er könnte ja nach Hause kommen und sagen: Na ja, die Ossis, die sind ja
ganz schön kulturell verwahrlost. Aber das erschiene ihm absurd.
Bildungsferne, Kriminalität, Gewalt in der Ehe - all das gibt es überall
auf der Welt. Aber in der gegenwärtige Debatte wird gesagt: Das kommt aus
dem Islam.
Steinbach: Sie haben völlig recht: es gibt auch unter den seit Generationen
einheimischen Deutschen welche, die unwillig sind, eine Berufstätigkeit
aufzunehmen, selbst wenn sie es könnten, und lieber die Hand aufhalten. Da
muss man genauso ansetzen.
Foroutan: Es gibt ja in Deutschland leider nun mal keine Vollbeschäftigung
und Arbeit für jeden.
Ist es nicht so, dass ein bestimmtes Milieu, das man früher
Lumpenproletariat genannt hätte, nun einfach sehr stark von Migranten
geprägt wird?
Foroutan: Es gibt ja auch vieles, was nicht mit dem Faktor Kultur
zusammenhängt. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut
hat etwa Gruppen von Migranten untersucht, die ursprünglich aus der Türkei
stammen. Er hat festgestellt: In Oldenburg zählen prozentual wesentlich
mehr zu den Bildungsaufsteigern, wohingegen in bestimmten Gebieten von
Dortmund nur ein minimaler Anteil zu diesen bildungsaffinen Gruppen
gehören. Und das liegt ja dann vielleicht doch eher an der Politik der
Stadt Dortmund und an der Politik der Stadt Oldenburg als daran, dass es
sich um Muslime handelt.
Steinbach: Möglicherweise hängt es auch daran, woher die Menschen gekommen
sind? Wenn die nun alle aus dem tiefsten Anatolien kamen?
Foroutan: Nein, die Vergleichsgruppen sind gleich. Nur gibt es in Dortmund
stark segregierte Stadtviertel, und in Oldenburg leben die Menschen über
die ganze Stadt verteilt.
Steinbach: Das ist immer besser. In dem Moment, wo man eine Art Getto
entstehen lässt, produziert man fahrlässig Probleme. So ist es offenbar in
Berlin geschehen. In Frankfurt haben wir das zum Glück nicht im gleichen
Ausmaß.
Celik: Ich stelle mir gerade vor, Frau Steinbach, wir beide wären
arbeitslos und würden uns in einer Schlange vor der Arbeitsagentur treffen
und ins Gespräch kommen. Und Sie würden zu mir sagen, dass es nicht in
Ordnung ist, dass ich arbeitslos sei und mich an den Transferleistungen
bediene. Weil ich einen Migrationshintergrund habe. So kommt mir das gerade
vor.
Sie meinen, das Problem ist die Arbeitslosigkeit, nicht die Herkunft?
Celik: Genau. Aber stattdessen wird gesagt: Eine kleine Gruppe von euch,
die holt sich ihre Frauen aus Anatolien, und das macht die Situation dann
schlimm für uns alle.
Herr Brussig, sind Sie froh darüber, dass das Ossi-Bashing durch das
Muslim-Bashing abgelöst wurde? In den neunziger Jahren wurden Ossis ja auch
verantwortlich gemacht für alles, was schieflief im Osten: für
Rechtsextremismus, Wendeverlierer, soziale Verwahrlosung.
Brussig: Klar, dass sich die Dummen nun ein neues Thema suchen. Und ich
erkenne bestimmte Argumentationsmuster in der aktuellen Debatte wieder.
Deshalb haben die hier lebenden Deutschen mit türkischem oder arabischem
Namen mein vollstes Mitgefühl. Aber ich glaube, es kann auch jederzeit
wieder zum Ossi-Bashing zurückkommen.
Steinbach: Aber die Bayern und die Preußen, die sind auch übereinander
hergezogen! Und zwar ziemlich drastisch.
Brussig: Das ist aber etwas anderes, weil es eben nicht mit dieser
Degradierung von Lebenschancen einhergeht. Und das ist nun mal der Fall, wo
wir nach wie vor ein gravierendes Ost-West-Gefälle haben und wo es auch
keine gleichen Chancen für Deutsche mit Migrationshintergrund gibt.
Deswegen ist diese Studie mit den zwei Bewerbungen, die eine mit einem
türkischen Namen und die andere mit einem deutschen Namen, eine gravierende
Sache. Die Witze, die dann gemacht werden, sind genau deshalb auch so
verletzend: weil sie eine Herabsetzung spiegeln, die ja im wirklichen Leben
auch stattfindet.
Steinbach: Was halten Sie denn von anonymisierten Bewerbungen? Wir haben
das ja im Bereich der Musik. Bei manchen Orchestern wird es so gehandhabt,
dass derjenige, der zur Probe vorspielt, hinter einem Vorhang verborgen
ist: Man kann ihn nicht sehen, und dann wird nur nach Qualität ausgewählt.
Was halten Sie davon?
Foroutan: So etwas finde ich notwendig. Diese Generation ist hier
aufgewachsen, hier sozialisiert und hat das deutsche Schulsystem
durchlaufen mit Goethe, Schiller und Heine - also genau dem, was Frau
Steinbach als den kulturellen Kern Deutschlands beschreibt. Können Sie
nachvollziehen, dass diese Generation im Grunde genommen genau das gleiche
empfindet wie damals viele Vertriebene, die hier nicht akzeptiert wurden,
obwohl sie sich doch als kulturell gleich empfanden. Diese dritte
Generation scheitert immer wieder daran, sich unhinterfragt zugehörig zu
fühlen. Und nicht nur daran!
Steinbach: Aber immer und überall? Ich erlebe das in Frankfurt anders.
Foroutan: Na ja, zumindest bei 53 Prozent. Das ist schon sehr viel. Bei 53
Prozent der Mehrheitsgesellschaft, das ergeben Befragungen des Bielefelder
Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung, lässt sich das Moment des
"Etabliertenvorrechts" finden - also dieses Gefühl, dass derjenige, der
zuerst da war, mehr Rechte haben sollte. Man fragt sich nur, wann endet das
Zuerst-da-gewesen-Sein? Wann der Migrationshintergrund? Juristisch wäre das
nach der dritten Generation. Aber phänotypisch bleibt das haften. Und wenn
Sie dunkelhäutig sind, dunkelhaarig, dann wird Ihnen immer wieder
abgesprochen, gleichberechtigte bei der Teilhabe zu sein.
Steinbach: Das wird sich auch auflösen. Das ist ein Prozess.
Celik: Ich bin da sehr skeptisch. Mein Sohn, der ist acht Jahre alt, hatte
neulich ein Fußballspiel. Und da sagte ein deutscher Junge: Müssen wir
jetzt gegen die Türken spielen? Mein Sohn spielt bei einem Kreuzberger
Verein. Und wenn wir dann zu einem Spiel in die Außenbezirke fahren und man
sieht, was da für eine negative Energie herrscht, das ist teilweise
unerträglich. Durch solche Debatten wie um Sarrazin wird das genährt. Es
wird ja nicht besser, sondern schlimmer. Das ist das Problem.
Können Sie verstehen, dass Sarrazin - oder zumindest diese Debatte, die er
mit seinen Thesen ausgelöst hat - vielen Leuten Angst macht?
Steinbach: Das kann ich verstehen. Aber ich glaube, dass die deutsche
Gesellschaft und die deutsche politische Klasse über Jahrzehnte hinweg auch
zu blauäugig gewesen sind und die Probleme verdrängt haben. Ich kann mich
noch lebhaft daran erinnern, wie die CDU sagte, die Kinder müssen in der
Schule Deutsch sprechen können, die müssen auch identische Umgangsformen
haben. Wir sind dafür an unseren Informationsständen bespuckt worden, man
sprach von Zwangsgermanisierung. Heute ist es quer durch die politische
Klasse Konsens, dass es in der Schule eine einheitliche Sprache geben muss.
Der Lehrer verzweifelt ja sonst.
Die Union hat sich sechzehn Jahre lang geweigert, die Einwanderer als
Einwanderer anzuerkennen. Erst mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht, das
die rot-grüne Koalition im Jahr 2000 eingeführt hat, hat sich das
schließlich geändert. Das war doch ein Fortschritt, oder nicht?
Steinbach: Ich weiß nicht, ob das ein Fortschritt ist. Wenn sie volljährig
sind, müssen sie sich ja für eine Staatsbürgerschaft entscheiden - die
deutsche oder die ihrer Eltern. Das ist durchaus konfliktträchtig.
Wäre es Ihnen denn lieber, sie würden gleich Deutsche?
Steinbach: Nein. Ich glaube nur, dass es für einen jungen Menschen schwer
ist, so eine Wahl zu treffen. Und dass es da stark auf die Familie ankommt,
wie er sich am Ende entscheidet.
Foroutan: Oder auf das politische und gesellschaftliche Klima, das seine
Entscheidung mit beeinflusst.
Wie könnte eine moderne deutsche Leitkultur aussehen, die es Einwanderern
leichter macht, sich mit Deutschland zu identifizieren?
Steinbach: Wir brauchen gar nicht nach einer Leitkultur zu suchen. Wir
haben schon eine. Die Leitkultur dieser Mehrheitsgesellschaft gründet auf
dem christlichen Abendland, auch wenn heute nicht mehr alle Christen sind.
Sie ist durch unsere Sprache, unsere Literatur, unsere Musik definiert.
Dadurch werden wir, ob wir wollen oder nicht, in unseren Befindlichkeiten
geleitet.
Celik: Ich werde dadurch nicht geleitet.
Brussig: Es ist unsere freie Entscheidung, wodurch wir uns leiten lassen.
Und es ist ja nicht so, dass uns nichts passieren kann, nur weil wir Goethe
und Beethoven intus haben.
Steinbach: Da kann sehr viel passieren, einschließlich Adolf Hitler …
Brussig: Ja eben, deshalb ist mir das auch zu wenig. Ich würde deshalb
sagen, dass zu unserer Leitkultur auch eine gewisse Offenheit gehören
sollte. Das würde ich auch aus der Tradition heraus ableiten - etwa von dem
Preußenkönig, der da einst sagte, es möge hier ein jeder nach seiner Fasson
glücklich werden.
Steinbach: Friedrich der Große.
Brussig: Genau. Oder wie meine Mutter sagt: Jedem Tierchen sein
Pläsierchen.
Steinbach: Das ist die Volksvariante.
Brussig: Ja, und die halte ich für tragfähig. Wie tragfähig dagegen das
Christentum als Leitkultur ist, weiß ich nicht. Ich bin kein Christ und
fühle mich hier trotzdem wohl. Auch wenn ich nicht über jede Debatte immer
so glücklich bin.
Was tun wir, damit Deutschland sich nicht abschafft?
Steinbach: Deutschland wird sich nicht abschaffen. Es ist ein vielfältiges
Land und ein sehr schönes dazu. Wir müssen uns nur darauf besinnen, was
unsere Stärken sind. Dazu gehört auch, dass wir konsequent angehen, was wir
als Problem erkannt haben. Mit aller Fürsorge, aber auch mit aller
Beharrlichkeit.
Foroutan: Wir sollten diesen paternalistischen Blick auf Migranten ablegen.
Ich glaube, wir müssen endlich damit anfangen, allen Bürgern dieses Landes
eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewähren. Und lieber den Blick darauf
werfen, was wir alle gemeinsam für dieses Land tun müssen in Zeiten
globaler Unsicherheiten. Weil wir dieses Land in all seiner Vielfalt
genauso als unser Land betrachten wie Sie.
Steinbach: Klingt gut.
Brussig: Ich weise nur darauf hin, dass der Name Sarrazin darauf hindeutet,
dass seine Familie auch noch nicht seit Karl dem Großen oder Otto dem
Ersten dabei war, sondern auch irgendwann dazugekommen ist. Und wenn wir
das, was der Familie Sarrazin widerfahren ist, eben auch den hier lebenden
Familien Samadi oder Atatürk angedeihen ließen, dann wären wir schon einen
großen Schritt weiter.
Celik: Ich wünsche mir, dass die Politiker sich eindeutig zu uns bekennen
und deutliche, positive Signale senden. Damit wir zusammenwachsen können.
Sonst wird das ein Nebeneinander, kein Miteinander.
Steinbach: Was inszenieren Sie eigentlich demnächst von Mozart?
Celik: Die "Entführung aus dem Serail".
8 Dec 2010
## AUTOREN
J. Feddersen
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Henryk M. Broder interviewt Thilo Sarrazin: "Es war ein langer und lauter Furz"
Was ist so schlimm daran, wenn sich Deutschland selbst abschafft? Und was
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Die deutsche Wirtschaft würde gern mehr ausländische Fachkräfte anwerben.
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