# taz.de -- Psychologie der Sarrazin-Leser: Auch die Unterschicht kauft Thilo | |
> "Deutschland schafft sich ab" soll das hierzulande bestverkaufte Buch | |
> seit 1945 sein. Nun gibt es neue Untersuchungen zum Inhalt und zu den | |
> Käufern. | |
Bild: Über Sarrazin weiß man inzwischen einiges, nun gibt es auch Information… | |
Für Thilo Sarrazin fing das neue Jahr gut an. Kurz vor Weihnachten teilte | |
ihm sein Verlag mit, dass sich sein Buch "Deutschland schafft sich ab" 1,2 | |
Millionen Mal verkauft habe. Ein Riesenerfolg. Sarrazin, der sich gern als | |
Tabubrecher inszeniert, der ausspricht, was lange unter den Teppich gekehrt | |
wurde, sendete noch einmal auf allen Kanälen: Kaum ein Jahresrückblick kam | |
ohne ihn aus. Immer wieder dabei war einer seiner Lieblingssätze: "Die von | |
mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten." | |
Doch die Berliner Politologin Naika Foroutan widersprach Sarrazin bereits | |
im September in einer Talkshow, jetzt hat ihr Team nachgelegt und Sarrazins | |
Werk detailliert überprüft. Auch die Gesellschaft für Konsumforschung hat | |
analysiert und gerechnet - und eine Psychologie der 1,2 Millionen | |
Buchkäufer erstellt. Es gibt also neue Erkenntnisse im Fall Sarrazin, Zeit | |
für neun erläuternde Fragen und Antworten. | |
Sind die Kinder aus muslimischen Familien immer noch genauso schlecht | |
ausgebildet wie ihre Eltern? | |
Sarrazin schreibt in seinem Buch: "Besorgniserregend ist, dass die Probleme | |
der muslimischen Migranten auch bei der zweiten und dritten Generation | |
auftreten, sich also quasi vererben, wie der Vergleich der | |
Bildungsabschlüsse zeigt." | |
Die ForscherInnen von der Berliner Humboldt-Universität sehen das anders. | |
Sie verweisen auf die Studie "Muslimisches Leben in Deutschland", die das | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Islamkonferenz | |
erstellt und 2009 veröffentlicht hat. Darin weist das Bundesamt nach, "dass | |
Zuwanderer der zweiten Generation deutlich häufiger als ihre | |
Elterngeneration das deutsche Schulsystem mit einem Schulabschluss | |
verlassen". Dies gelte insbesondere für Musliminnen. Die Schlussfolgerung | |
des Bundesamtes: "Hier lässt sich ein Bildungsaufstieg erkennen." Das ist | |
zwar nicht überraschend, weil das Bildungsniveau vieler Einwanderer der | |
ersten Generation extrem niedrig war - widerlegt aber Sarrazins These, es | |
gebe keine Verbesserung. Und dafür gibt es auch andere Belege, darunter die | |
neue Pisa-Studie. Diese zeigt, dass sich Jugendliche mit | |
Migrationshintergrund seit Pisa 2000 beim Lesen deutlich verbessert haben. | |
Bei deutschstämmigen Jugendlichen ist das nicht der Fall. | |
Tragen immer mehr muslimische Frauen in Deutschland ein Kopftuch? | |
Das zumindest behauptet Sarrazin: "Sichtbares Zeichen für die muslimischen | |
Parallelgesellschaften ist das Kopftuch. Seine zunehmende Verbreitung zeigt | |
das Wachsen der Parallelgesellschaft an." | |
Sein Beleg: der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung. Dieser zeige | |
zudem, dass unter den 18- bis 29-jährigen Musliminnen bereits 34 Prozent | |
das Kopftuch trügen. Die Studie habe aber, so die ForscherInnen um Naika | |
Foroutan, lediglich gefragt, ob eine muslimische Frau ein Kopftuch tragen | |
sollte - und nicht, ob die befragte Frau ihr Haar tatsächlich bedeckt. Die | |
Studie "Muslimisches Leben in Deutschland" des Bundesamtes kommt zu dem | |
Ergebnis: "In der zweiten Generation nimmt die Häufigkeit des | |
Kopftuchtragens signifikant ab." | |
Geben sich "Türken und Araber zu großen Teilen kaum Mühe, Deutsch zu | |
lernen", wie Sarrazin behauptet? | |
Eine Studie des konservativen Allensbach-Instituts kommt zu einem anderen | |
Ergebnis. Sie hat für 70 Prozent der Türkischstämmigen ermittelt, ihre | |
Deutschkenntnisse seien sehr gut oder gut. Für lediglich 10 Prozent heißt | |
es, die Deutschkenntnisse seien "gar nicht gut". Für das Ergebnis war die | |
Einschätzung des Interviewers ausschlaggebend, es ging nicht um eine | |
Selbsteinschätzung der Befragten. | |
Werden in Berlin tatsächlich 20 Prozent aller Gewalttaten von nur 1.000 | |
türkischen und arabischen Jugendlichen begangen? | |
Genau das behauptet Sarrazin in seinem Buch. Foroutan bat den Berliner | |
Polizeipräsidenten um eine Stellungnahme zu dieser Behauptung. Dessen | |
Antwort: "8,7 Prozent der Gewaltkriminalität in der Polizeilichen | |
Kriminalstatistik wurden im Jahr 2009 von Tatverdächtigen begangen, die | |
entweder türkischer Nationalität oder dem arabischen Raum zuzuordnen waren. | |
Erweitert man die Personengruppe um die Personen, deren Nationalität als | |
,unbekannt' oder ,keine Angaben' erfasst wurden, was zumindest häufig für | |
eine Herkunft aus dem arabischen Raum sprechen kann, erhöht sich die Zahl | |
der Fälle auf 2.509, was dem Anteil von 13,3 Prozenten an allen Fällen der | |
Gewaltkriminalität entspricht." | |
Stimmt es, dass nur alte Männer Sarrazin lesen? | |
Die Süddeutsche Zeitung (SZ) hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) | |
beauftragt, ihre Buchmarktstatistiken im Hinblick auf die Käufer des | |
Sarrazin-Buchs auszuwerten. Die Ergebnisse zeigen die Eigenschaften und | |
Neigungen der Käufer im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung: Fast 70 | |
Prozent der Bücher wurden von männlichen Lesern oder für Männer gekauft. | |
Mit 43 Prozent sind die meisten Leser zwischen 30 und 59 Jahre alt. Im | |
Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind unter ihnen aber überdurchschnittlich | |
viele entweder über 60 (36 Prozent) oder zwischen 20 und 29 Jahre alt (17 | |
Prozent). | |
Was machen Sarrazin-Leser in ihrer Freizeit? | |
Am liebsten gar nichts. Unter den Sarrazin-Lesern finden sich 16 Prozent | |
weniger als in der Gesamtbevölkerung, die angeben, "gern viel zu | |
unternehmen". Außerdem sind erheblich weniger (60 Prozent) Sarrazin-Leser | |
bereit, ein Risiko einzugehen, als der Durchschnittsdeutsche. | |
Sind Sarrazin-Leser reich? | |
Je mehr ein Deutscher verdient, desto wahrscheinlicher liest er | |
"Deutschland schafft sich ab". 34 Prozent der Leser verdienen über 3.000 | |
Euro und mehr, während dieser Verdienstklasse nur 26 Prozent der Deutschen | |
angehören. Im Gegensatz dazu sind die 41 Prozent der Deutschen, die unter | |
2.000 Euro verdienen, mit 23 Prozent in Sarrazins Leserschaft | |
unterrepräsentiert. Der Sarrazin-Leser sorgt sich zwar um Deutschlands | |
Zukunft, aber wenig um die eigene: "Ich habe finanziell in ausreichendem | |
Maße vorgesorgt", geben 20 Prozent mehr an als im Durchschnitt. | |
Lesen auch Hauptschulabsolventen Sarrazin? | |
Obwohl Sarrazin Hauptschülern jede Zukunftschance versagt, hat der Studie | |
zufolge jeder fünfte Sarrazin-Käufer nur einen Hauptschulabschluss. | |
Allerdings hat mit 48 Prozent die Mehrheit der Leser mindestens Abitur | |
gemacht. | |
Sarrazin lesen doch vor allem Bild-Fans, oder? | |
Nicht unbedingt. Jedenfalls lasen unter den Sarrazin-Käufern nur 4 Prozent | |
mehr die Bild-Zeitung als im Durchschnitt. Dagegen sind unter den | |
Sarrazin-Lesern fast fünfmal so viele Leser des Spitzenreiters Frankfurter | |
Allgemeine Sonntagszeitung wie in der Gesamtbevölkerung. Ansonsten stehen | |
aber auch Welt am Sonntag und Die Zeit bei den Sarrazin-Lesern hoch im | |
Kurs. taz-Leser sind hier unterrepräsentiert. Unter den Sarrazin-Käufern | |
sind 11 Prozent weniger taz-Leser als im Bevölkerungsdurchschnitt. | |
10 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
S. am Orde | |
T. Strothjohann | |
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