# taz.de -- Aus der Deutschland-taz: Im achten Kreis der Hölle | |
> Bis zum Ende werden die Schwachen und die Starken aneinander gekettet | |
> sein. Nur leider wird das in Deutschland zu oft vergessen und eine | |
> Politik der zwei Herzen betrieben. | |
Bild: Nur in einer Diktatur kennen alle die Regeln: Wladimir Kaminer. | |
Beinahe jedes Jahr schafft sich irgendein Deutschland ab und ein anderes | |
entsteht. Das Leben geht weiter, es ändert sich jeden Tag - zum Ärger der | |
einen und zur Freude der anderen. Allein in meiner Wahlheimat Berlin | |
Prenzlauer Berg habe ich in den letzten zwanzig Jahren jede Menge | |
Veränderungen erlebt. | |
Als ich hierher zog, war diese Wohngegend von der sogenannten russischen | |
Motte befallen - also von freiberuflichen Künstlern und Schauspielern, die | |
wie Motten in den Kastanienbäumen an allen Kneipentischen klebten. Die | |
Lebenskünstler aus dem Westen lösten die schwermütigen ostdeutschen Rentner | |
in ihren Wohnungen mit Ofenheizung und Außentoilette ab. | |
Später kamen die unrasierten norddeutschen Kneipenwirte, dann die | |
geschäftstüchtigen Schwaben und die alten Kinder des Internets. Heute ist | |
unsere Gegend durchmischt und undurchsichtig. Aber es fällt auf, dass die | |
meisten hier keine vernünftige Arbeit haben: Sie halten zusammen, helfen | |
einander und kommen so über die Runden. | |
Die Fähigkeit zur Veränderung unterscheidet eine offene von einer | |
totalitären Gesellschaft. Der deutsche Bundespräsident sagte einmal, die | |
Demokratie lebe davon, dass alle Bürger ihre Regeln verstehen und | |
verinnerlichten. In Wirklichkeit lebt eine Diktatur davon, dass alle ihre | |
Regeln kennen. Eine Demokratie dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass | |
niemand ihre Regeln versteht, geschweige denn auswendig kennt. Nein, diese | |
Regeln werden vielmehr im demokratischen Prozess ständig neu erfunden. | |
Die große Kunst der Politik in einer solchen Gesellschaft besteht darin, | |
die Interessen der unterschiedlichen Gruppen, den unzähligen Minderheiten, | |
zu berücksichtigen und sie alle unter ein Hut zu bringen. Ein vernünftiger | |
Staat muss ein solidarischer sein: Er hat eine Existenzberechtigung nur, | |
wenn ihm alle seine Bürger gleich wert sind - ganz egal, wie viel Geld sie | |
in die Staatskasse bringen. | |
In Deutschland wird leider immer öfter die Politik der zwei Herzen | |
betrieben. "Wenn wir ein Herz für die Leistungsschwachen haben wollen, | |
müssen wir auch ein Herz für die Leistungsstarken zeigen", sagte die | |
Bundeskanzlerin. Sie spaltet damit die Gesellschaft. Ihr folgend versuchte | |
ein streberhafter Vorstand der Bundesbank, die Menschen in Gut und Doof zu | |
teilen. Nur die, die eine Leistung bringen, verdienen Respekt, lautet seine | |
Botschaft. | |
Dabei ist Leistung keine menschliche Eigenschaft, es ist ein Wort aus der | |
Welt der Technik. Computer und Autos haben eine bestimmte Leistung, von | |
Krankenversicherungen werden Leistungen angeboten oder noch öfter | |
gestrichen. Ein Mensch ist mehr als ein Dienstleister: Er blüht auf, wenn | |
er nicht aus Leistungsdruck, sondern aus Leidenschaft etwas tut. Für den | |
aber, der das Leben als eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung versteht, hört sich | |
"Leidenschaft" unwirtlich an. Sein Traum ist eine Gesellschaft, die sich | |
von nutzlosen Menschen befreit hat - von diesen ganzen Leistungsschwachen, | |
die keinen vernünftigen Mehrwert erschaffen, dazu sich noch komisch kleiden | |
und schlechtes Deutsch sprechen. | |
Zum Beispiel Menschen, die einst nach Deutschland geholt wurden für eine | |
Arbeit, die kein Deutscher machen wollte. Sie sollten in den Tiefen der | |
Zechen Kohle nach oben fördern und danach verschwinden, sich in Luft | |
auflösen oder selbst zu Kohle werden. Ich weiß nicht, wie sich die | |
Deutschen damals die Rückkehr der Bergarbeiter vorgestellt haben, auf jeden | |
Fall hat keiner damit gerechnet, dass sie hier bleiben, ihre Frauen | |
nachholen und Kinder in die Welt setzen würden, die rappen. | |
Aus der Sicht eines Buchhalters wäre es von Nutzen, diese Menschen | |
loszuwerden - und etliche andere, die schwächeln, dazu. Dann wäre | |
Deutschland ein Land der Starken und Klugen: Zum Arbeiten kann man ja immer | |
noch andere Dumme aus dem Ausland holen, und wenn die Zeit reif ist, sie | |
per Gentest wieder rausmobben. | |
Es wurden nicht nur in Deutschland immer wieder Versuche unternommen, die | |
Schwachen von den Starken zu trennen, die Richtigen von den Falschen, die | |
Guten von den Bösen. Doch alle diese Versuche scheiterten. Immer gingen mit | |
den Schwachen auch die Starken drauf. Ein Rätsel. | |
Anscheinend sind die Schwachen und die Starken auf eine verhängnisvolle | |
Weise voneinander abhängig. Sie können ohne einander nicht auskommen. Kaum | |
werden die Schwachen beseitigt, fangen schon die ersten Starken an, zu | |
schwächeln und werden aus ihre Reihen herausgepöbelt. Es gibt für niemand | |
eine individuelle Rettung auf diesem Planeten, selbst für den Vorstand der | |
Bundesbank nicht. Entweder alle oder keiner. | |
Bis ans Ende aller Tage werden die Schwachen und die Starken aneinander | |
gekettet sein. An guten Tagen werden sie den Wert dieses Zusammenhalts zu | |
schätzen wissen. An schlechten Tagen werden die Spalter Zwietracht und Zorn | |
zwischen ihnen säen. Und weil es viel leichter geht, aufeinander | |
loszudreschen als einander zu helfen, haben die Spalter und falschen | |
Ratgeber oft großen Erfolg. Dafür landen sie bei Dante im achten Kreis der | |
Hölle - mitsamt allen Fälschern und Verrätern. Es soll dort die ganze Zeit | |
düster und kalt sein, sie frieren im Eis, und keiner reicht dem anderen die | |
Hand. | |
7 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Wladimir Kaminer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Aus der Deutschland-taz: Bis zum letzten Pfiff | |
Seit 18 Jahren bin ich in Deutschland nur geduldet - und pfeife für den | |
Deutschen Fußballbund. Damit mein Vater wieder einreisen darf, soll meine | |
Familie über 10.000 Euro zahlen. | |
Henryk M. Broder interviewt Thilo Sarrazin: "Es war ein langer und lauter Furz" | |
Was ist so schlimm daran, wenn sich Deutschland selbst abschafft? Und was | |
antwortet Thilo Sarrazin seinen Kritikern? Henryk M. Broder hat für die taz | |
nachgefragt. Das Interview in ganzer Länge. | |
Aus der Deutschland-taz: Das Ende der Dankbarkeit | |
Ich hatte es schon geschafft: vom Arbeiterkind zur Türkin zur Migrantin. | |
Nun wundere ich mich, dass ich für viele Deutsche wieder eine Ausländerin | |
bin. | |
Aus der Deutschland-taz: Drei Farben Deutschland | |
In den linken Milieus und den Migrantenszenen gibt es eine falsche Scheu | |
vor der Liebe zu Land und Leuten. Wieso es gut ist, die Heimat zu lieben. | |
Ein Bekenntnis. | |
Aus der Deutschland-taz: "Wir achten nicht auf Herkunft" | |
Wegen angeblicher Deutschenfeindlichkeit geriet ihre Schule in die | |
Schlagzeilen. Sechs SchülerInnen der Otto-Hahn-Gesamtschule in Neukölln | |
wehren sich im Gespräch gegen diese Abstempelung. | |
Aus der Deutschland-taz: No Integration, Baby! | |
In vielen Großstädten hat jeder dritte Erwachsene einen | |
Migrationshintergrund. Das Gesicht des Landes hat sich verändert. Schafft | |
den Begriff Integration ab! | |
Aus der Deutschland-taz: Es lebe das Indernet! | |
Die deutsche Wirtschaft würde gern mehr ausländische Fachkräfte anwerben. | |
Doch die xenophobe Stimmung, die derzeit geschürt wird, steht dem entgegen. | |
Aus der Deutschland-taz: Mein Farbfilm | |
Wer sonst als die Migranten könnte den Deutschen das Ringen um ihr | |
Selbstverständnis vor Augen führen? Denn was deutsch ist und was nicht, | |
wird über Abgrenzung definiert. | |
Aus der Deutschland-taz: "Ich bin ein schwuler Pitbull" | |
Für seine Familie darf er alles sein, nur nicht schwul; für seine | |
Castingagentur durfte er nur den Klischeetürken mimen. Aber er konnte es | |
einfach niemandem recht machen. |