# taz.de -- Debatte Islamkritiker: Unsinn Mittäterschaft | |
> Henryk M. Broder und seine Freunde in ursächlichen Zusammenhang mit dem | |
> Massenmörder von Norwegen zu bringen, ist unhaltbar. Und es ist | |
> gefährlich | |
Bild: Henryk M. Broder (l.) interviewt Thilo Sarrazin in der taz am 23.11.2010. | |
Dass just zur zehnjährigen Wiederkehr von Nine Eleven die Welt den | |
"Backlash" des ersten antiislamischen Massenmörders erlebte, hat unsere | |
"Terrorexperten" anfänglich so überrascht, dass sie die monströse Tat | |
prompt routinemäßig al-Qaida zuschlugen. Weniger überrascht geben sich | |
dagegen Teile der Linken und tendieren dabei ihrerseits manchmal zu einem | |
überzogenen Rückschlag. | |
Ines Kappert und Robert Misik (taz v. 25./26. 7.) entdecken als Motive der | |
Tat jene "Ideologieversatzstücke", die Rechtspopulisten wie Geert Wilders | |
und Blogs wie Politically Incorrect (PI) zugrunde liegen, aber auch den | |
Positionen der "Islamkritiker" (Misik). "Politiker, Blogger, Publizisten" | |
hätten jene "Spinner selbst geschaffen, die bereit sind, der Flausen wegen, | |
die sie ihnen in den Kopf gesetzt haben, Dutzende von Menschen zu | |
ermorden". Die Conclusio laut taz: "Broder und Co. haben sich der | |
Mittäterschaft schuldig gemacht." "Lasst sie damit nicht davonkommen." | |
## Es gibt keine Tatbeteiligung | |
Das ist starker Tobak. Denn bei dem Begriff der Mittäterschaft handelt es | |
sich um einen originär strafrechtlichen Begriff, mit dem man äußerst | |
vorsichtig umgehen sollte. Welche Strafe, möchte man fragen, steht | |
eigentlich auf derartige "Mittäterschaft" am Massenmord - wenn nicht | |
lebenslänglich? Und wie sieht die Tatbeteiligung en détail aus? Denn | |
Mittäterschaft ernst genommen behauptet eine Ursächlichkeit für die Tat. | |
Fraglos haben Publizisten wie Broder und Sarrazin zu einer stark | |
antimuslimischen Stimmung gerade in der Mitte der Gesellschaft beigetragen. | |
Was die Frage der eigentlichen Täterschaft anbelangt, gilt es jedoch ganz | |
genau zwischen Ideologie und Tat zu unterscheiden. | |
Das vom Attentäter Anders Behring Breivik ins Netz gestellte Manifest ist | |
ein erstaunliches Sammelsurium, in dem neben narzisstischen Interviews des | |
Täters mit sich selbst Zitate von Henryk M. Broder, aber auch von | |
Klassikern des liberalen Denkens stehen, etwa von John Stuart Mill. Hier | |
beginnt das Problem: Offenbar ist ein bestimmter intellektueller Auslöser | |
für die monströse Tat gar nicht auszumachen. Ohnehin ist eine unmittelbare | |
Kausalität zwischen Ideologie und Tat kaum herzustellen: Ob sich ein Mensch | |
nach der Lektüre eines zynischen Broder-Artikels schmollend zurückzieht, in | |
den einschlägigen Hass-Blogs wie PI austobt oder aber in seinem Willen zum | |
Massenmord bestärken lässt, bleibt dessen eigener Entscheidung überlassen. | |
Wer das Attentat dagegen auf "Flausen" zurückführt, die Behring Breivik "in | |
den Kopf gesetzt" wurden, macht den hochgradig berechnenden und | |
intelligenten Täter zum naiven Opfer und verkennt den ungeheuren | |
Stellenwert der eigentlichen Tatdurchführung. Der monströsen Tat ging eine | |
systematische Entmenschlichung des Gegenübers voraus, die in der | |
anschließenden Tat lustvoll ausagiert wurde. Hier aber, in ihrer | |
fundamental menschenverachtenden Haltung, ihrer Eiseskälte und | |
Empathielosigkeit, sind sich Anders Behring Breivik und Mohammed Atta, so | |
konträr auch ihr ideologisches Gerüst ist, unendlich viel näher als Breivik | |
und Broder. | |
## Vorsicht, Meinungsfreiheit | |
Umso mehr kommt es darauf an, dass die Grenzen nicht verschwimmen - was in | |
einer offenen, liberalen Gesellschaft zulässig bleiben muss und was nicht. | |
Islamkritik ist das eine, und menschenverachtender wie -verhetzender Hass | |
gegen die Muslime, wie er sich in PI austobt (wie übrigens an anderer | |
Stelle gegen Juden oder Christen), etwas völlig anderes. Grundsätzliche, | |
auch radikale Religionskritik, des Islam wie auch etwa des Christentums, | |
muss unbedingt weiter zulässig sein - gerade angesichts weiter | |
existierender fundamentalistischer Tendenzen in allen Religionen. Und | |
natürlich bleibt es ein Problem, dass viele Muslime sich mit Kritik an | |
ihrer Religion schwertun und einige sogar Kritiker des Islam mit allen | |
Mitteln mundtot zu machen trachten. | |
So richtig es somit bleibt, den biologistischen Charakter der | |
Sarrazin'schen Thesen und seinen teilweise menschenverachtenden Jargon zu | |
kritisieren, es gibt eine liberale Notwendigkeit, sich im Zweifel sogar für | |
Broder und Sarrazin und ihr Recht zur Islamkritik einzusetzen, so | |
unerträglich man sie auch empfinden mag. | |
## Linke Geschichtsvergessenheit | |
Wie aber erklärt sich dann der Wille der liberalen taz zur "überfälligen | |
Schubumkehr" (Misik), der den Anschlag als "Chance" (Kappert) begreifen | |
will? Offenbar verbirgt sich dahinter ein Gefühl der Schwäche auf der | |
Linken - nach einer Dekade massiver, durch Nine Eleven hervorgerufener | |
antimuslimischer Ressentiments und dem letzten Jahr einer beängstigenden | |
Sarrazin-Hysterie. | |
Die Broders und Sarrazins nun im Umkehrschluss für das Attentat in | |
Kollektivhaft zu nehmen, ist jedoch höchst gefährlich und zudem Ausdruck | |
einer erstaunlichen Geschichtsvergessenheit. Ende der 70er Jahre, im | |
"Deutschen Herbst", wurden jene ganz schnell zu Sympathisanten der RAF | |
erklärt, wer lediglich auf Demonstrationen mitgingen - und die Theoretiker | |
der Kritischen Theorie, ja selbst ein Literaturnobelpreisträger wie | |
Heinrich Böll umgehend zu "geistigen Brandstiftern" deklariert. Auch hier | |
hieß es stets: So was kommt von so was. | |
Mit Anders Behring Breivik erleben wir heute die Rückkehr eines | |
Weltanschauungstäters, der wie die RAF den Gerichtssaal als Bühne zur | |
Verbreitung seiner Thesen nutzen will. Und heute wie damals befindet sich | |
die Linke in einer prekären Lage: In den 70ern wurden ihr die Regeln von | |
einer teils reaktionären Öffentlichkeit diktiert, heute dagegen haben wir | |
es mit einer in Teilen anhaltend islam- und moslemfeindlichen Gesellschaft | |
zu tun. | |
Der Feindseligkeit gegenüber Muslimen kommen wir jedoch nicht bei, indem | |
wir nun umgekehrt die Sarrazins und Broders mundtot zu machen versuchen - | |
die doch nur stellvertretend für all jene stehen, die Angst vor einer | |
angeblichen "Islamisierung" der Gesellschaft haben. Vielmehr kommt es | |
darauf an, die harte, kontroverse Debatte auch über das Recht zur | |
Meinungsfreiheit und ihre Grenzen mit ihnen aufzunehmen. Das vor allem sind | |
wir unserer liberalen Gesellschaft schuldig. | |
29 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Albrecht von Lucke | |
## TAGS | |
Islamophobie | |
Islamismus | |
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