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# taz.de -- Antiislamismus und Rechtspopulismus: Sarrazins Untergang des Abendl…
> Europas Rechtspopulisten sind kaum religiös eingestellt, dafür von
> Abstiegsängsten erfüllt. Kern ihrer Erzählung ist die angebliche Distanz
> von Volk und Elite.
Bild: Bedroht durch den Islam? Dom zu Magdeburg.
Was wird Thilo Sarrazin mit seiner neuen Freizeit tun, die ihm nach der
voraussichtlichen Abberufung aus dem Vorstand der Bundesbank zur Verfügung
steht: sie zu neuen publizistischen Großtaten nutzen oder das Bauchgefühl
der breiten Zustimmung, das er verspüren durfte, zu einer
national-populistischen Bewegung formen? Die Ingredienzien einer solchen
Bewegung, die schon in vielen Ländern Europas erfolgreich ist und in
Österreich, Norwegen und in der Schweiz bis in die Regierung vorgedrungen
ist, sind auch in Deutschland seit Langem vorhanden.
Franz Schönhuber hatte seinen Auftritt Ende der 1980er Jahre, als sich der
Volkszorn noch gegen "Asylanten" richtete. Die NPD zog mit einem
nationalsozialistischen Programm für die Vereinigungs- und
Globalisierungsverlierer in ostdeutsche Landtage ein. Jürgen Möllemann gab
seinem hochfliegenden "Projekt 18" einen antisemitischen Anstrich, und die
Pro-Parteien (Pro Köln, NRW, Deutschland) mobilisieren gegen lokale
Moscheebauprojekte und die "Islamisierung Europas".
Besonders weit sind sie damit alle nicht gekommen. Eine politische Kraft
rechts von den Unionsparteien gilt in Deutschland als unanständig, und auf
Bundesebene ist eine sechste Partei vorerst unwahrscheinlich. Eine
Lebensversicherung für das politische System ist das nicht. Der Affekt
gegen "den Islam" ist das stärkste Mobilisierungsmotiv seit Langem, wie die
Sympathien für Thilo Sarrazin zeigen. Er kann auf eine Kultur des
Ressentiments zurückgreifen und sich als Gegenspieler des Establishments
präsentieren. Als Parteigründer fehlt Sarrazin freilich vieles: die
charismatische Ausstrahlung, die Volkstümlichkeit, die Fernsehtauglichkeit,
das politische Organisationstalent. Aber Sarrazin könnte die Tür öffnen für
andere, die das bereitliegende Skript zu einem attraktiven Plot
verarbeiten.
Der Kern der populistischen Erzählung ist die Gegenüberstellung von "Volk"
und "Eliten". Sie unterstellt eine tiefe Kluft zwischen den einfachen
Leuten, denen angeblich übel mitgespielt wird, und den Eliten, die
angeblich nur in ihre eigene Tasche wirtschaften. Den ersten Auftritt
dieser Art hatten Steuerrebellen wie in Dänemark Mogens Glistrup, die den
Wohlfahrtsstaat attackierten. Warum, fragten sie rhetorisch, müssen die
Leistungsträger einer Gesellschaft für die Schwachen zahlen, warum eine
ausufernde Sozialbürokratie alimentieren?
Zwar fließt der größte Teil der Leistungen des Sozialstaates an eine
mittelständische Klientel, aber auch der erstaunliche Erfolg der
Westerwelle-FDP war diesem Ressentiment gegen den "anstrengungslosen
Wohlstand" der Hartz-IV-Empfänger geschuldet. Es wird noch explosiver, wenn
diese aus dem Ausland stammen und "in unsere Sozialsysteme einwandern",
sagte einst bereits Helmut Kohl.
Zusätzlich befeuert wird der Populismus, wenn er jenseits sozioökonomischer
Neidgefühle Verunsicherungen durch die soziokulturelle Entgrenzung
aufgreift, also Ängste vor Überfremdung und Landnahme schürt. Aktuelle
Ausdrucksform dessen ist die Mobilisierung gegen die "Islamisierung
Europas", die lange verjährte Konflikte zwischen dem "christlichen
Abendland" und dem "muslimischen Orient" wiederbelebt.
Die reale Gefahr, die von al-Qaida oder Hasspredigern ausgeht, "Ehrenmorde"
und tatsächliche Integrationsdefizite werden zu einer populistischen
Verschwörungstheorie verwoben, in welcher der Islam als eine vormoderne und
gewalttätige Religion erscheint, die sich mit den Werten einer
freiheitlichen Demokratie wie in Deutschland grundsätzlich nicht vertrage.
Passionierte Islamkritiker, wie sie sich etwa im Blog "Achse des Guten"
aber auch im Onlinemagazin "Perlentaucher" artikulieren, tragen zur
Verwischung der Grenze zwischen legitimer Kritik am fundamentalistischen
Islam und einer diskriminierenden Hetze im täglichen Meinungskampf bei. Die
von Ressentiments Erfüllten erhalten so die Möglichkeit, ihren Rassismus zu
veredeln: Ihre Ablehnung alles Muslimischem habe schließlich gute Gründe,
da "der Islam" per se frauen- und schwulenfeindlich, nach Herrschaft
strebend und gewalttätig sei.
Einen Nerv hat Sarrazins Biologieunterricht da getroffen: Dem Verlust der
sexuellen Reproduktionsfähigkeit der einheimischen Mittelschicht steht in
dieser Sicht ein viriles Eroberervolk gegenüber, woraus ohnmächtige
Reinigungs- und Vertreibungsfantasien resultieren. Die Aversion gegen die
(vermeintlich allesamt tiefgläubigen) Muslime belegt einen Verlust an
religiöser Glaubensfähigkeit und Bindung.
Und beides zusammen bildet den Stoff für Degenerationsgeschichten vom
Untergang des "christlichen Abendlandes". Anhänger nationalpopulistischer
Parteien und Bewegungen sind, wie man vom französischen Front National
weiß, häufig sozial isoliert, weniger religiös eingestellt und von
Abstiegsängsten und Minderwertigkeitsgefühlen erfüllt. Wer dafür
hierzulande nach Belegen sucht, muss nur Internetforen vom Stil der
Plattform "Politically Incorrect" aufsuchen, eines der meistgelesenen
Politblogs in Deutschland.
Politisierbare Bruchstellen
Dort toben sich hilflose Wut und blanker Hass aus. Und wer immer
Differenzierteres zum Thema Islam veröffentlicht, erhält sogleich Dutzende
von Standardkommentaren und Hassmails. Stets in dem Tenor, man dürfe in
diesem Land nicht mehr seine Meinung sagen. Die Verfasser stilisieren sich
damit als Opfer angeblicher Meinungswächter und der politischen Eliten. Und
damit korrespondieren die Märtyrerlügen eines Möllemann oder Sarrazin.
Obwohl die Leitfiguren des Populismus in aller Regel betuchte Angehörige
der Elite sind - die im Falle Jörg Haiders und seiner "Buberlpartie"
offenbar Millionen Euro beiseitegeschafft haben -, erwecken sie den
Eindruck, ähnlich marginal und verfolgt zu sein wie die "schweigende
Mehrheit".
Politisierbar ist diese Sollbruchstelle des volksparteilich gesicherten
Konsenses, wenn Themen und Personen eine politische Spaltungslinie
aufreißen können. Solche Bruchstellen bildeten sich historisch an den
Gegensätzen Stadt/Land, religiös/säkular oder am Konflikt zwischen Kapital
und Arbeit beziehungsweise Markt und Staat heraus. Für solch große
Konflikt- und Spaltungslinien war zuletzt wenig Platz, einmal abgesehen von
der (schwachen) Linie, die zwischen "Ökologie" und "Ökonomie" verläuft und
hier und da grüne Parteien erfolgreich gemacht hat.
Aber wenn Nationalpopulisten, die in den meisten westlichen Demokratien auf
eine Zustimmung von durchschnittlich bis zu einem Fünftel der Bevölkerung
rechnen dürfen, eine Konfliktlinie zwischen Nationalstaat und
Weltgesellschaft und/oder Europa hochziehen könnten, würde ihr
protektionistisches Programm zur politischen Währung (Stimmen). In
Deutschland stand dem bisher die Nachhaltigkeit des antifaschistischen
Konsenses und vor allem die Aggregationskraft der etablierten Parteien
entgegen, die alle (bis auf die Grünen) in erheblichem Umfang
Sarrazin-Anhänger in ihren Reihen haben.
Broder, Giordano, Kelek
Jenseits seiner Themen lebt der Populismus vom Antiparteienaffekt und der
Verachtung der parteipolitischen Eliten, vom Wunsch, es "denen da oben" zu
zeigen. Die Chancen einer islamfeindlichen populistischen Bewegung
entscheiden sich nicht zuletzt daran, ob das deutsche Bürgertum seinen
Integrationsauftrag im Blick auf muslimische Einwanderer noch erfüllen mag.
Islamkritiker wie Henryk Broder, Ralph Giordano und Necla Kelek, die
Sarrazin beigesprungen sind, sollten sich wenigstens vom Sarrazinismus
distanzieren. Und die Sprecher der Volksparteien sollten nicht den Eindruck
erwecken, es habe dieser Provokation bedurft, damit sie offensichtliche
Probleme des Einwanderungslandes nun endlich wahrnehmen und bearbeiten
wollen. Dies geschieht bei verantwortungsbereiten Politikern und
Wissenschaftlern seit Langem.
10 Sep 2010
## AUTOREN
Claus Leggewie
Bernd Sommer
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