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# taz.de -- Dioxin-Skandal: Alles ist vergiftet
> Jetzt auch noch die Schweine! Doch reicht es für alle, wenn wir aus der
> Massenproduktion aussteigen? Aber ja! Die taz präsentiert den Fahrplan
> für eine neue Agrarwende.
Bild: Miss Piggy, die Schweinedame, liegt im Müll. "Alles ist vergiftet" laute…
Deutschland, Anfang 2000. Erst werden die Kühe verrückt und dann auch die
Verbraucher. Als Konsequenz aus der BSE-Krise will der damalige SPD-Kanzler
Gerhard Schröder "weg von den Agrarfabriken".
Heute, gut zehn Jahre später, steht in Weißenfels an der Saale der größte
Schweineschlachthof der EU; der Fleischfabrikant und
Schalke-04-Aufsichtsrat Clemens Tönnies lässt dort täglich 20.000 Tiere
schlachten. Im niedersächsischen Celle soll europaweit der größte
Hühnerschlachthof entstehen, andernorts planen Agrarier Megaställe.
Deutschland ist in den letzten Jahren - neben Belgien, Dänemark, den
Niederlanden, der französischen Bretagne und der italienischen Po-Ebene -
zum Zentrum der agrarindustriellen Fleischproduktion geworden. Stopp! -
fordern nun 300 Professoren und Wissenschaftler aus ganz Deutschland.
Darunter Agrarexperten, aber auch Theologen, Philosophen und Volkswirte.
Am Dienstag haben sie in einem [1][gemeinsamen Appell] den Ausstieg aus der
Massentierhaltung gefordert. So einen Aufruf hat es hierzulande noch nicht
gegeben. Erst ist man geneigt, ihn abzutun: "Ändert sich ja doch nichts."
Immer wieder werden Antibiotika in Shrimps gefunden oder verschimmelte
Bulletten neu verpackt. Die Republik empört sich kurz und geht dann über
zum Business as usual.
"Doch diesmal ist die Situation anders", sagt Ulrich Jasper von der
Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft - es gebe gute Gründe, den
Fahrplan zur Agrarwende 2.0 zu entwickeln. Jasper ist seit Jahren in
Opposition zur konventionellen Agrarpolitik, beobachtet die Szene genau.
Sein Punkt 1: Seit klar ist, dass neuerdings Dioxin in Ei und Fleisch
vorhanden sein kann, weil die krebserregende Substanz in Tonnen von
Tierfutter gemischt wurde, klingelt bei Jasper wieder oft das Telefon. "Die
Verbraucher vermeiden Hysterie und schalten zum Bauch auch den Kopf ein."
Statt sich wie früher nur zu empören, erklärten Bürger, der Skandal sei
doch absehbar gewesen, man müsse endlich an die Ursachen ran. Es gebe einen
"neuen, auffallend gut informierten Protestwillen".
Zumal zweitens Bürger Anfang der 80er Jahre zwar mal gegen Nitrate und
Ackerspritzmittel im Trinkwasser mobil machten und wetterten, wenn durch
sogenannte Flurbereinigungen die Landschaft umgekrempelt wurde. Lange regte
sich dann vor allem Ärger über die Gentechnik auf dem Acker. Die
Agrarpolitik trieb sonst niemanden auf die Straße.
Mittlerweile gibt es hingegen allerorten Bürgerproteste gegen den Bau von
neuen Ställen. Selbst ein FDP-Ratsherr aus dem Münsterland wandte sich vor
Kurzem hilfesuchend an Jasper. Er will einen Landwirt stoppen, der bereits
3.000 Schweine hält, nun aber noch vier Ställe für jeweils 40.000
Masthähnchen in der Gemeinde plant. Gegen die totale Industrialisierung der
Nahrung wenden sich längst nicht mehr nur ein paar Tierschützer oder
Veganer.
Dazu kommt drittens: Die einstige grüne Agrarministerin Renate Künast, die
nach der BSE-Krise die Ökologisierung der Landwirtschaft proklamierte,
stand einer mächtigen Front gegenüber - dem Deutschen Bauernverband. "Der
erklärte", so erzählt es Hubert Weiger, der Vorsitzende des Umweltverbandes
BUND heute, "wir sind immer schon für den Ökolandbau gewesen." Verbraucher
glaubten, alles werde gut, der mediale Hype ging vorbei, und das
Agrobusiness machte weiter wie zuvor. Doch mittlerweile sind viele Bauern
der Politik ihrer Lobby überdrüssig, die vor allem auf Größe und
Exportmärkte setzt, die Lobbyfront ist zumindest ein wenig geschwächt.
Verbraucher, Bauern, konservative Politiker - es sind unerwartete
Bündnisse, die Druck machen könnten für die Agrarwende 2.0. Vorschläge gibt
es zuhauf.
Ein Beispiel: Will ein Bauer am Ortsrand einen Stall errichten, musste er
bisher einen Antrag bei der Kreisbehörde stellen, die erteilt die
Genehmigung nach dem Baugesetzbuch. Das klappt meist ohne Probleme, wenn
alle Unterlagen vorliegen, weil es für Ställe einen Extrapassus gibt - sie
gelten anders als Wohnhäuser und Industrieanlagen als "privilegierte
Baumaßnahme im Außenbereich". Die Bundesregierung könnte das Privileg auf
Ställe begrenzen, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten.
Weiterer Änderungsbedarf: Bisher ist völlig unklar, wer für Panschereien
bei Lebensmitteln zahlt. Eine ausreichende Haftpflicht haben
Futtermittelhersteller wie die schleswig-holsteinische Firma Harles und
Jentzsch nicht, die im aktuellen Lebensmittelskandal im Fokus steht. So
bleiben Bauern und Verbraucher im Zweifel allein auf den Schäden sitzen.
Über die Krankenkosten, die Gifte in Lebensmitteln auslösen, redet noch gar
keiner.
Weitere Idee: Bauern müssen künftig nachweisen, dass sie für ihre Tiere
auch das Gros des benötigten Futters auf ihrem Acker erzeugen können -
sonst gibt es kein Geld mehr aus dem 60 Milliarden Euro schweren
EU-Subventionstopf.
Die industrielle Landwirtschaft macht sich freilich nicht nur an
Megaställen fest, sondern auch wie in Niedersachsen zum Beispiel an
riesigen Mais-Monokulturen, die das Landschaftsbild verändern und deren
Düngung das Grundwasser belastet.
Die EU-Kommission denkt darüber nach, die Subventionen davon abhängig zu
machen, dass der Bauer seine Felder nicht nur mit Mais bestellt, sondern
auch mal mit Weizen oder Roggen, also eine Fruchtfolge einhält.
Passiert da etwas Ungewöhnliches - und die EU wird zur Verbündeten der
Agrarindustrie-Gegner? "Sie ist in manchem weiter als die schwarz-gelbe
Koalition", sagt Umweltschützer Hubert Weiger. Die deutsche Regierung
stemmt sich derzeit gegen eine ökologische Neuausrichtung der
EU-Agrarsubventionen. Weiger will nun vor allem die EU-Parlamentarier für
die Wende 2.0 gewinnen, die mittlerweile Mitspracherecht in der
Agrarpolitik haben. Er sagt: "Die sind der Agrarlobby oft nicht so
verbunden wie die Regierungen und denken mehr an an alle Wähler."
Bleibt eine Frage: Gibt es noch genug zu essen, wenn die Bauern aus der
Massenproduktion aussteigen? "Ja, natürlich", sagt Ulrich Jasper. Denn die
industrielle Landwirtschaft zerstört ihre eigenen Grundlagen. Mit
Hochleistungsrindern und -hühnern ließe sich zwar mehr Fleisch produzieren.
Doch der Planet vertrage die Folgen auf Dauer nicht.
"Viehhaltung", so heißt es auch in einem Report der Vereinten Nationen,
"stellt sich als einer der zwei oder drei wichtigsten Verursacher unserer
größten Umweltprobleme heraus." Also müssen auch Verbraucher ran und ab und
zu statt des Steaks die Gemüsepfanne wählen.
11 Jan 2011
## LINKS
[1] http://www.gegen-massentierhaltung.de
## AUTOREN
Hanna Gersmann
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