# taz.de -- Boualem Sansal über Rebellion in Algerien: "Am Anfang ist der Schr… | |
> Frustriert, isoliert, im Würgegriff klandestiner Politstrukturen: Junge | |
> Algerier haben keine Chance auf eine nationale Erhebung wie in Tunesien, | |
> sagt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal. | |
Bild: Auch in Algerien rebellierte die Jugend Anfang Januar. Doch die Oppositio… | |
taz: Als ich während der Revolution in Tunesien war, ging mir ein Satz aus | |
Ihrem Buch "Postlagernd: Algier" nicht aus dem Kopf: "Im Grunde genommen | |
haben wir nie Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen … frei heraus, | |
ernsthaft, mit Methode, ohne Vorbehalte …" Die Tunesier brachen Anfang | |
dieses Jahres ganz plötzlich das Schweigen. Ist dieses freie Reden | |
kennzeichnend für die Proteste, die derzeit in der gesamten arabischen Welt | |
stattfinden? | |
Boualem Sansal: Das Gespräch ist die Grundlage des Menschseins. Wenn dem | |
Menschen das genommen wird, stirbt er. Das genau passiert in der arabischen | |
und islamischen Welt. Es ist ein langsamer Tod, wenn man über nichts | |
sprechen, sich nicht mit den anderen austauschen, seine Widersprüche | |
diskutieren kann. Die Menschen lehnen sich auf, wenn sie merken, dass der | |
Tod nahe ist. Die Aufstände sind keine wirtschaftlichen, sozialen oder | |
politischen Unruhen, wie immer wieder behauptet wird. Die Menschen spüren | |
ganz einfach die Notwendigkeit zu reden. Deshalb reagieren sie. Wie ein | |
Tier, das getötet werden soll, auch reagiert. | |
Es ist also die Rebellion einer gut ausgebildeten, gut informierten Jugend, | |
der jeglicher Freiraum vorenthalten wird? | |
Die jungen Leute sehen im Internet und im Satellitenfernsehen, was draußen | |
in der Welt geschieht. Sie sind Zeuge, wie die europäische und | |
amerikanische Jugend lebt. Sie sehen Altersgenossen, die reden, | |
ausprobieren, ihr eigenes Leben leben. Und dann schauen sie sich in ihren | |
Ländern um und merken, dass sie über nichts reden können. Das betrifft | |
nicht nur die Politik, die Diskussion über das politische Regime, über die | |
Demokratie, sondern auch den Alltag. Sie können auch zu Hause über nichts | |
reden. Alles dreht sich um den Respekt gegenüber den Eltern, gegenüber der | |
Religion, den Traditionen, sie können nicht mit Mädchen oder Jungs | |
sprechen, auch nicht mit ihren Lehrern … Die Jugendlichen stehen völlig | |
alleine da. | |
Es handelt sich also viel eher um einen Aufstand gegen etwas als um einen | |
Aufstand für etwas? | |
Es ist eine Rebellion gegen das Eingeschlossensein. Und im Laufe der | |
Rebellion entdeckt man dann die Möglichkeiten, die man tatsächlich hat. Es | |
taucht die Frage auf, was man machen kann. Erst dann kommt die Politik ins | |
Spiel und es geht plötzlich gegen Ben Ali, gegen Mubarak, für die | |
Demokratie … Aber am Anfang ist es nichts weiter als eine biologische | |
Reaktion, ein Schrei nach Leben und gegen die Mauer, die alles umgibt. | |
Ein arabischer Mai 1968? | |
Das ist ein guter Vergleich. Die Jugend fühlt sich völlig von der | |
Gesellschaft ausgeschlossen. Es ist die Gesellschaft der Erwachsenen, die | |
angepasst leben, die ein völlig antiquiertes politisches System akzeptieren | |
und weiterhin starke familiäre Traditionen pflegen. Das nimmt den | |
Jugendlichen jeden Tag ein bisschen mehr die Luft zum Atmen, bis das Ganze | |
explodiert. | |
Die Jugendlichen erobern also ihre Unabhängigkeit von der Generation der | |
Unabhängigkeitskriege? | |
Der Kampf um die Unabhängigkeit vom Kolonialismus lebt in unseren Köpfen | |
als Mythos weiter. Wir verbinden das mit der Freiheit und der Möglichkeit, | |
unsere eigene Identität zu leben. Das Gegenteil, die Abkapselung, wurde | |
Realität. Ganze Generationen haben das erduldet. Jetzt ist der Moment für | |
die zweite, die echte Unabhängigkeit gekommen. Es geht nicht mehr um die | |
Unabhängigkeit eines Landes, jetzt geht es um die Unabhängigkeit des | |
Individuums. | |
Auch in Algerien rebellierte die Jugend Anfang Januar. Doch die Opposition | |
hat die Rebellion verschlafen. Erst jetzt, am 12. Februar, mehr als einen | |
Monat später, organisiert ein breites Bündnis Demonstrationen für einen | |
demokratischen Wandel. | |
Die Bewegung, die jetzt zu Demonstrationen aufruft, ist keine spontane | |
Angelegenheit, wie dies in Tunesien der Fall war. Die Frage ist, ob das | |
Bündnis auch die Jugend mobilisieren kann. | |
Dabei ist die Opposition in Algerien wesentlich mehr strukturiert, als dies | |
in Tunesien der Fall war. | |
In Algerien gibt es tatsächlich mehr sichtbare Strukturen aus Parteien und | |
Verbänden. Doch die Jugendlichen haben Angst davor, dass sie politisch | |
manipuliert werden. Die Parteien in Algerien sind keine echten Parteien. | |
Sie stehen im Ruf, mit der Aristokratie des Systems im Kontakt zu stehen. | |
Aber es gibt auch unsichtbare Strukturen. In jeder Straße hängen die | |
Jugendlichen herum, sie stützen die Wände, wie man bei uns sagt. Sie | |
diskutieren, sie tauschen sich aus, sie bilden informelle Strukturen. Die | |
gesamte algerische Jugend ist auf diese Art und Weise vernetzt. Sie reden | |
über Rebellion, über das, was sie anderswo sehen. | |
Aber diese Strukturen der algerischen Jugend haben bisher nur spontane, | |
lokal oder regional begrenzte Aufstände hervorgebracht und keinen | |
Flächenbrand, wie in Tunesien. Warum ist das so? | |
Algerien ist sehr groß, vor allem ist es kein wirklich einheitliches Land. | |
Die Berberregion Kabylei ist ein Land im Land. Das Gleiche gilt für die | |
Region rund um Algier, für Oran, den Süden, den Osten …Wenn etwas in Oran | |
passiert, interessiert das die Menschen in Algier kaum und umgekehrt. Das | |
Nationalgefühl der Algerier ist nicht so ausgeprägt wie in Tunesien. Hinzu | |
kommt die linguistische Aufspaltung Algeriens: Wir definieren uns als | |
arabophon, frankophon oder sprechen die Berbersprache … | |
Es ist aber auch der Fehler der Opposition. Ihr ist es nicht gelungen, | |
diese regionalen Unterschiede zu überwinden, das Land als solches zu | |
mobilisieren. | |
Sicher, die Opposition ist ein Ausdruck dieser zersplitterten Realität. Es | |
ist sehr schwierig, eine nationale Oppositionspartei ins Leben zu rufen. | |
Bis auf die Islamisten. Die waren in den 1990er-Jahren eine wirkliche | |
nationale Kraft. | |
Die Islamisten sind keine Ausnahme. Am Anfang war es eine romantische | |
Bewegung, die an das goldene Zeitalter des Islam glaubte. Doch sie haben | |
ganz schnell gelernt, wie die anderen Parteien zu funktionieren. Auch sie | |
zerfielen intern in Strömungen, Regionen, Interessengruppen. Heute haben | |
wir zwei islamistische Parteien: Ennahda, die sich im Osten rekrutiert, und | |
MSP-Hamas, deren Führer alle aus Blida, unweit von Algier, stammen. | |
Die Machthaber in Algerien scheinen gelernt zu haben, mit den immer wieder | |
aufflammenden, spontanen und isolierten Aufständen zu leben. | |
Die ehemalige Einheitspartei FLN, die das Land in die Unabhängigkeit | |
geführt hat und bis heute regiert, kennt das Land sehr gut. Sie kennen die | |
regionalen Unterschiede sehr genau, mit diesem Wissen halten sie sich an | |
der Macht. Hinzu kommt, dass die eigentliche Macht in Algerien seit dem | |
Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich unsichtbar geblieben ist. Die FLN | |
funktionierte im Untergrund ohne große, bekannte Führer. Das ist bis heute | |
so geblieben. In Algerien trifft eine Gruppe der Mächtigen im Hintergrund | |
die Entscheidungen. In einem modernen Staat ist es eigentlich unerlässlich, | |
dass die Menschen die Entscheidungsträger kennen, dass diese sichtbar sind. | |
Der moderne algerische Staat ist nur eine Fassade. Dahinter steckt noch | |
immer dieses Kollektiv, die klandestine Gruppe. | |
Sie sprechen von den Generälen der Armee? | |
Das sind nicht nur die Generäle, sondern alle möglichen Interessengruppen: | |
Clans, große Familien, Verbände und Organisationen, Regionalfürsten … Ohne | |
das Einverständnis all dieser Gruppen kann die Regierung nicht wirklich | |
etwas entscheiden. In Tunesien war das einfacher, da gab es einen Clan, den | |
von Ben Ali. In Algerien sind die wirklichen Strukturen für den Bürger | |
völlig undurchschaubar. | |
Beeinflussen diese Clanstrukturen auch die Opposition? | |
Sicher. Jede Partei ist in einer Region verankert und oft sogar nur in | |
einem regionalen Clan. Selbst die Presse orientiert sich an den Interessen | |
verschiedener Clans. Algerien ist, ähnlich wie Afghanistan, kein echter | |
Staat. Es ist eine Summe aus Clans, Regionen und Hochburgen. Alles andere | |
ist Fassade, weil man sie nach außen hin braucht. | |
Ist eine Rebellion, die aus den Clanstrukturen ausbricht, überhaupt denkbar | |
in Algerien? | |
Ich glaube nicht, dass dies möglich ist. Jedes Mal, wenn irgendwo Unruhen | |
ausbrechen, spielt die Macht erfolgreich die regionalen Unterschiede aus. | |
Es ist sehr schwierig, aus einer örtlich begrenzten Rebellion eine | |
nationale Erhebung zu machen. Algerien ist innerhalb der Instabilität dank | |
dieser Aufsplitterung sehr stabil. | |
Vor ein paar Jahren schrieben Sie: "Algerien ist ein Land, das die Hoffnung | |
verloren hat." Wenn ich Sie richtig verstehe, hat sich für Sie daran nicht | |
viel geändert. | |
Es wird Aufstände geben und Mobilisierungen, aber ohne den Mächtigen | |
wirklich gefährlich zu werden. Sie haben dank der Erdöleinnahmen Geld im | |
Überfluss und sind somit jederzeit in der Lage, neue Parteien, neue | |
Organisationen, neue Minister, neue Regierungschefs und selbst neue | |
Präsidenten zu fabrizieren. | |
Eine Revolution wie in Tunesien halten Sie also für völlig ausgeschlossen? | |
Die einzige unbekannte Größe in diesem Spiel sind die Jugendlichen. Keiner | |
weiß, was tatsächlich in ihren Köpfen vorgeht. Doch solange die Macht nicht | |
wirklich traumatische Fakten schafft, indem sie zum Beispiel eine große | |
Zahl von Menschen tötet, wird der Funke nicht überspringen. | |
Boualem Sansal, sind Sie ein unverbesserlicher Pessimist? | |
Leider hat sich mein Pessimismus bis heute stets bestätigt. | |
7 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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