Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Übergangsregierung in Tunesien: Auf der Suche nach Demokratie
> Eine Reformkommission arbeitet an Gesetzen für einen friedlichen Übergang
> in die Demokratie zu organisieren. Bis es so weit ist, kann es noch
> Monate dauern.
Bild: An Tunis' Wänden kann man sehen, was diskutiert wird.
TUNIS taz | Wer wissen will, über was Tunesier diskutieren, der muss auf
die Wände der Hauptstadt Tunis schauen. "Wir wollen kein Präsidialsystem,
sondern eine parlamentarische Demokratie", heißt es auf einen Bauzaun.
Während in Ägypten die Armee mit eiserner Hand beschlossen hat, das Land in
nur 10 Tagen mit einer reformierten Verfassung zu versehen, bereiten sich
die Tunesier auf einen langen Selbstfindungsprozess vor.
Ghazi Gherairi ist Professor für öffentliches Recht und jetzt der Sprecher
der Kommission, die Tunesiens Gesetze reformieren soll, um freie Wahlen zu
garantieren. Seine Reformkommission wurde zusammen mit zwei weiteren von
der Übergangsregierung unter Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi ins
Leben gerufen, "öffentlichen und unabhängigen Institutionen", zur
Untersuchung der Repression und der Korruption, in einer ehemaligen Bank in
Tunis.
"Wir arbeiten mit mehreren Hypothesen", sagt Gherairi. Eine Möglichkeit sei
es, die aktuelle Verfassung leicht abgeändert beizubehalten, um dann einen
Präsidenten und später ein Parlament zu wählen. Oder man arbeite zuerst
eine ganz neue Verfassung aus. Entweder nach freien Präsidentschaftswahlen
oder nach der Wahl einer verfassungsgebende Versammlung.
"Die Entscheidung wird im Dialog mit allen politischen Kräften und der
Zivilgesellschaft fallen", sagt Gherairi. Die Kommission lädt Parteien und
Gruppierungen, sammelt die Meinungen, um dann einen Vorschlag
auszuarbeiten. Der soll auf einer nationalen Konferenz diskutiert werden.
"Ideal wäre eine verfassungsgebende Versammlung und ein Referendum", gibt
Gherairi seine "persönliche Meinung" preis, warnt aber gleichzeitig davor,
das "dies viel Zeit kostet, die wir nicht unbedingt haben". Denn Tunesien
brauche so schnell wie möglich eine durch Wahlen legitimierte Regierung.
"Präsidentschaftswahlen in vier bis fünf Monaten können nur dazu führen,
das jemand aus dem Umfeld der alten Regierungspartei RCD gewählt wird",
hält der Vorsitzende der kommunistischen POCT, Hamma Hammami, dagegen. Nach
23 Jahren Diktatur gibt es in Tunesien keine starke politische Klasse.
Der 59-jährige, der 13 Jahre in Haft saß, empfängt im Justizpalast, wo 28
Parteien und Gruppierungen die letzten Details für einen "Rat zum Schutz
der Revolution" diskutieren. Das Spektrum reicht von links außen über
Menschenrechts- und Frauenorganisationen, Vertreter der Gewerkschaft UGTT,
Anwalts- und Richterverbände bis hin zu den Islamisten von Ennahda.
Sie alle eint der Wunsch nach einer parlamentarischen Demokratie. "Eine
Präsidentialsystem kann eine neue personenbezogene Macht hervorbringen",
warnt Hammami. Es gelte zuerst mit dem ganzen verhassten System
aufzuräumen, um dann mittels einer verfassungsgebenden Versammlung zur
zweiten tunesischen Republik zu schreiten. Hammami redet von alten
Strukturen in den Ministerien, der Verwaltung, der Polizei und den Medien
und spricht der Übergangsregierung unter Ghannouchi, der bereits bei Ben
Ali als Premier gedient hat, jede Legitimität ab.
Die Gewerkschaft UGTT, die seit Jahren den Spagat zwischen Ben Alis Regime
und der Opposition praktiziert hat und die sich letztendlich hinter die
Proteste stellte, die das Regime zum Einsturz brachten, könnte zum Opfer
der sich zuspitzenden politischen Debatte werden.
Zum einen verhandelt sie immer wieder direkt mit der Übergangsregierung,
wenn es zum Beispiel um die Ernennung neuer Gouverneure in den Provinzen
geht. Zum anderen hat sie Vertreter im "Revolutionsrat". "Zwischen Macht
und Gegenmacht", heißt das Motto des UGTT-Vorstandes. Die Basis freilich
scheint sich für Letzteres entschieden zu haben.
17 Feb 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neue Regierung in Tunesien: Die Revolution frisst ihren Opa
Der neue tunesische Premier Caïd Essebsi ist 84, sein bisheriger
Karrierehöhepunkt war die Bewältigung eines Putschversuches im Jahr 1962.
Hunderttausende bei Demos in Tunesien: Proteste gegen das Präsidialsystem
Tunesien erlebt die größte Demonstration, die das Land je gesehen hat. Der
Verfassungsrechtler Kayès Said plädierte für eine "Periode des
Nichtrechts".
Revolution in Ägypten: Neue Regierung nimmt die Arbeit auf
Die Schlüsselressorts der umgebildeten ägyptischen Regierung wie
Verteidigung und Justiz bleiben unverändert. Aber zum ersten Mal sind
Oppositionelle und christliche Kopten dabei.
Kommentar Aufstand in Arabien: Die vielen Gründe des Zorns
Kein arabischer Potentat hätte sich die aktuellen Proteste vor zwei Monaten
träumen lassen. Ihre Länder weisen alle Konflikte auf, die
Revolutionspotential besitzen.
Forscher über Proteste und Social Media: Facebook will kein Revoluzzer sein
Ist Facebook der Star der arabischen Revolten? US-Netzforscher Ethan
Zuckerman spricht mit der taz über den Einfluss sozialer Medien und die
Kunst des Zuhörens.
Dossier Arabische Revolution: Der Rapper, der Ben Ali Angst einjagte
Hamada Ben Amor, alias El General, ist die Stimme der Revolution in
Tunesien. 60.000 Fans hat der schüchterne Pharmaziestudent auf Facebook.
Flüchtlinge aus Tunesien: Humanitärer Notstand in Italien
Tausende Flüchtlinge aus Tunesien treffen auf der Insel Lampedusa ein. Rom
will jetzt eigene Polizisten in Tunesien stationieren, um ungenehmigte
Ausreisen nach Italien zu verhindern.
Debatte Tunesien: Ein Hauch von Jasmin
Die Revolution in Tunesien steht erst noch an ihrem Anfang. Vom Westen
haben die Demokraten dort allerdings wenig Hilfe zu erwarten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.