# taz.de -- Hunderttausende bei Demos in Tunesien: Proteste gegen das Präsidia… | |
> Tunesien erlebt die größte Demonstration, die das Land je gesehen hat. | |
> Der Verfassungsrechtler Kayès Said plädierte für eine "Periode des | |
> Nichtrechts". | |
Bild: Weiter, immer weiter: Demonstranten in Tunis. | |
MADRID taz | Die Revolution in Tunesien ist nicht vorbei. Das machten am | |
Freitag landesweit hunderttausende Demonstranten deutlich. Sie forderten | |
einmal mehr den Rücktritt von Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi, der | |
seit 1999 unter Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali diente und seit dessen | |
Sturz am 14. Januar der Übergangsregierung vorsteht. Außerdem wollen sie | |
Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung. | |
Die größte Demo fand in der Hauptstadt Tunis statt. Im Zentrum und vor dem | |
Regierungssitz in der Kasbah, am oberen Ende der arabischen Altstadt, | |
versammelten sich mehr als 100.000 Menschen - so die Polizei - und 350.000 | |
- so die Organisatoren. | |
Bis kurz vor 18 Uhr blieb es völlig ruhig und friedlich auf der | |
Demonstration in Tunis. Die Menschen pflanzten libysche Fahnen auf die | |
Wasserwerfer der Armee, lichteten sich mit Soldaten ab, sangen die | |
Nationalhymne, bis plötzlich die Polizei völlig unerwartet Tränengas in | |
großen Mengen verschoss. Die gesammte Avenue Bourguiba und alle | |
Seitenstraßen versanken im Nebel. Es kam zu zahlreichen Verletzten. Wenig | |
später errichteten Demonstranten Barrikaden auf dem zentralgelegenen | |
Boulevard und steckte sie in Brand. Die Wasserwerfer rückten aus. "In der | |
Kasbah ist die Lage katastrophal", twittert Lina Ben Mhenni und fordert die | |
Polizei auf, "die Gewalt sofort einzustellen. | |
"In der Kasbah ist die Lage katastrophal" | |
Aufgerufen hatten Jugendliche per Facebook und Twitter sowie der Rat zum | |
Schutz der Revolution, dem 28 Oppositionsparteien, Anwalts- und | |
Richtervereine sowie Gruppen der Zivilgesellschaft angehören. Viele | |
Teilnehmer waren mit Bussen und Autos aus dem ganzen Land gekommen. Es ist | |
der größte Aufmarsch, den Tunesien je gesehen hat. | |
Am Nachmittag versammelten sich mehrere hundert Menschen im nahegelegenen | |
Karthago vor dem Präsidentenpalast. Dort amtiert der Übergangspräsident und | |
frühere Senatsvorsitzende Fouad Mebazaa sowie die Regierung Ghannouchi. | |
Diese hat ihren eigentlichen Amtssitz in der Kasbah verlassen, nachdem dort | |
seit Sonntag erneut tausende Demonstranten rund um die Uhr ein Sit-in | |
abhalten. Ein starkes Armeeaufgebot sperrte den Weg zum Palast. | |
Hubschrauber überflogen sowohl Tunis als auch Karthago. | |
"Wir trauen der Regierung nicht, wir wollen eine verfassungsgebende | |
Versammlung", sagte die bekannte Bloggerin und Aktivistin Lina Ben Mhenni | |
der taz. Zwar setzte Ghannouchi eine Kommission ein, welche die derzeitige | |
Verfassung und das Wahlgesetz reformieren soll. Doch den Demonstranten geht | |
dies nicht weit genug. Sie wollen nicht am Präsidialsystem festhalten, | |
sondern eine Versammlung wählen, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. | |
Die soll sich vor allem auf das Parlament stützen. | |
"Periode des Nichtrechts" gefordert | |
Der von der Regierung Ghannouchi angestrebte Übergang zur Demokratie ist | |
eigentlich gar nicht machbar. Denn die derzeitige Verfassung sieht vor, | |
dass im Falle des Rücktritts oder Todes des Staatsoberhaupts binnen 60 | |
Tagen ein neuer Präsident gewählt werden muss. Ben Ali floh vor 43 Tagen | |
nach Saudi-Arabien. Damit wird sich Tunesien in 17 Tagen außerhalb seiner | |
aktuellen Rechtsordnung befinden. | |
Der Juraprofessor und Verfassungsrechtler Kayès Said plädiert deshalb für | |
eine "Periode des Nichtrechts". Ähnlich wie in Spanien nach dem Tod von | |
Diktator Franco 1975, in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 oder in | |
Osteuropa nach 1989 könne nur so eine neue Rechtsordnung entstehen, | |
erklärte er am Mittwoch auf einer Studentenversammlung an der Uni in Tunis. | |
Die derzeitige Verfassung von 1959 sei nicht demokratisch reformierbar. | |
"Sie personifiziert die Macht" und habe dazu geführt, dass Tunesien seit | |
der Unabhängigkeit nur zwei Präsidenten hatte. | |
25 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Rainer Wandler | |
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