# taz.de -- EU und Nordafrika: Hauptsache Sicherheit | |
> Erst verschlossen die Europäer jahrzehntelang vor dem Unrecht in | |
> Nordafrika die Augen. Jetzt wollen sie in Nordafrika Unternehmer statt | |
> Diktatoren fördern. | |
Bild: Wenn's um Geld und Sicherheit geht, drücken die europäischen Staatschef… | |
BRÜSSEL taz | Eine Geberkonferenz auf Expertenebene hat am Mittwoch in | |
Brüssel über eine koordinierte Nordafrikapolitik angesichts der | |
Volksaufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen beraten. Die | |
EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission, die USA und Japan, die Weltbank | |
und die Europäische Investitionsbank wollen die Wirtschaften dieser Länder | |
ankurbeln. Es geht auch darum, die unzufriedene Jugend durch die Schaffung | |
von Arbeitsplätzen zu unterstützen. | |
Der Schwachpunkt der europäischen Nordafrikapolitik in den letzten Jahren | |
war, dass sie sich auf die Unterstützung von Regierungen beschränkte. Vor | |
Unterdrückung verschloss man die Augen. | |
Gespräche zwischen europäischen und libyschen Funktionären über ein | |
geplantes Rahmenabkommen zwischen EU und Libyen gab es noch am 16. Februar, | |
einen Tag nach Ausbruch der ersten Unruhen in Bengasi. Erst am Sonntag | |
äußerte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erstmals "große Sorge" | |
über die Tötung einer großen Anzahl libyscher Demonstranten und verurteilte | |
die Repression. | |
Die EU-Außenminister riefen am Montag alle Seiten zur Zurückhaltung auf und | |
trafen keine eigenen Beschlüsse. Die Verhandlungen über das Rahmenabkommen | |
wurden erst am Dienstag von Ashton verabschiedet. Ein Sprecher der | |
EU-Kommission nannte das Vorgehen Gaddafis schließlich "absolut | |
inakzeptabel". | |
Es liege nicht an Europa, Lösungen durchzusetzen, sagte Ashton zum | |
Abschluss des EU-Außenministertreffens und gab damit den Dissens innerhalb | |
Europas wieder: Während Polens Präsident Bronislaw Komorowski Europa einen | |
"Mangel an Vision" vorwarf, warnte Tschechiens Außenminister Karl | |
Schwarzenberg für den Fall eines Sturzes Gaddafis vor einer "Katastrophe". | |
Viele europäische Länder sorgen sich in erster Linie um die Sicherheit | |
ihrer eigenen Staatsbürger in Libyen. Besonders laut waren die Appelle zur | |
Zurückhaltung aus Italien. Aber auch Belgiens Außenminister Steve Vanackere | |
nannte Drohungen, die Zusammenarbeit zwischen EU und Libyen bei der | |
Flüchtlingsabwehr zu beenden, "lächerlich". | |
Erst vor zwei Jahren lieferte Belgien Sturmgewehre, Pistolen, Granaten und | |
Maschinengewehre an Libyen. Ein Regimegegner in Bengasi hat auf einem Video | |
ein belgisches Gewehr der Marke FN 303 vorgeführt, das den | |
Sicherheitskräften Gaddafis abgenommen worden sein soll. | |
Wieder einmal scheint die EU große Schwierigkeiten damit zu haben, Lehren | |
aus der Vergangenheit zu ziehen. In Tunesien und in Ägypten agierte die EU | |
trotz ihrer intensiven Zusammenarbeit mit den Mittelmeerländern schon nicht | |
vorausschauend. Die im Sommer 2008 ins Leben gerufene "Mittelmeerunion", | |
kopräsidiert von Nicolas Sarkozy und Husni Mubarak, ist faktisch tot; ihr | |
jordanischer Generalsekretär Ahmed Masadeh gab am 26. Januar seinen | |
Rücktritt bekannt und wurde nicht ersetzt. | |
Der EU-Botschafter in Tunis, der Niederländer Adrianus Koetsenruijter, | |
weigerte sich, oppositionelle Gruppen zu treffen, kritisiert die | |
französische grüne Europaabgeordnete Hélène Flautre und fordert die | |
Auswechslung des Diplomaten. "Die EU wird erst dann aktiv, im Sinne von | |
Kontensperrungen oder Visaverboten, wenn die Diktatoren bereits im Flugzeug | |
sitzen", kommentiert ein Mitarbeiter des Europaparlaments. | |
Die konkreteste Reaktion kam bislang von der Europäischen Investitionsbank | |
(EIB). Am Dienstag kündigte sie einen Kreditrahmen von 6 Milliarden Dollar | |
über zwei Jahre für Investitionen in Nordafrika an. Am 2. und 3. März will | |
der für die Mittelmeerländer zuständige EIB-Vizepräsident Philippe de | |
Fontainevive in Tunis mit der tunesischen Regierung Details besprechen. | |
Priorität haben Kredite für kleine und mittelständische Unternehmen sowie | |
Kredite an Kommunen, um öffentliche Bauprojekte zu finanzieren. | |
EIB-Präsident Philippe Maystadt wies aber darauf hin, dass zur Aktivierung | |
dieser Gelder noch einige EU-Beschlüsse erforderlich seien. So müssen der | |
Ministerrat und das EU-Parlament rund 700 Millionen Euro aus einem | |
Klimaschutzfonds freigeben, und der EU-Rat muss einen Parlamentsbeschluss | |
billigen, die Obergrenze möglicher Kreditgarantien für die südlichen | |
Mittelmeeranrainerstaaten um 1 Milliarde Euro anzuheben. "Sobald wir grünes | |
Licht haben, können wir die bereits identifizierten Projekte anschieben", | |
sagt de Fontainevive. | |
23 Feb 2011 | |
## TAGS | |
George W. Bush | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Feminismus in Tunesien: Die Frauen der Revolution | |
Sie gelten als stark, modern und selbstbewusst - tunesische Frauen haben | |
die Macht des Autokraten aller Autokraten aktiv bekämpft. Nun lassen sie | |
sich nichts mehr wegnehmen. | |
Neue Regierung in Tunesien: Die Revolution frisst ihren Opa | |
Der neue tunesische Premier Caïd Essebsi ist 84, sein bisheriger | |
Karrierehöhepunkt war die Bewältigung eines Putschversuches im Jahr 1962. | |
Kommentar Frankreich: Wenn Diplomaten laut werden | |
Sarkozy hat aus wirtschaftlichen Interessen viel zu lange zur arabischen | |
Revolution geschwiegen. Jetzt opfert er seine Außenministerin – um sich | |
selbst zu retten. | |
Französische Außenministerin verliert Job: Madame Alliot-Marie dankt ab | |
Frankreichs umstrittene Außenministerin Michèle Alliot-Marie wird wegen der | |
Tunesien-Affäre ausgetauscht. Staatschef Sarkozy versucht damit sein | |
Ansehen zu retten. | |
Hunderttausende bei Demos in Tunesien: Proteste gegen das Präsidialsystem | |
Tunesien erlebt die größte Demonstration, die das Land je gesehen hat. Der | |
Verfassungsrechtler Kayès Said plädierte für eine "Periode des | |
Nichtrechts". | |
Heftige Kritik an Frankreichs Politik: Diplomaten rügen Sarkozys Diplomatie | |
Amtierende und ehemalige französische Botschafter fällen ein vernichtendes | |
Urteil über die Politik Nicolas Sarkozys. Sie sei "amateurhaft" und | |
"impulsiv". | |
Gaddafi hält Rede im Staatsfernsehen: "Die stehen unter Drogen" | |
Muammar al-Gaddafi hält eine Rede und schimpft auf die Aufständischen. Er | |
bezichtigt Al Kaida, hinter den Protesten zu stecken. Regierungsbeamte | |
drohen ausländischen Journalisten. | |
Kommentar Arabische Revolution: Das Morgenland wacht auf | |
Der Westen steht ratlos vor dem Umbruch in der arabischen Welt. Er muss | |
seine außenpolitischen Interessen und Werte besser in Einklang miteinander | |
bringen. | |
Kommentar Aufstand in Arabien: Die vielen Gründe des Zorns | |
Kein arabischer Potentat hätte sich die aktuellen Proteste vor zwei Monaten | |
träumen lassen. Ihre Länder weisen alle Konflikte auf, die | |
Revolutionspotential besitzen. | |
Kommentar Revolution in Ägypten: Wo Bush recht hatte | |
Muss das Urteil über den Ex-US-Präsidenten George W. Bush revidiert werden? | |
Die arabische Revolte bestätigt die Programmatik der Neokonservativen. | |
Revolutionen in Arabien: Leben wie die Türken | |
Vielen im Nahen Osten gilt die türkische AKP mit ihrem Anspruch, Islam und | |
Demokratie zu verbinden, als Vorbild - erst recht seit dem Bruch mit | |
Israel. |