# taz.de -- Kommentar Arabische Revolution: Das Morgenland wacht auf | |
> Der Westen steht ratlos vor dem Umbruch in der arabischen Welt. Er muss | |
> seine außenpolitischen Interessen und Werte besser in Einklang | |
> miteinander bringen. | |
Die außenpolitischen Reaktionen des Westens auf den politischen Umbruch in | |
Ägypten waren deprimierend. Von den westlichen Politikern der ersten Reihe | |
traute sich niemand, Mubarak offen zum Rücktritt aufzufordern und die | |
Demokratiebewegung zu unterstützen: das blieb allein dem türkischen Premier | |
Erdogan vorbehalten. Auch das D-Wort wurde tunlichst vermieden und durch | |
den vagen Begriff der "Reform" und des "geordneten Übergangs" ersetzt, der | |
sich das Mubarak-Regime stellen müsse. Ein klares Bekenntnis zur | |
Demokratiebewegung hätte anders ausgesehen. | |
Die Ratlosigkeit über die westliche Außenpolitik bleibt. Wie kann es sein, | |
dass die westlichen Industriestaaten über Jahrzehnte einerseits Demokratie | |
predigen und andererseits mit ihren Militär- und Wirtschaftshilfen zugleich | |
das Überleben von Regimes wie in Tunesien, Ägypten oder andernorts sichern? | |
Wieso führt man in Ländern wie dem Irak oder Afghanistan einen Krieg, | |
während man sich dann höflich zurückhält, wenn es darum geht, einem Regime | |
wie dem eines Mubarak den letzten Stoß zu versetzen? | |
Demokratieexport mit Waffen | |
Gegenwärtig konkurrieren in der westlichen Außenpolitik zumindest drei | |
Schulen miteinander. "Realisten" stellen das nationale Interesse in den | |
Vordergrund. "Neokonservative", in deren Sinne George W. Bush agierte, | |
suchen nationale Interessen notfalls auch mit militärischen Mitteln durch | |
einen Demokratieexport zu erreichen. Ihre Mittel mögen aus humanitärer | |
Sicht oft kritikwürdig sein, ihre Überzeugungen allerdings basieren | |
zumindest teilweise auf einem positiven Menschenbild: alle Menschen sind | |
zur Demokratie fähig! | |
Letzteres haben sie mit jenen liberalen Anhängern eines humanitären | |
Interventionismus gemein, die nicht zuletzt bei den deutschen Grünen und in | |
anderen Parteien zu finden sind. Sie sehen die Notwendigkeit einer | |
grenzüberschreitenden Intervention für die Werte von Menschenrechten und | |
Demokratie in bestimmten Fällen als gerechtfertigt an und verurteilen den | |
eiskalten Realismus einer rein nationalstaatlichen Interessenpolitik. | |
An den USA lässt sich am deutlichsten ablesen, wie der Westen in den | |
letzten Jahrzehnten zwischen "realistischer" und "neokonservativer" | |
Außenpolitik hin- und herpendelte. Während US-Präsidenten wie Bill Clinton | |
sich mit fast jedem Diktator arrangierten, leitete sein Nachfolger George | |
W. Bush einen Paradigmenwechsel ein, als er den Diktator Saddam Hussein | |
stürzte. Es darf allerdings angenommen werden, dass dabei eigentlich sehr | |
"realistische" US-Interessen an irakischem Öl und der Eindämmung Chinas im | |
Hintergrund standen. | |
Von Roosevelt bis Obama | |
So gesehen, knüpft US-Präsident Obama mit seiner zögerlichen Distanzierung | |
von Mubarak nur an eine lange Tradition amerikanischer Interessenpolitik | |
an, die sich schon im 19. Jahrhundert weigerte, den europäischen | |
Revolutionären zur Hilfe zu kommen. Der Einsatz der USA im Zweiten | |
Weltkrieg war eher die Ausnahme von der Regel, Roosevelt sei Dank. Seitdem | |
ist die Kluft zwischen wertorientierter Rhetorik und interessenorientiertem | |
Handeln in der westlichen Außenpolitik frustrierend groß. | |
Eine Ausnahme bildete nur die Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts, | |
bei der zumindest versucht wurde, Werte und Interessen in Einklang zu | |
bringen. Aber ist die Flucht in die Nostalgie die einzig denkbare | |
Alternative? | |
Vieles spricht dafür, dass wir in Nordafrika und Nahost erst am Anfang | |
einer neuen "Welle der Demokratisierung" stehen. Um beim nächsten Aufstand | |
bessere Antworten parat zu haben, müssen wir nach konzeptionellen Antworten | |
auf diese Situation suchen. Mehrere Eckpunkte gilt es dabei zu beachten. | |
Erstens, die Werte: der diplomatische Umgang mit Diktaturen lässt sich im | |
Interesse des Weltfriedens kaum vermeiden, auch nicht die begrenzte | |
Kooperation mit solchen Regimes. Nötig ist zugleich aber eine kritische | |
Distanz, die sich in praktischer Politik niederschlägt. Hier hat die EU | |
etwa die Demokratieförderung in Nordafrika über Jahrzehnte lang völlig | |
vernachlässigt. Es wäre gefährlich und würde die Welt in Chaos stürzen, | |
würden wir keine anderen politischen Systeme als die Demokratie gelten | |
lassen. Diktaturen dürfen aber auch nicht erst durch den Westen | |
überlebensfähig werden. | |
Sicherheit und soziale Frage | |
Zweitens, die Sicherheit: Es ist ein Irrglaube, dass Diktaturen für | |
Stabilität sorgen. Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien sind der breeding | |
ground des islamistischen Terrorismus. Diktaturen sind in aller Regel | |
unfähig, die sozialen Probleme zu lösen, die viele Nicht-Industriestaaten | |
zu politischen Pulverfässern machen und die an der Wurzel des | |
Flüchtlingsproblems liegen. Zwar haben auch Demokratien oft Schwierigkeiten | |
mit der sozialen Frage, sie führen jedoch untereinander kaum Kriege. | |
Drittens, die Wirtschaftsinteressen: Unsere wirtschaftspolitischen | |
Interessen müssen sich diesem politischen Primat beugen. Auch arabische | |
Demokratien wollen Erdöl verkaufen, den Preis regelt der Weltmarkt. Keine | |
Angst also vor dem Freiheitsbedürfnis anderer! Allerdings müssen unsere | |
wirtschaftliche Beziehungen partnerschaftlich ausgerichtet sein, was sie | |
heute häufig nicht sind. | |
Während etwa Europa seine Produkte überall im Nahen Osten verkauft, | |
bestehen gerade für Agrarimporte aus arabischen Ländern in die EU zum Teil | |
noch Beschränkungen. Auch die deutsche Entwicklungspolitik, die staatliche | |
wie die der politischen Stiftungen, gehört überprüft, die | |
Demokratieförderung muss auch hier aufgewertet werden. | |
Viertens, die Kultur: Es gilt einzugestehen, dass die Demokratie das beste | |
politische System für komplexe moderne Gesellschaften darstellt. Die von | |
Samuel Huntington in seinem Theorem von "Kampf der Kulturen" aufgestellte | |
These und im Westen weit verbreitete Ansicht, außereuropäische Kulturen - | |
insbesondere in der islamischen Welt - seien demokratieresistent, ist | |
Unsinn. | |
Die Türkei und Indonesien sind die größten Gegenbeispiele dafür, und | |
Umfragen und Studien aus arabischen Ländern belegen das seit langem. Doch | |
die westliche Angst vor "dem" Islam sitzt so tief, dass sie die westliche | |
Außenpolitik oft davon abhält, das Richtige zu tun. | |
20 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Kai Hafez | |
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