# taz.de -- Deutsches Atomgesetz und Grundrechte: Restrisiko neu bestimmen | |
> Das Atomgesetz verlangt Vorsorge gegen alle Risiken, die nicht praktisch | |
> ausgeschlossen sind. Nach dem Unfall in Japan sind auch die Maßstäbe in | |
> Deutschland zu überprüfen. | |
Bild: Hier werden bald die Lichter ausgehen: AKW Biblis. | |
FREIBURG taz | Das Atomgesetz ist streng. Schon seit seinem Inkrafttreten | |
im Jahr 1960 sagt es: Ein Atomkraftwerk darf nur genehmigt werden, wenn der | |
Betreiber "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche | |
Vorsorge gegen Schäden" getroffen hat. | |
In seinem Kalkar-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht 1978 erklärt, wie | |
diese Vorschrift im Lichte der Grundrechte auszulegen ist. Es gilt der | |
Grundsatz der "bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge". Allerdings | |
müssen nur Schäden verhindert werden, die nach den "Maßstäben der | |
praktischen Vernunft" überhaupt eintreten können. Das darüber hinausgehende | |
"Restrisiko" sei "unentrinnbar" und als "sozialadäqaute" Last von den | |
Bürgern zu tragen. | |
Seitdem muss die Atomaufsicht der Länder also festlegen, welches Risiko | |
unbedingt zu vermeiden ist und welches "Restrisiko" von der Gesellschaft | |
noch zu akzeptieren ist. Der Bund kann dabei den Ländern Weisungen geben. | |
Das letzte Wort haben aber die Gerichte, denn AKW-Anwohner können gegen | |
eine aus ihrer Sicht unzulängliche Risikovorsorge klagen. Wenn ein | |
Betreiber seine Vorsorgepflichten verletzt, kann ein AKW stillgelegt | |
werden, bis es wieder den Anforderungen entspricht. Im Extremfall kann auch | |
die Betriebsgenehmigung dauerhaft widerrufen werden. | |
Dabei müssen auch neu auftauchende Risiken wie die seit 2001 verstärkte | |
Terrorgefahr berücksichtigt werden. In einem Urteil von 2008 hat das | |
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden, dass sich die | |
Risikovorsorge auch auf den Beschuss eines AKW mit panzerbrechenden Waffen | |
und das gezielte Abstürzen eines Flugzeugs einstellen muss. Daraus | |
entstehende Gefahren müssten durch ein einklagbares Sicherheitskonzept | |
"praktisch ausgeschlossen" werden. | |
## Vorsorgemaßnahmen | |
Den AKW-Betreibern schmeckte dieses Urteil überhaupt nicht. Sie freuten | |
sich daher, als die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit 2010 parallel zur | |
Laufzeitverlängerung das Atomgesetz änderte. Zwischen einklagbarer | |
Risikovorsorge und hinzunehmendem Restrisiko hat der Gesetzgeber nun eine | |
neue Kategorie der "weiteren Vorsorge" eingeführt (Paragraf 7d). | |
Hier werden die Betreiber zu Vorsorgemaßnahmen verpflichtet, die nicht | |
einklagbar sind. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) verkaufte das als | |
Erhöhung des Schutzes, doch in der Begründung steht, worum es eigentlich | |
geht: Falls überhaupt zusätzliche Maßnahmen gegen Terrorangriffe nötig sein | |
sollten, sollen sie jedenfalls nicht gerichtlich einklagbar sein. Damit | |
wäre das Leipziger Urteil ausgehebelt. | |
Ob diese faktische Absenkung des Schutzniveaus mit dem Grundgesetz noch | |
vereinbar ist, muss jetzt das Bundesverfassungsgericht entscheiden. SPD und | |
Grüne haben dies in ihrer jüngst eingereichten Normenkontrollklage gegen | |
die Laufzeitverlängerung gerügt. Es ist der zweite große Kritikpunkt neben | |
der Umgehung des Bundesrats. | |
Nach den Vorkommenissen in Japan wird aber auch die Konzeption der AKWs, | |
insbesondere der Altanlagen, noch einmal ganz grundsätzlich geprüft. "Wir | |
müssen Sicherheit neu definieren", sagte Umweltminister Röttgen, "denn wir | |
haben gesehen, dass sich Restrisiko realisiert hat". Vermutlich führt diese | |
Erfahrung dazu, dass die Maßstäbe der "praktischen Vernunft" auch in | |
Deutschland stark verschärft werden. Dabei dürfte es aber in Deutschland | |
wohl weniger um Erdbeben und Tsunamis gehen, sondern vor allem um die - | |
bisher als extrem unwahrscheinlich geltende - Verkettung von Einzelpannen, | |
die zur Zerstörung aller Sicherheitssysteme führen kann. | |
15 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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