Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leben in Japan: drei Protokolle: "Sogar das Klopapier wird knapp"
> Zahlreiche Ausländer verlassen Tokio, mit schlechtem Gewissen. Die
> Einheimischen bleiben trotz Strahlenangst aus Verantwortung für Familie
> und Freunde.
Bild: Ein erschöpfter Reisender auf Tokios Narita Airport.
"Wenn hier alle einfach abhauen würden, gäbe das ein Riesenchaos."
"Ich arbeite für eine Firma in der Innenstadt von Tokio, die Häuser
kurzzeitig an Japaner und Ausländer vermietet. Die Deutschen sind alle
schon abgereist. Ich allerdings will bleiben. Wie viele Japaner habe auch
ich Angst. Trotzdem gehe ich weiterhin zur Arbeit und bemühe mich, weiter
zu machen. Wo soll ich auch hin? Meine Familie wohnt hier und ich mache mir
Sorgen, dass ich meine Arbeitsstelle verlieren könnte, wenn ich einfach so
abhaue. Meine Kollegen sind ja auch noch alle da. Und auch der Rest der
Tokioter versucht das normale Leben fortzusetzen.
Die Strahlung macht mir schon Sorgen. Aber Tokio ist nicht direkt
betroffen. Viel schlimmer ist, dass die Lebensmittel knapp werden, sogar
das Toilettenpapier. Dazu kommen die Stromausfälle.
Die ausländischen Medien bauschen die Sache sehr auf. Ich versuche mich
deshalb mit Hilfe verschiedener Quellen zu informieren. Ich twittere, oder
surfe im Internet. Ich vergleiche ausländische und inländische Medien, um
mir ein genaueres Bild machen zu können. Auf Mixi (dem japanischen
Äquivalent zu Facebook, Anm. d. Redaktion) lese ich, was die anderen Leute
denken und bei Facebook sehe ich nach, wie es meinen Freunden geht.
Viele meiner Freunde im Ausland machen sich große Sorgen und haben mir
angeboten, dass ich zu ihnen kommen kann. Aber das geht nicht so einfach!"
Die Skypeverbindung bricht ab.
"Oh, schon wieder ein Erdbeben. Im Fernsehen hört man den Alarm. Aber keine
Sorge, nur ein kleines Beben. Vor den Beben habe ich mehr Angst als vor der
Strahlung.
Wenn hier alle einfach abhauen würden, gäbe das ein Riesenchaos. Tokio ist
sehr wichtig für Japan. Und auch die Ausländer, die das Land verlassen
wollen oder ihre Visa ändern möchten, benötigen offene Ämter. Es wäre
verantwortungslos einfach zu gehen.
Manchmal hat man das Gefühl die Leute, vor allem die Ausländer, verhielten
sich, als ob ein Krieg ausgebrochen sei. Aber für uns Japaner muss es
weitergehen. Wir können doch nicht einfach alle aufgeben.
Diese Katastrophe ist das Schlimmste, was Japan seit dem Zweiten Weltkrieg
passiert ist, aber ob sich jetzt etwas verändert, wird sich erst zeigen.
Bestimmt werden die Sicherheits- und Schutzmaßnahmen bezüglich der Tsunami-
und Erdbebengefahr erhöht. Aber ob Fukushima dazu führt, dass hier eine
starke Anti-AKW-Bewegung entsteht, kann ich nicht sagen. Japan braucht
Energie und Rohstoffe sind knapp. Viele Alternativen haben wir nicht."
Die Autorin (26) möchte anonym bleiben. Sie wohnt mit ihren Eltern in
Yokohama. Seit einem Jahr arbeitet sie für eine Firma, die Häuser an
Japaner und Ausländer vermietet, in der Innenstadt von Tokio.
+++++++++++++
"Freunde meines Vaters sind nach Fukushima gegangen. Sie riskieren ihr
Leben für Japan."
"Meine Freundin aus Deutschland hat mir angeboten, eine Weile zu ihr nach
Berlin zu kommen. Aber nach Deutschland zu gehen ist schwierig. Wenn es
nötig ist, kann ich jederzeit zu Freunden nach Hiroshima fahren. Es besteht
also kein Grund zur Sorge!
In den Nachrichten wird andauernd über die Probleme im Atomkraftwerk
Fukoshima berichtet. Selbst in Tokio entsteht langsam Panik. Täglich
überprüfe ich in den Nachrichten die Strahlungswerte von Tokio und bleibe
im Haus.
Freunde meines Vaters und Bekannte sind bei den Tokioter Stromwerken
angestellt und jetzt nach Fukushima gegangen. Sie riskieren ihr Leben für
Japan und bemühen sich sehr, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.
Auch meine Verwandten sind bei den Tokioter Stromwerken angestellt. Durch
diese Zeit müssen wir jetzt alle durch. Ich versuche stark zu bleiben.
Das japanische Volk ist sehr dankbar für die Unterstützung aus dem Ausland.
Auch die Menschen in Tokio sind zu Tränen gerührt vor Dankbarkeit. Ich
fühle mich daher ein wenig sicherer und nicht alleine gelassen."
Die Autorin (24) möchte anonym bleiben. Sie ist lebt in Tokio und arbeitet
dort für eine deutsche Firma.
+++++++++++++
"Nun habe ich das Gefühl, ich hätte meine japanische Gastmutter im Stich
gelassen."
"Als das erste Beben einsetzte, kam ich gerade von der Uni nachhause. Ich
wollte meine Schuhe ausziehen, als plötzlich der Bilderrahmen zu wackeln
anfing. Die Wohnung meiner Gastmutter liegt im 5. Stock und es hat ziemlich
geschwankt. Trotzdem habe ich mich sicher gefühlt, weil ich wusste, dass
die Häuser erdbebenfest gebaut sind.
Am Anfang habe ich mir noch gar nicht viel dabei gedacht. Nagoya ist ja
ziemlich verschont geblieben. Das Ausmaß der Katastrophe wurde mir erst
nach und nach bewusst. Erst als ich den Fernseher einschaltete, und die
Bilder sah – vom Beben in Tokio und später von der Flutwelle – habe ich
begriffen, wie schlimm es ist. Ich glaube, ich habe mindestens zehn Mal den
Fernseher abfotografiert, weil ich gar nicht glauben konnte, was da
passiert. Eine Flutwelle von zehn Metern Höhe, das kann man sich einfach
nicht vorstellen.
Meine Freunde und meine Familie haben gleich gesagt: Komm nach Hause! Aber
ich wollte meine Gastmutter nicht alleine lassen. Außerdem hatte ich am
Montag noch Prüfungen in der Uni. Es lief alles ganz normal weiter. Erst
als es dann auch noch Probleme mit dem Atomkraftwerk in Fukoshima gab und
mein Freund und meine Familie immer mehr darauf gedrängt haben, dass ich
zurück nach Deutschland kommen soll, habe ich eingewilligt. Nun habe ich
das Gefühl, ich hätte meine japanische Gastmutter im Stich gelassen.
Nur die Ausländer reisen ab. Die Japaner sind viel zu stark mit ihrem Land
verbunden, um zu gehen. Die Gesellschaft hat höchste Priorität und steht
vor den Bedürfnissen des Individuums. Deshalb ist es auch keine Frage für
die Menschen, in den Katastrophengebieten zu helfen, wo sie können. Die
Japaner sind Stehaufmännchen. Wenn etwas kaputt ist, dann gehen sie am
nächsten Tag hin und bauen es wieder auf. Auch, dass sie trotzdem in die
Arbeit gehen, steht außer Frage. Denn sie wissen, dass sie gebraucht
werden.
Bis zu meiner Abreise ging es in den Nachrichten zu 90 Prozent um die
Bergung der Tsunami-Opfer. Das betrifft die Menschen in Japan viel
unmittelbarer als die Reaktorgefahr. Japan muss aufpassen, dass keine
Massenpanik entsteht. Außerdem ist das Vertrauen in den Staat sehr groß.
Erst als ich meiner Gastmutter erzählt habe, was die deutschen und
englischen Medien berichten, begann sie daran zu zweifeln, ob die
japanischen Medien alle Informationen preisgeben.
Für Montag habe ich ein Ticket zurück nach Japan. Wenn sie die Probleme in
Fukushima in den Griff bekommen, kehre ich zurück. Ich stecke dort noch
mitten in meiner Forschung."
Maria Ibiss (23) studiert Japanstudien an der FU Berlin. Seit August 2010
lebte sie als Austauschstudentin in Nagoya in der Präfektur Aichi, rund 300
Kilometer westlich von Tokio. Seit Mittwoch ist sie wieder zurück in
Deutschland.
19 Mar 2011
## AUTOREN
Marlene Halser
Felix Milkereit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Das Technische Hilfswerk in Japan: Als Geschenk ein Kartenspiel
Georgia Pfleiderer war mit dem Technischen Hilfswerk im Katastrophengebiet.
Sie sagt: "Es war wichtig, dass die Japaner die internationale Solidarität
gespürt haben"
Anlaufende Debatte um Atomkraft in Japan: Lobby unter Druck
In Japan war ursprünglich der Bau einer Reihe von neuen Atomkraftwerken
geplant - nach der Katastrophe von Fukushima werden die Vorhaben nun
überdacht.
Alltag in Japan: Die fast erschreckende Normalität
Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, wie sich die Katastrophe auf den
Alltag der Menschen auswirkt: Der Rhythmus in Tokio hat sich verlangsamt.
Verstrahlte Nahrung in Japan: Trinkwasser, Spinat und Milch
Lebensmittel aus der Katastrophenregion sind radioaktiv belastet, und auch
der Boden ist kontaminiert. Die Höhe der Strahlungswerte ist jedoch sehr
unterschiedlich.
Krisenbewältigung in Japan: "Wir sind doch Samurai"
Die japanischen Behörden sind mit der Bewältigung der Dreifachkatastrophe
überfordert. Nun helfen zahlreiche Privatinitiativen.
+++ Liveticker Japan 20. März +++: Tag der Entscheidung
Techniker arbeiten weiter unter Hochdruck daran, die Kühlanlagen der
Unglücksreaktoren in Fukushima wieder in Gang zu bringen. Es bleibt unklar,
ob ihnen das gelingen wird.
Nachtzusammenfassung Katastrophe in Japan: Zwischen Hoffen und Bangen
Die Lage am Unglücks-Atomkraftwerk Fukushima I bleibt dramatisch.
Technikern ist es zwar gelungen, ein Stromkabel zu verlegen. Doch
wahrscheinlich sind die Kühlanlagen defekt.
+++ Liveticker Japan vom 19. März +++: Lage am AKW stabilisiert sich offenbar
Im beschädigten Atomkomlex wird ununterbrochen daran gearbeitet, die
Reaktoren vor der Kernschmelze zu bewahren. Im Reaktorbecken von Block 3
jetzt angeblich mehr Wasser.
Brief einer japanischen Autorin: Ich entscheide mich zu leben
Massenweise besorgte E-Mails und Anrufe, ständiges Grübeln bis zum
Schlechtwerden, aber endlich Vollmond. Akira Kuroda über ihre Gründe, in
Tokio zu bleiben.
Flucht aus Tokio: "Mir kommen die Tränen"
Wer von einem Krisenort berichtet, hat meistens einen Rückweg offen. Aber
diesmal gibt es Freunde, Familie - hier wie dort. Unser Reporter über seine
Abreise aus Japan.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.