Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Flucht aus Tokio: "Mir kommen die Tränen"
> Wer von einem Krisenort berichtet, hat meistens einen Rückweg offen. Aber
> diesmal gibt es Freunde, Familie - hier wie dort. Unser Reporter über
> seine Abreise aus Japan.
Bild: Sie lassen Japan und die Katastrophe hinter sich: Der Tokioter Flughafen …
Um sechs Uhr früh - Tokio liegt still und ruhig in der Morgendämmerung, nur
die Müllabfuhr ist schon unterwegs - nehme ich ein Taxi aus der Stadtmitte
zum Flughafen. Der Fahrer will reden, seine Sorgen und Ängste loswerden.
Aber ich kann nicht.
Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht und noch einmal versucht, mit all
denen zu telefonieren, die mir ans Herz gewachsen sind und die ich jetzt
verlasse. An ihre Ausweglosigkeit im Angesicht der drohenden
Atomkatastrophe muss ich jetzt im Taxi denken. Tokio ist die größte Stadt
der Welt. Sie lässt sich nicht einfach evakuieren. Mir kommen die Tränen.
Die Situation ist für mich nicht ganz neu. Wer als Auslandskorrespondent
aus einem Krisengebiet berichtet, hat meistens einen Rückweg offen - im
Gegensatz zu denjenigen, über die er gerade schreibt. Das war im März 2008
beim Aufstand der Tibeter in Lhasa so: Ich duckte mich mit den tibetischen
Jugendlichen vor den Panzern der Volksarmee, versteckte mich mit ihnen in
kleinen Teestuben, wir wurden Freunde.
Aber als dann die Häscher der Chinesen kamen und an jede tibetische Tür
klopften, um die Verdächtigen in ihre grausamen Verhörkammern mitzunehmen,
war ich schon wieder weg, in Sicherheit im fernen Peking. Von meinen
Freunden in Lhasa, mit einer Ausnahme, hörte ich nie wieder.
## Einsatz in Tokaimura
Das ist diesmal anders. Tokio ist für mich kein beliebiger Krisenort. Hier
habe ich lange Jahre gelebt, hier habe ich Familie und enge Freunde. Kann
ich sie alle so einfach hinter mir lassen?
Mit Manami Suzuki befand ich mich vor ein paar Jahren in einem nächtlichen
Sondereinsatz in Tokaimura, der Atomanlage 150 Kilometer nördlich von Tokio
auf dem Weg nach Fukushima, die bisher - aber wie lange noch? - keine
Schlagzeilen macht. Wir fuhren damals mit einem Mietauto zu der atomaren
Wiederaufbereitungsanlage, die gerade einen Unfall hatte, bei dem
Radioaktivität freigeworden war. Niemand wusste, wie gefährlich die Lage
war.
Manami war unglaublich mutig. Sie wollte herausfinden, wie schwer der
Unfall war. Ob Menschen schon akut an Strahlen erkrankt waren. Manami
gehörte in den 80er Jahren zu den Leuten, die Greenpeace in Japan
aufbauten. Noch heute ist sie regelmäßig als Campaigerin für den
atomkritischen Tokioter Thinktank CNIC (Citizens Nuclear Information
Center) im Land unterwegs. Ich würde sagen, es gibt in Japan kaum eine
AKW-Gegnerin, die so überzeugend und gut reden kann wie Manami. Deshalb
wird sie vom CNIC immer wieder vorgeschickt - und deshalb ist es so
herzzerschmetternd, mit ihr vor meiner Abreise zu sprechen.
Denn sie redet plötzlich nicht mehr mit mir, obwohl sie mich in den
vorherigen Tagen immer auf dem Laufenden hielt, mir jede Nuance der
öffentlichen Debatte erklärte. Sie nahm sich Zeit für mich, mitten der
Krise. Aber jetzt bricht ihre Stimme ab und kurz darauf legt sie auf. Ich
könnte schreien.
Zumal es Manami auch persönlich erwischt hat. Ihr Elternhaus steht 40
Kilometer südlich von Fukushima am Rande des Gebietes, das die Regierung
inzwischen evakuieren lässt. Die AKWs in Fukushima waren einmal Manamis
Grund, gegen die Atomkraft aufzubegehren. Und jetzt sind sie der Grund,
warum Manami drei Tage lang keinen Kontakt zu ihren alten Eltern hat. "Sie
haben kein Handy und kein Internet. Es gibt bei ihnen keinen Strom mehr.
Vielleicht wissen sie überhaupt nicht, was los ist", sorgt sie sich zu
Wochenbeginn.
Dann funktioniert am Dienstag zumindest die telefonische Festnetzverbindung
wieder. Manami spricht mit ihren Eltern. Aber beruhigt ist sie nicht. Ihre
Eltern, einfache Fischverkäufer, sind sorglos, können die Gefahr nicht
einschätzen. Eigentlich dürfte ich jetzt nicht zum Flughafen fahren,
sondern müsste mit Manami wieder ein Auto mieten, nordwärts fahren, um ihre
Eltern da rauszuholen.
Auch Yurika Ayukawa hört sich am Telefon in der Nacht furchtbar an. Sie
sagt gleich, sie sei krank. Aber ich glaube, sie hat zuvor nur viel
geweint. Dabei ist Yurika noch so eine Powerfrau. Sie war in Harvard. Sie
leitete jahrlang die Klimakampagne des World Wide Fund (WWF) in Japan. Ihr
älterer Sohn erzog meine Kinder - als Erzieher in einer bekannten
alternativen Kindertagesstätte in Tokio. Doch Yurika redet in dieser Nacht
nur über ihren jüngeren Sohn, der jetzt mit seiner Frau und einem sieben
Monate alten Baby in Tokio lebt. Sie hat während des ganzen Tages versucht,
die junge Familie zur Flucht zu bewegen.
Sie erklärte ihrem Sohn, der nichts von Atomkraft versteht, die denkbaren
Gefahren. Er überlegte eine Weile und gab seiner Mutter dann recht. Er fing
an zu packen. Sie wollten zu viert in die Gegend von Nagoya fahren, wo sie
sonst Ferien machen, auf halbem Weg zwischen Tokio und Osaka. Doch dann kam
die Schwiegertochter nach Hause und wollte nicht weg. Sie sagte, es sei zu
mühsam, mit einem sieben Monate alten Kind zu verreisen. Der kleine Koffer
genügte ihr nicht. Schließlich sagte die Familie die Reise bei Yurika ab.
Nun ist sie verzweifelt. Aber was kann ich ihr raten?
"Fahr morgen zu ihnen hin, rede mit deiner Schwiegertochter, aber nur, wenn
du dich etwas beruhigt hast", sage ich. Yurika dankt mir am Ende unseres
Gespächs. Wenn ich daran jetzt denke, während der langen Taxifahrt zum
Flughafen Narita 60 Kilometer nordöstlich von Tokio, sticht mir das Herz.
Manchmal haben Ausländer in Japan gute Ideen, können Ratschläge geben, auf
die die Japaner selbst nicht so schnell kommen. Deshalb ist es so wichtig,
dass amerikanische Experten beim Krisenmanagement in Fukushima mitarbeiten.
Vielleicht fällt ihnen doch noch mehr ein, als mit Hubschraubern Wasser
über kaputte Reaktoren zu schütten. "Die Amerikaner müssen doch auf den
Atomkrieg vorbereitet sein. Wenn irgendjemand, dann müssten sie doch jetzt
helfen können", machte sich eine andere Tokioter Freundin von mir in den
letzten Tagen Hoffnung. Aber liegt hier nicht gerade der Grund, weshalb
auch ich in Tokio bleiben müsste? Brauchen meine japanischen Bekannten
nicht gerade jetzt ihren ausländischen Freund in der Nähe?
## Gute alte Telefonzelle
Als ich noch vor acht Uhr am Flughafen in Narita ankomme, merke ich, dass
ich nicht alleine unterwegs war. Der Flughafen ist schon zur frühen Stunde
proppenvoll. Scheinbar endlose Menschenschlangen bilden sich vor den
Abfertigungsschaltern. Doch hier gilt, was man bei der Notversorgung der
Erdbebenopfer in Nordjapan beobachtet: Die Schlangen funktionieren. Die
Menschen ordnen sich ein, sind geduldig. Aber wie lange kann das noch so
gehen? Was ist, wenn Fukushima richtig brennt?
Es schwelt ja wohl schon. Die alten Brennstäbe in den Abklingbecken liegen
vermutlich frei, ohne Wasserdecke, erhitzen sich. Das sind meine inneren
Rechtfertigungsgedanken, mit denen ich mich in die Schlangen einreihe.
"Time to go!", hatte mir am Morgen des vorangegangenen Tages mein alter
Pariser Freund, der unabhängige Energieexperte Mycle Schneider, geskypt.
Und ich hatte mir schon bei meiner Abreise am vergangenen Freitag nach
Japan geschworen, auf Mycles Rat zu hören.
Doch bevor ich abreise, muss ich noch mit meiner Schwiegermutter reden. Ich
nehme dafür eine öffentliche Telefonzelle, von denen man seit Freitag
überall im Land umsonst telefonieren kann, auch ins Ausland. Die
Telefonzelle, dieser wunderbare Apparat, der auf einmal gratis
funktioniert, erweckt wieder Vertrauen in mir. Vielleicht bekommen die
Japaner das doch hin. Wenn einer Fukushima retten kann, dann vielleicht
doch sie, die Technologienarren.
Bei diesen Gedanken nimmt meine Schwiegermutter nach mehreren Wahlversuchen
den Hörer ab. Ihre Stimme ist fröhlich wie immer. Alten Leuten wie ihr kann
der Krebs nicht mehr schaden, auch der Strahlenkrebs nicht, scherzt sie.
Außerdem passe sie auf, sie hänge schon keine Wäsche mehr nach draußen. Ich
solle mir bloß keine Sorgen machen. Ein wenig erleichtert besteige ich
meinen Flug nach Bangkok.
18 Mar 2011
## AUTOREN
Georg Blume
## ARTIKEL ZUM THEMA
Leben in Japan: drei Protokolle: "Sogar das Klopapier wird knapp"
Zahlreiche Ausländer verlassen Tokio, mit schlechtem Gewissen. Die
Einheimischen bleiben trotz Strahlenangst aus Verantwortung für Familie und
Freunde.
+++ Liveticker Japan vom 19. März +++: Lage am AKW stabilisiert sich offenbar
Im beschädigten Atomkomlex wird ununterbrochen daran gearbeitet, die
Reaktoren vor der Kernschmelze zu bewahren. Im Reaktorbecken von Block 3
jetzt angeblich mehr Wasser.
Brief einer japanischen Autorin: Ich entscheide mich zu leben
Massenweise besorgte E-Mails und Anrufe, ständiges Grübeln bis zum
Schlechtwerden, aber endlich Vollmond. Akira Kuroda über ihre Gründe, in
Tokio zu bleiben.
Atomunfall in Japan: Fahrt durch die Todeszone
Ein Anti-Atom-Aktivist macht sich auf den Weg Richtung Fukushima, wo längst
alle Bewohner evakuiert sind. Er sammelt eigene Daten zur Verstrahlung.
Unterschätzte Abklingbecken in Fukushima: Keine 48 Stunden mehr Zeit
Die Abklingbecken am Akw wurden völlig vergessen. Nun versuchen
Rettungskräfte, sie wieder mit Wasser zu füllen. Sonst schmelzen die alten
Brennstäbe und verseuchen die Anlage.
Atomare Landesgeschichte Japans: Katastrophal friedliche Nutzung
Nach Hiroshima und Nagasaki: Warum ausgerechnet Japan, das bittere
Erfahrungen mit radioaktiver Strahlung hat, auf Atomenergie baut.
Nachtzusammenfassung Katastrophe in Japan: Immer wieder Rückschläge
Einsatzkräfte versuchen weiter, die drohenden Kernschmelzen in den
Atomreaktoren von Fukushima 1 zu verhindern. Bislang ohne Erfolg. Auch die
Situation der 400.000 Obdachlosen spitzt sich weiter zu.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.