# taz.de -- Alltag in Japan: Die fast erschreckende Normalität | |
> Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, wie sich die Katastrophe auf | |
> den Alltag der Menschen auswirkt: Der Rhythmus in Tokio hat sich | |
> verlangsamt. | |
Bild: Tokios neue Langsamkeit: Die sonst sehr belebten Straßen in Japans Haupt… | |
TOKIO taz | Ein herrlicher Sonntagmorgen - frühlingshafte Temperaturen, ein | |
grazil blühender Pflaumenbaum vor dem Fenster: Tokio am Tag neun nach dem | |
großen Beben. Fast könnte man vergessen, dass die Katastrophe erst gut eine | |
Woche zurückliegt. Denn sie ist in der eigenen Vorstellung schon zur | |
Ewigkeit geworden. | |
Die größte Stadt der Welt, deren Lebenstakt immer etwas schneller war als | |
anderswo, ist auf seltsame Weise langsamer geworden. Vielleicht liegt es an | |
den Rolltreppen, die abgeschaltet wurden, weil man Strom sparen muss und | |
die sonst die Massen im gleichmäßigen Rhythmus in die großen Gebäuden | |
hinein- und wieder herausbefördern. Irgendwie liegt jetzt eine neue | |
Langsamkeit über der Stadt. | |
Vielleicht liegt es auch am Aderlass an Bewohnern, die sich Richtung Westen | |
aufgemacht oder das Land ganz verlassen haben. Einige sind sofort gegangen, | |
andere haben zunächst gezögert. Aber nachdem inzwischen viele Botschaften | |
ihre Zelte hier abgebrochen und drei- bis vierhundert Kilometer weiter | |
westlich wieder aufgebaut haben, sind gerade Ausländer in dieser Stadt | |
selten geworden. Auch die meisten eigenen Freunde und Bekannten haben Tokio | |
inzwischen verlassen. Jetzt wird man fast schon mit Dankbarkeit dafür | |
geadelt, dass man als einer der wenigen Ausländer noch immer hier ist. | |
Es verlassen aber nicht nur Touristen, ausländische Firmenangehörige und | |
andere nichtjapanische Bewohner die Stadt, sondern auch einige Mütter und | |
Kinder, wobei die Väter meist zurückbleiben. Doch ein Massenexodus sieht | |
anders aus. An den großen Bahnhöfen, von denen die | |
Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszüge Richtung Westen abfahren, gibt es weder | |
Kämpfe um letzte Tickets noch ungewöhnliches Gedränge. Es gibt weiterhin | |
ausreichend Plätze. | |
Das Leben in Tokio ist fast schon erschreckend normal. Dabei gibt es | |
Nachbeben, so viele wie nie zuvor und zum Teil sehr heftige. Es gab auch | |
einige Tage lang viele leere Regale in Supermärkten, wobei vor allem | |
Wasser, Brotprodukte, Tütensuppen und andere Fertiglebensmittel sehr | |
gefragt waren. Aber es gab keine Hamsterkäufe panischer Menschen, die sich | |
auf eine Apokalypse vorbereiteten, auch wenn das manch ausländische Medien | |
gern so sahen. | |
## Verlangsamter Alltag | |
Natürlich gibt es Ängste um das, was in Fukushima passiert. Aber sie | |
existieren und äußern sich anders als in Deutschland. Mein Vermieter, Herr | |
Ohya, ein früherer Pilot von Japan Airlines, sagt mit einem fast entspannt | |
wirkenden Lächeln: "Sicherlich bin ich besorgt wegen der Strahlengefahr. | |
Aber realistisch gesehen sind wir hier in Tokio relativ sicher. Ich habe in | |
meinem Berufsleben über den Wolken mehr Strahlung abbekommen als jemals | |
hier nach Tokio kommen kann. Wir dürfen die Leute im Norden nicht | |
vergessen, denen muss jetzt geholfen werden, nicht uns Tokiotern." | |
Verglichen mit der Existenznot in den Katastrophengebieten sind | |
Warteschlangen beim Tanken und ein paar leere Regale urbane | |
Nebensächlichkeiten, über die niemand Worte verliert und sich erst recht | |
nicht beschwert. Ohnehin sind Tokios Supermarktregale inzwischen fast alle | |
wieder gefüllt und die Tankstellen von wartenden Kunden befreit. | |
Normalität, wenn auch verlangsamt, scheint oberstes Gebot. Die Kinder gehen | |
zur Schule, Angestellte in ihre Büros und Taxifahrer suchen wie sonst die | |
Straßen nach Kunden ab, die -wenn auch in geringerer Zahl -weiter | |
Einkaufsmeilen und Kaufhäuser füllen. Zumindest bei Tag muss man genauer | |
hinsehen, um in Tokio Folgen der Katastrophe zu finden. Da sind etwa die | |
abgestellten Großwandbildschirme, über die sonst ganztägig Werbung | |
flimmert. | |
Neu sind die vielen Spendensammler vor den Bahnhöfen. Die | |
Spendenbereitschaft scheint gewachsen zu sein mit der Größe der | |
Katastrophe. Früher seien meist nur 100- oder 200-Yen-Münzen gespendet | |
worden, sagt Sachiko Kobayashi, die vor dem Yurakucho-Bahnhof als | |
Freiwillige für die Nippon Foundation zu Spenden aufruft. Jetzt aber gäben | |
viele mindestens einen 1.000-Yen-Schein (8,50 Euro). | |
Abends zeigen sich die Folgen der Katastrophe klarer. Die sonst von | |
Neonreklamen glühende Stadt versinkt in ungewohntem Halbdunkel. Viele | |
verzichten auf das zum Büroalltag gehörende Feierabendbier. | |
Vergnügungsviertel wie Roppongi oder Shinjuku wirken seltsam vereinsamt. | |
Das Vergnügen hält etwas den Atem an, wie die Stadt und das Land, die aus | |
der Schockstarre erst noch erwachen müssen. | |
21 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Christoph Hendricks | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Medienlandschaft in Japan: Die langweiligste Presse der Welt | |
Wie ein weltweit einzigartiges System regierungsnaher Journalistenclubs | |
Informationen unterdrückt. Anatomie einer kulturell bedingten Selbstzensur. | |
Strahlenbelastung in Japan steigt: Trinkwasser ist tabu | |
Die japanischen Behörden haben den Verkauf von Gemüse und Milch verboten, | |
das Trinkwasser ist radioaktiv verseucht. Und jetzt weht die Wolke auch | |
noch Richtung Tokio. | |
Lagebericht Fukushima I : Wieder am Stromnetz | |
Am Dienstag waren wieder alle sechs Reaktoren am Stromnetz. Dennoch ist die | |
Lage noch immer kritisch, immer wieder steigt Dampf auf. Viele der | |
Steuersysteme sind defekt. | |
Debatte Atomkatastrophe: Japans große Einsamkeit | |
War es das an Hilfe? Müssen die Japaner und ihre Regierung mit dem GAU | |
allein fertig werden? Ein Plädoyer für mehr internationalen Beistand. | |
Verstrahlte Nahrung in Japan: Trinkwasser, Spinat und Milch | |
Lebensmittel aus der Katastrophenregion sind radioaktiv belastet, und auch | |
der Boden ist kontaminiert. Die Höhe der Strahlungswerte ist jedoch sehr | |
unterschiedlich. | |
Leben in Japan: drei Protokolle: "Sogar das Klopapier wird knapp" | |
Zahlreiche Ausländer verlassen Tokio, mit schlechtem Gewissen. Die | |
Einheimischen bleiben trotz Strahlenangst aus Verantwortung für Familie und | |
Freunde. | |
Premierminister Japans hält TV-Ansprache: Ermutigung und Lob | |
Japans Ministerpräsident Kan appelliert in einer TV-Ansprache an das | |
Zusammengehörigkeitsgefühl der Japaner. Widersprüchliches gibt er zum AKW | |
Fukushima von sich. |