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# taz.de -- Medienlandschaft in Japan: Die langweiligste Presse der Welt
> Wie ein weltweit einzigartiges System regierungsnaher Journalistenclubs
> Informationen unterdrückt. Anatomie einer kulturell bedingten
> Selbstzensur.
Bild: Willkommen im Club: Loyale Insider-Journalisten interviewen Yukio Hatoyam…
Was den Umgang der Japaner mit Informationen und Medien für uns so schwer
verständlich macht, soll folgende Geschichte zeigen. Sie ist zwar fiktiv,
aber doch das Kondensat einer Reihe von Vorfällen aus der jüngeren
Vergangenheit.
Endlich geht's los! Der junge Journalist Ryu Sato, seit zwei Monaten in der
Politikredaktion der weltgrößten Tageszeitung Yomiuri Shimbun (Auflage 14
Millionen), hat seinen ersten "Fronteinsatz" im mächtigen
Wirtschaftsministerium. Es ist schon 20 Uhr ist und niemand weiß, ob das
Briefing noch an diesem Abend stattfindet, deswegen muss Sato als Jüngster
im Redaktionsteam zunächst allein hinfahren. Für alle Fälle.
Da nichts mehr passiert, übernachtet er in einem für ihn reservierten Bett
und arbeitet ab frühmorgens an seinem eigenen Schreibtisch im Ministerium.
Bis der Termin des Briefings auf den Anzeigentafeln erscheint, sind sein
Team und die Kollegen der größten Zeitungen und Fernsehsender des Landes
eingetroffen. Auch das Thema ist angeschrieben: Bis zum Ende des Briefings
darf nun niemand mehr darüber schreiben.
Ministeriumssprecher Honda betritt den Konferenzraum und nickt dem Neuling
kurz zu. Welche Ehre! Sato verneigt sich tief. Die Meldung: Seit dem großen
Erdbeben gibt es leicht erhöhte Strahlungswerte in Japans einzigem
Zwischenlager Rokkasho. Es bestehe keine Gefahr für die Gesundheit, und die
Fertigstellung der geplanten Wiederaufbereitungsanlage an diesem Ort werde
dadurch auch nicht verzögert, versichert Honda.
Es werden keine Fragen gestellt. Die Kollegen von Yomiuri und den anderen
großen Blättern Asahi (11,5 Millionen), Mainichi (5,2 Millionen), Nihon
Keizai (4,7 Millionen) und Chunichi Shimbun (4,2 Millionen) tauschen ihre
Notizen aus und sind sich einig, den Ball flach zu halten, Japan habe grad
schon genug Probleme. Abends gleichen alle Redaktionen wie üblich bei
Meldungen mit größerer Tragweite ihre Druckfahnen ab.
Als Sato nachts nach Hause kommt, erfährt er von seiner Freundin, die sich
regelmäßig auf [1][2channel], dem größten anonymen Internetforum der Welt,
informiert, was wirklich passiert ist: Fischer in Rokkasho berichten schon
seit längerem von Mutationen in ihrem Fang; Bauern kommen mit blutenden
Augen und Ohren zum Arzt. Davon steht in den folgenden Tagen nichts in den
großen Zeitungen.
Erst eine Woche später beleuchtet die angesehene Monatszeitschrift Bungei
Shunju die Hintergründe in zwei exzellent recherchierten Artikeln. Das
vermeintliche "Zwischenlager" Rokkasho wird schon lange und ohne
gesetzliche Grundlage als oberflächennahes "Endlager" für mehr als 3.000
Tonnen hochradioaktive Abfälle aus ganz Japan genutzt.
Am nächsten Tag entschuldigt sich die Betreibergesellschaft Japan National
Fuel Ltd. in einem privaten Fernsehsender für den illegalen Betrieb und die
schlechte Sicherung der Deponie sowie den Austritt nicht weiter
spezifizierter Mengen an Radioaktivität. Wieder einen Tag später berichten
endlich auch der staatliche Fernsehsender NHK und alle großen Zeitungen.
Doch wegen einer rigiden Redaktionsordnung sind jetzt nicht mehr kompetente
Politikredakteure zuständig, sondern Gesellschaftsreporter, die ganz von
vorn anfangen müssen.
So oder ähnlich würde es sich wohl abspielen, wenn Rokkasho ebenso
kriminell betrieben würde wie Fukushima Daiichi. Anlass zu dieser
provokanten Fiktion gibt die Tatsache, dass seit einer Meldung vom 12. März
über den Ausfall der Kühlsysteme absolute Funkstille zu diesem größten und
umstrittensten japanischen Nuklearprojekt herrscht. Warum wird darüber
nicht berichtet?
## Medien-Supermacht Japan
Japan ist, quantitativ betrachtet, eine Medien-Supermacht. Jährlich
erscheinen drei Milliarden Wochen- und Monatszeitschriftsexemplare sowie 25
Milliarden Tageszeitungsexemplare. Sie haben eine einzigartig stabile
wirtschaftliche Basis, denn sie werden zu 95 Prozent an Abonnenten
verkauft, und die Anzeigenerlöse machen durchschnittlich nur knapp ein
Drittel ihrer Einkünfte aus.
Der staatliche Sender NHK ist der drittgrößte nach der BBC und den
öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland. Das börsennotierte
soziale Netzwerk Mixi hat derzeit über 20 Millionen Nutzer, Facebook holt
mit 6 Millionen Nutzern auf. Das erwähnte anonyme Internetforum 2channel
kommt auf über 10 Millionen japanische Nutzer pro Monat. Dort wurden durch
Insiderinformationen zahlreiche politische und wirtschaftliche Skandale
aufgedeckt. Auch bei der Pro-Kopf-Nutzung von Mobiltelefonen, E-Mail,
Fernsehen und Breitbandinternet ist Japan weltweit führend.
Das Problem ist die Qualität der Medieninhalte. Im Fernsehen dominieren
Kochsendungen aller Art, und auch die Printmedien sind voll von der
wirklich großen Leidenschaft der Japaner. Ansonsten gibt es viel Klatsch,
Quatsch und Empörung über Gewalt- und Sexualdelikte. Die politische und
wirtschaftliche Berichterstattung wird dagegen von einem weltweit
einzigartigen System von Presseclubs kontrolliert.
Nur die größten Zeitungen und Sendeanstalten haben Zutritt zu den 800
Clubs, die direkt in den Gebäuden von Regierung, Parlament, Ministerien,
Verbänden, Großindustrie und kaiserlichem Hof untergebracht sind. Die dort
akkreditierten Journalisten sind auf Vollzeitbasis für den jeweiligen Club
tätig. So definiert sich ein enger Kreis der Insidermedien, die nur die
ihnen zugespielten Fakten veröffentlichen, um ihre Mitgliedschaft nicht zu
verlieren.
## Mediale Anästhesie
Dadurch entsteht eine gerade in Krisenzeiten fast surreale Atmosphäre aus
Beschwichtigung und medialer Anästhesie, die viele westliche Beobachter als
Tugend der Zurückhaltung missverstehen oder als eine Eigenschaft der
bildhaften, aber häufig unbestimmten japanischen Sprache. Folgerichtig gilt
die japanische Presse als die langweiligste der Welt – die Insidermedien
haben in den letzten 30 Jahren nicht einen einzigen Skandal aufgedeckt.
Lediglich die Outsidermedien, in unserer Geschichte das Magazin Bungei
Shunju, sind von der Zwangsjacke der einheitlichen, abgesprochenen
Berichterstattung befreit.
Immerhin zeigen sich seit dem Regierungsantritt der Demokraten 2009 nach
über 50 Jahren fast durchgehender Herrschaft der Liberaldemokratischen
Partei erste Tendenzen zur Auflösung dieses paradoxen Systems. Die Öffnung
der Presseclubs für alle Medien, auch für ausländische, ist inzwischen ein
ständiges Thema. Reporter ohne Grenzen sieht die japanische Presse 2009
weltweit auf Rang 17, 2006 lag sie noch auf Rang 52. Die hier beschriebenen
Einschränkungen der Medien gehen also nicht auf die Interventionen
staatlicher oder wirtschaftlicher Interessengruppen zurück, sondern
weitgehend auf eine kulturell bedingte Selbstzensur.
Was in Japan noch fehlt, das ist eine entwickelte Sprache zur Reflektion
über die öffentliche Ordnung, die Intellektualität, Scharfsinn, Empörung,
Polemik und wissenschaftlich fundierte Kritik mit politischen und
wirtschaftlichen Themen verbindet und damit ein größeres Publikum erreicht.
Die gegenwärtige japanische Krise und die wachsende Ungeduld eines
gebildeten Publikums scheinen die Entstehung einer solchen neuen
Medienkultur allerdings zu beschleunigen – und der Skandal von Rokkasho
bleibt hoffentlich Fiktion.
8 Apr 2011
## LINKS
[1] http://www.2ch.net
## AUTOREN
Reginald Grünenberg
## TAGS
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
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