# taz.de -- Debatte Libyen: Gegen alle Prinzipien | |
> Libyen ist das Paradebeispiel für einen "gerechten Krieg". Deutschland | |
> aber pflegt unverbindlichen Pazifismus und Großmachtallüren. | |
Bild: Barack Obama: "Wir haben getan, was wir angekündigt haben." | |
Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Westen zusehends mit dem Problem | |
zerfallender Staaten konfrontiert, oft begleitet von Verbrechen | |
grauenvollen Ausmaßes. Manches Mal reagierte die Staatengemeinschaft gar | |
nicht und ließ einen Völkermord geschehen (Ruanda, Kongo), andere Male | |
langsam und zögerlich (Bosnien, Darfur) und nur vereinzelt konsequent | |
(Kosovo, Sierra Leone, Salomonen-Inseln). Für das entschlossene Eingreifen | |
wurde der Begriff der humanitären Intervention geprägt. | |
Die Theorie dafür hatte der liberale kanadische Philosoph Michael Walzer in | |
seinem Buch "Just and Unjust Wars" schon 1977 geliefert: Diktatoren und | |
Warlords sollten sich nicht länger auf staatliche Souveränität berufen | |
dürfen, wenn sie in großem Maßstab elementare Menschenrechte verletzen. Die | |
Demokratien hätten, so verlangt es auch eine - von Deutschland 2009 | |
unterzeichnete - Resolution der UNO-Generalversammlung, eine | |
"responsibility to protect": eine Verantwortung zum Schutz der | |
Menschenrechte. | |
Walzer stellte eine Art Checkliste auf, wann eine humanitäre Intervention | |
geboten erscheine. Neben dem "gerechten Grund" der Verletzung von Menschen | |
sollten keine selbstsüchtigen Motive der Interventionsmächte eine Rolle | |
spielen. Eine formale Legitimation wäre wünschenswert, die | |
Verhältnismäßigkeit der Mittel sollte gewahrt und alle üblichen | |
diplomatischen Instrumente erschöpft sein. Schließlich sollte eine | |
Intervention Aussicht auf Erfolg haben. | |
## Michael Walzers fünf Kriterien | |
Wendet man diese Kriterien auf Libyen an, erscheint dieser geradezu als | |
Paradebeispiel für einen "gerechten Krieg": Das libysche Volk erhebt sich | |
gegen einen Diktator, der das Land seit gut 40 Jahren regiert, dieser | |
rekrutiert Söldner aus dem Ausland und bombardiert die eigene Bevölkerung | |
mit seiner Luftwaffe. Jenseits dieses "gerechten Grundes" und der "right | |
intentions" der Interventionsmächte, an denen man durchaus zweifeln mag, | |
ist ein Eingreifen auch legitim: Die Resolution Nr. 1973 des | |
UN-Sicherheitsrats erlaubt die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz | |
der Zivilbevölkerung. Nicht zuletzt erscheint der Konflikt mit relativ | |
begrenzten militärischen Mitteln gewinnbar. Luftangriffe versprechen in | |
einem weiten, weithin unbewaldeten Land mit relativ kleiner Bevölkerung und | |
spärlicher Infrastruktur große Wirkung. | |
Doch ausgerechnet in diesem klaren Fall verweigert sich die deutsche | |
Außenpolitik, die so sehr auf ihren moralischen Anspruch hält. Warum? | |
Es lohnt sich, die Haltung der rot-grünen Koalition von 1999 - damals im | |
Einklang mit der Vorgängerregierung Kohls - zu einer Nato-Intervention im | |
Kosovo in Erinnerung zu rufen: keine Toleranz für andauernde und | |
schwerwiegende Menschenrechtsverbrechen, trotz fehlendes UN-Mandats. Die | |
Position der Bundesregierung jetzt bedeutet Wende um 180 Grad: Toleranz für | |
schwerwiegendste Menschenrechtsverletzungen, trotz UN-Mandats zum Schutz | |
von Zivilisten. | |
Der Kosovo-Interventionskonsens der deutschen politischen Elite ermöglichte | |
2001 das Engagement in Afghanistan. Zwar wollten vor allem die Grünen auch | |
für das Afghanistan-Engagement vorwiegend humanitäre und idealistische | |
Gründe gelten lassen, doch das Hauptargument lautete im Zuge des | |
Antiterrorkampfs: Die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch | |
verteidigt. Bis heute beruft sich Kanzlerin Merkel auf dieses Diktum und | |
rechtfertigt so die bislang zehnjährige Mission der Bundeswehr. | |
Doch der Irakkrieg 2003 ist als Argumentationsressource entscheidender, um | |
die deutsche Haltung zu Libyen zu verstehen. Nach Maßgabe Walzers war der | |
Irakkrieg zweifellos ein "ungerechter Krieg" par excellence. Der damaligen | |
Bundesregierung ging es aber nicht so sehr um Legitimität und | |
unausgeschöpfte diplomatische Mittel. Vielmehr beschwor Kanzler Schröder im | |
Wahlkampf 2002 ein Deutschland, das in der Frage von Krieg und Frieden auch | |
unilateral Nein sagen kann. | |
Mit ihrem doppelten "Nein" - keine deutsche Beteiligung, egal was UNO, Nato | |
oder EU entscheiden würden - brach die Regierung zugleich mit dem | |
multilateralen und proinstitutionellen Grundprinzip deutscher Außenpolitik. | |
Das Vabanquespiel ging auf: Die Bundestagswahl 2002 wurde knapp gewonnen, | |
der außenpolitische Alleingang durch Frankreichs Schwenk und die desaströse | |
Irakpolitik der Bush-Regierung ex post geadelt. | |
## Merkels deutscher Sonderweg | |
Damals hatten Merkel und Westerwelle Schröder noch scharf kritisiert: | |
"Unhistorisch" sei sein Kurs, so Westerwelle, weil er an den unheilvollen | |
deutschen Sonderweg erinnere, und Merkel geißelte den deutschen Alleingang | |
als Preisgabe der Bündnissolidarität. In völliger Ignoranz der einstigen | |
Argumente sind Merkel und Westerwelle jetzt auf Schröders Kurs | |
eingeschwenkt: Sie vertreten ein pazifistisches Deutschland, das Nein sagen | |
kann. Die von vielen Kommentatoren damals als "einmaliger Sündenfall" | |
apostrophierte Irakpolitik droht nun zu einem Grundmuster der deutschen | |
Außenpolitik zu werden. | |
Die Bundeskanzlerin hat mit Blick auf Libyen erklärt, dass Deutschland | |
keinerlei militärische Mittel einzusetzen gedenke, obwohl es die Ziele der | |
Sicherheitsratsresolution "uneingeschränkt" teile. Damit fällt die | |
Kanzlerin in alte Zeiten zurück: Deutschland formuliert Prinzipien, für die | |
andere einzustehen haben. Bezeichnenderweise sagte der Außenminister, | |
Deutschland würde sich an diesem "Krieg" nicht beteiligen. Erinnert sei an | |
dieser Stelle daran, dass weder der Nato-Bombenangriff auf Serbien 1999 | |
noch die ersten zehn Jahre der Bundeswehr in Afghanistan aus deutscher | |
Sicht als "Krieg" galten. Krieg führen offensichtlich nur die anderen. | |
Die schwarz-gelbe Koalition hat sich in einer unseligen Kombination von | |
Großmachtallüren (ein Deutschland, das Nein sagen kann) und Pazifismus | |
(keine deutschen Soldaten ins Ausland) von der Idee des "gerechten Kriegs" | |
verabschiedet. Ein unilateraler Rückzug Deutschlands aus Afghanistan wird | |
auf diese Weise bereits argumentativ vorbereitet. Und die Bundesregierung | |
sitzt plötzlich in einem Boot mit Putin, Chinas Autokraten, Le Pen und | |
Gaddafi - selten gab es einen beschämenderen Moment der deutschen | |
Außenpolitik. | |
24 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Stahl | |
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