# taz.de -- Leben nach dem Beben: Als wäre Japan arm geworden | |
> Der Alltag war schon mal einfacher. Hunderte Erderschütterungen am Tag, | |
> Stromsperren und knappes Trinkwasser haben die Stressbelastung der | |
> Tokioter erhöht. | |
Bild: Mangelware: Die Mutter eines kleinen Kindes erhält in Tokio Trinkwasser. | |
TOKIO taz | Ständige Nachbeben, unberechenbare Stromsperren, radioaktiv | |
verstrahlte Nahrungsmittel - verglichen mit dem Leid der Evakuierten und | |
Obdachlosen in den Katastrophengebieten sind das Luxusprobleme. Aber das | |
Leben in Tokio war schon einmal einfacher. In Deutschland wird fast nur | |
über die Gefahren aus dem Atomkomplex Fukushima gesprochen. Aber die | |
meisten Nerven kostet mich der wackelige Untergrund. Seit den langen und | |
heftigen Erdstößen am Freitag vor zwei Wochen nehme ich jede Erschütterung | |
mit Unruhe wahr. Jeden Tag gibt es hunderte solcher Erdwellen. Immer wieder | |
reißen sie mich aus dem Schlaf. | |
An meinem Schreibtisch fühle ich mich wie auf einem schwankenden Schiff. | |
Das Hochhausgebäude, in dem ich arbeite - der Korrespondentenklub ist im | |
20. Stock -, schwingt irritierend lange nach. Die Japaner sagen, dass ihr | |
Archipel wie auf einem Stück Tofu gebaut ist. Erst jetzt verstehe ich, was | |
sie meinen. Der Sprecher vom Amt für Meteorologie, das in Japan für | |
Naturkatastrophen zuständig ist, warnt fast täglich vor einem zweiten | |
Megabeben infolge der veränderten Tektonik in der Erdkruste. Zum Glück wird | |
es mit jedem Tag weniger wahrscheinlicher. | |
Auch die Stromsperren erschweren den Alltag. Die Startseite des | |
Energieversorgers Tokyo Electric Power (Tepco) ist zur täglichen | |
Pflichtlektüre der 35 Millionen Menschen im größten Ballungsraum der Welt | |
geworden. Durch Beben und Tsunami sind die Atommeiler von Fukushima und | |
zwei Thermalkraftwerke ausgefallen. Dadurch fehlt ein Viertel der | |
Strommenge bis zur Spitzenlast. Tepco hat daher die Städte und Gemeinden am | |
Rand und in der Umgebung von Tokio in fünf Gruppen eingeteilt. Ihnen wird | |
der Strom im Wechsel zwischen 6.20 Uhr morgens und 10 Uhr abends für | |
jeweils drei Stunden abgedreht. In einigen Gruppen passiert dies zweimal am | |
Tag. Dazu sparen Bewohner, Behörden und Firmen vorbildlich Strom. In den | |
Bahnhöfen stehen viele Rolltreppen still, in Hochhäusern fährt nur ein Teil | |
der Aufzüge. Viele Glühbirnen sind aus den Deckenlampen herausgedreht, die | |
Neonreklame bleibt ausgeschaltet. Es ist so, als ob Japan plötzlich ein | |
armes Land geworden wäre. Ohne das helle Licht wirkt diese pulsierende | |
Stadt schlaff und leblos. Das soll noch Monate so weitergehen. | |
## Was kaufen? | |
Noch mehr beschäftigt die Japaner die Sicherheit ihrer Lebensmittel. Für | |
die verwöhnten Gourmets hierzulande gibt es nichts Wichtigeres als | |
qualitativ hochwertige, gesunde und leckere Nahrungsmittel. Nun wissen sie | |
nicht mehr, was sie kaufen sollen. Erst ließen sie den Spinat im Regal | |
liegen, egal ob er aus Fukushima oder aus anderen Gebieten kam. Inzwischen | |
wird vor elf Gemüsesorten gewarnt. "Ich bin besorgt, dass die Strahlung | |
meiner Gesundheit schadet", sagt mir eine junge Frau, die nachdenklich vor | |
dem meist einzeln, appetitlich eingepackten Gemüse im Supermarkt steht. | |
Eine Rentnerin schüttelt den Kopf und legt Brokkoli in ihren Korb. "So | |
schlimm wird es schon nicht sein", murmelt sie vor sich hin. | |
Echte Mangelware ist Trinkwasser in Flaschen. Seitdem radioaktive | |
Jod-Isotope im Leitungswasser aufgetaucht sind, wird überall im Großraum | |
Tokio hysterisch Wasser gekauft. Mehrmals suche ich vergeblich in | |
Supermärkten nach Wasser in Flaschen. Danach kommt mir die Idee, es per | |
Versand online zu kaufen. Im Internet klicke ich mich von einem Angebot zum | |
anderen. Doch bei jeder Firma finde ich denselben Hinweis: "Leider | |
ausverkauft! Nächste Lieferung unklar!" Eine Bekannte mit ihrem sieben | |
Monate alten Baby macht sich Sorgen. "Hoffentlich kann ich möglichst bald | |
wieder ohne Angst Leitungswasser trinken." Die größte Supermarktkette | |
Ito-Yokado verkauft ihr Wasser bevorzugt an Mütter mit Babys. Als Nachweis | |
genügt der Mutterpass. Aber auch dort ist das Wasser schnell ausverkauft. | |
Nach dem langen Regen zu Wochenanfang war ich nicht überrascht darüber, | |
dass sich die Strahlung auch im Trinkwasser nachweisen ließ. Irgendwo | |
müssen die Isotope in dem Dampf, der aus den kaputten Meilern quillt, ja | |
bleiben. Die Alarmglocken klingelten bei mir aber erst, als Tokios | |
Gouverneur Shintaro Ishihara höchstpersönlich davor warnte, dass Babys | |
Leitungswasser trinken. Gleich am nächsten Tag ließ Ishihara aus der | |
eisernen Reserve der Stadt 240.000 Flaschen an Mütter mit Babys verteilen. | |
Dieser Aktionismus ergibt Sinn, Denn der 78-Jährige kandidiert bei der | |
Gouverneurswahl am 10. April für eine vierte Amtsperiode. | |
Seine Wahlchancen hatte er jedoch nach dem Erdbeben selbst torpediert. Der | |
Tsunami sei eine Strafe des Himmels und könne die Selbstsucht und die | |
Konsumorientierung der Japaner fortwaschen, hatte Ishihara die Opfer | |
verhöhnt. Mit der Trinkwasser-Aktion wollte er wohl seine Fürsorge fürs | |
Volk zeigen und Sympathien zurückgewinnen. Am Donnerstag trat er erneut vor | |
die Presse und trank demonstrativ ein Glas Leitungswasser leer. Der | |
Messwert sei inzwischen unter den Grenzwert für Babynahrung gefallen und | |
das Wasser wieder sicher, verkündete der Politiker. | |
Im Fernsehen und in der Presse wird sehr ausführlich über die Gefahren der | |
Radioaktivität berichtet. Die Verhaltensregeln werden genau erklärt. | |
Verschiedene Behörden veröffentlichen ihre Messwerte zeitnah in Internet | |
und Fernsehen. Ich habe nicht das Gefühl, dass hier absichtlich etwas | |
verschwiegen wird. Doch die Zahlenflut in Becquerel, Milli- und | |
Mikrosievert für Boden, Meerwasser, Nahrung und Menschen hat die | |
Stressbelastung der Bewohner Tokios weiter erhöht. | |
## Diffuser Schrecken | |
Mit Erdbeben und Tsunamis sind die Japaner von frühester Kindheit an | |
vertraut. Aber seit den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki | |
verbreitet radioaktive Strahlung einen diffusen Schrecken. Der Umgang mit | |
dieser Gefahr wurde nie geübt. Die Wirkung dieser neuen Bedrohung auf die | |
nationale Psyche ist daher nur schwer einzuschätzen. Eine japanische | |
Journalistin sagt mir, ohne jede Häme, die Japaner bekämen jetzt die | |
Quittung dafür, dass sie sich über die Atomenergie zu lange keine Gedanken | |
gemacht hätten. | |
Das gilt auch für den Stromversorger Tepco selbst. Die drei Arbeiter, die | |
am Donnerstag bei Elektroarbeiten im Reaktor 3 verstrahlt wurden, hatten | |
nur 10 Zentimeter hohe Gummischuhe an. Wie kann es sein, dass sie so | |
fahrlässig schlecht auf diese gefährliche Arbeit vorbereitet waren? Auch | |
diese Frage wird im japanischen Fernsehen gestellt. Aber Tepco will sie | |
erst später beantworten. Dem TV-Sender Asahi ist der Coup gelungen, zwei | |
Fukushima-Arbeiter zu interviewen. Beide sind nicht fest angestellt und | |
werden tageweise bezahlt. Sie erzählen von ihrer Vorsicht bei der Arbeit | |
und ihrem Willen, die Anlage zu reparieren. | |
Vor einigen Jahrzehnten arbeiteten viele sogenannte Burakumin in den | |
Atomanlagen, weil sie sonst nirgendwo beschäftigt wurden. Diese | |
Unberührbaren Japans hatten früher mit Leichen und Tierkadavern zu tun und | |
werden daher teilweise bis heute gemieden. Inzwischen arbeiten jedoch auch | |
viele Anwohner in den Meilern, denn die Kraftwerke stehen in | |
strukturschwachen Gebieten, wo man dankbar ist für jeden bezahlten Job. | |
Für die 700 Arbeiter in Fukushima empfinde ich ebenso Bewunderung und | |
Mitleid wie für die Überlebenden der Katastrophe im Nordosten. So viele | |
Tränen habe ich in Japan noch nie gesehen. Zugleich ist der Wille zum | |
Aufbauen und Helfen groß. Ich mache mir trotzdem Sorgen um die Zukunft | |
dieser leiderprobten Nation. Das Nachkriegsgefühl einer großen Sicherheit | |
ist weg. Wird diese Katastrophe in den Niedergang der Nation münden - oder | |
ein Katalysator für lange verschleppte Reformen sein? Die Antwort kennen | |
nur die Götter, die immer noch an den Erdschollen rütteln. | |
25 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Martin Fritz | |
## TAGS | |
Japan | |
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